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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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Agraphie und Alexie entstehen kann; indessen wird sich viel eher
erwarten lassen, dass das ganze optische Sinnesgebiet erkrankt
ist. Der Symptomencomplex würde sich dann dadurch vervoll-
ständigen, dass auch andere gesehene Gegenstände nicht wieder
erkannt würden. Mit der Aphasie hätte aber diese Störung eigent-
lich nichts zu schaffen.

III. Es sei die Bahn a1 b, d. h. es seien die Associations-
fasern betroffen, welche das Klangbild mit der zugehörigen
Bewegungsvorstellung verknüpfen, aber Klangbild a1 und Bewe-
gungsvorstellung b selbst erhalten.

Der Kranke versteht Alles, ganz im Gegensatze zu
der eben geschilderten Form der Aphasie. Er kann auch Alles
sprechen, aber die Auswahl der richtigen Worte ist in
ähnlicher Weise gestört wie in der eben geschilderten
Form.
Das Klangbild ist hier zwar erhalten, es wird auch von
den übrigen Sinnesbildern, welche den Begriff bilden, mit innervirt,
es kann aber, weil die Bahn a1 b unterbrochen ist, seinen gewich-
tigen Einfluss für die richtige Auswahl der Bewegungsvorstellungen
nicht in die Wagschale werfen, oder es kommt wenigstens nur
mit sehr viel geringerer Intensität zur Geltung. Während in der
vorigen Form nur die Summe c+d zur Innervation von b vor-
handen war, ist hier zwar c+d+