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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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aller bisher beschriebenen Fälle von Aphasie, namentlich die
Broca'sche gehört hierher.

Bei einiger Ausdehnung des pathologischen Processes wird
zunächst der wahrscheinlich benachbarte Centralheerd für die zum
Schreiben nöthigen Bewegungsvorstellungen mitbetroffen und da-
durch Agraphie entstehen. Es ist allerdings die Frage, ob es be-
rechtigt ist, einen solchen anzunehmen. Die Schreibbewegungen
werden zu einer Zeit erlernt, in welcher das Kind schon vollkom-
mene Herrschaft über den Gebrauch seiner Gliedmassen, über
den Ablauf jeder einzelnen Bewegung und das Mass derselben
erlangt hat. Es hat daher nur nöthig, neue Combinationen schon
vorhandener Bewegungsvorstellungen und ein Masshalten in der
Kraft, mit der es seine Muskelactionen auszuführen gewöhnt war,
zu erlernen. Deswegen ist auch nicht die linke Hemisphäre allein
im Besitze von Schreibbewegungsvorstellungen, sondern jeder Ge-
sunde vermag auch mit der linken Hand zu schreiben, und im
Vergleich mit der rechten nur um so viel ungeschickter, als es über-
haupt die linke Hand in allen Bewegungen ist.

Erstreckt sich aber der Process über einen grösseren Theil
des Stirnlappens, so ist die Mehrzahl der Bewegungsvorstellungen
der entgegengesetzten Körperhälfte erloschen und zugleich moto-
rische Lähmung derselben gesetzt. Dann ist Agraphie ohnedies
mechanisch bedingt. Gelingt es einem solchen Kranken noch, mit
der linken Hand die Feder in der rechten festzuklemmen und die
rechte zweckmässig zu führen, so schreibt eben die linke Hand
und nicht die rechte, und ein Beweis dafür, dass das linke Cen-
trum der Schreibbewegungen noch bestehe, kann daraus nicht
abgeleitet werden.

Wer sich gewöhnt hat, beim Schreiben vor sich hin zu
sprechen, es sich gleichsam selbst in die Feder zu dictiren, der
wird in Folge der engen Association zwischen Sprachbewegungen
und Schreibbewegungen agraphisch werden, ohne dass eigentlich
ein innerer zwingender Grund durch die Localität des Processes
gegeben wäre.

Hat der Process diejenigen Faserzüge durchbrochen, welche
von der I. Schläfewindung kommend, den Heerd der Klangbilder
mit den Schreibbewegungsvorstellungen verknüpfen, so wird der
Kranke zwar, vermöge der Bahn a b nachschreiben, aber nicht
spontan schreiben können, er wird partiell agraphisch sein.

Die Aphasie des Stirnlappens kann nie, ausser in dem pag. 25

aller bisher beschriebenen Fälle von Aphasie, namentlich die
Broca’sche gehört hierher.

Bei einiger Ausdehnung des pathologischen Processes wird
zunächst der wahrscheinlich benachbarte Centralheerd für die zum
Schreiben nöthigen Bewegungsvorstellungen mitbetroffen und da-
durch Agraphie entstehen. Es ist allerdings die Frage, ob es be-
rechtigt ist, einen solchen anzunehmen. Die Schreibbewegungen
werden zu einer Zeit erlernt, in welcher das Kind schon vollkom-
mene Herrschaft über den Gebrauch seiner Gliedmassen, über
den Ablauf jeder einzelnen Bewegung und das Mass derselben
erlangt hat. Es hat daher nur nöthig, neue Combinationen schon
vorhandener Bewegungsvorstellungen und ein Masshalten in der
Kraft, mit der es seine Muskelactionen auszuführen gewöhnt war,
zu erlernen. Deswegen ist auch nicht die linke Hemisphäre allein
im Besitze von Schreibbewegungsvorstellungen, sondern jeder Ge-
sunde vermag auch mit der linken Hand zu schreiben, und im
Vergleich mit der rechten nur um so viel ungeschickter, als es über-
haupt die linke Hand in allen Bewegungen ist.

Erstreckt sich aber der Process über einen grösseren Theil
des Stirnlappens, so ist die Mehrzahl der Bewegungsvorstellungen
der entgegengesetzten Körperhälfte erloschen und zugleich moto-
rische Lähmung derselben gesetzt. Dann ist Agraphie ohnedies
mechanisch bedingt. Gelingt es einem solchen Kranken noch, mit
der linken Hand die Feder in der rechten festzuklemmen und die
rechte zweckmässig zu führen, so schreibt eben die linke Hand
und nicht die rechte, und ein Beweis dafür, dass das linke Cen-
trum der Schreibbewegungen noch bestehe, kann daraus nicht
abgeleitet werden.

Wer sich gewöhnt hat, beim Schreiben vor sich hin zu
sprechen, es sich gleichsam selbst in die Feder zu dictiren, der
wird in Folge der engen Association zwischen Sprachbewegungen
und Schreibbewegungen agraphisch werden, ohne dass eigentlich
ein innerer zwingender Grund durch die Localität des Processes
gegeben wäre.

Hat der Process diejenigen Faserzüge durchbrochen, welche
von der I. Schläfewindung kommend, den Heerd der Klangbilder
mit den Schreibbewegungsvorstellungen verknüpfen, so wird der
Kranke zwar, vermöge der Bahn α β nachschreiben, aber nicht
spontan schreiben können, er wird partiell agraphisch sein.

Die Aphasie des Stirnlappens kann nie, ausser in dem pag. 25

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[30/0034] aller bisher beschriebenen Fälle von Aphasie, namentlich die Broca’sche gehört hierher. Bei einiger Ausdehnung des pathologischen Processes wird zunächst der wahrscheinlich benachbarte Centralheerd für die zum Schreiben nöthigen Bewegungsvorstellungen mitbetroffen und da- durch Agraphie entstehen. Es ist allerdings die Frage, ob es be- rechtigt ist, einen solchen anzunehmen. Die Schreibbewegungen werden zu einer Zeit erlernt, in welcher das Kind schon vollkom- mene Herrschaft über den Gebrauch seiner Gliedmassen, über den Ablauf jeder einzelnen Bewegung und das Mass derselben erlangt hat. Es hat daher nur nöthig, neue Combinationen schon vorhandener Bewegungsvorstellungen und ein Masshalten in der Kraft, mit der es seine Muskelactionen auszuführen gewöhnt war, zu erlernen. Deswegen ist auch nicht die linke Hemisphäre allein im Besitze von Schreibbewegungsvorstellungen, sondern jeder Ge- sunde vermag auch mit der linken Hand zu schreiben, und im Vergleich mit der rechten nur um so viel ungeschickter, als es über- haupt die linke Hand in allen Bewegungen ist. Erstreckt sich aber der Process über einen grösseren Theil des Stirnlappens, so ist die Mehrzahl der Bewegungsvorstellungen der entgegengesetzten Körperhälfte erloschen und zugleich moto- rische Lähmung derselben gesetzt. Dann ist Agraphie ohnedies mechanisch bedingt. Gelingt es einem solchen Kranken noch, mit der linken Hand die Feder in der rechten festzuklemmen und die rechte zweckmässig zu führen, so schreibt eben die linke Hand und nicht die rechte, und ein Beweis dafür, dass das linke Cen- trum der Schreibbewegungen noch bestehe, kann daraus nicht abgeleitet werden. Wer sich gewöhnt hat, beim Schreiben vor sich hin zu sprechen, es sich gleichsam selbst in die Feder zu dictiren, der wird in Folge der engen Association zwischen Sprachbewegungen und Schreibbewegungen agraphisch werden, ohne dass eigentlich ein innerer zwingender Grund durch die Localität des Processes gegeben wäre. Hat der Process diejenigen Faserzüge durchbrochen, welche von der I. Schläfewindung kommend, den Heerd der Klangbilder mit den Schreibbewegungsvorstellungen verknüpfen, so wird der Kranke zwar, vermöge der Bahn α β nachschreiben, aber nicht spontan schreiben können, er wird partiell agraphisch sein. Die Aphasie des Stirnlappens kann nie, ausser in dem pag. 25

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/34>, abgerufen am 29.03.2024.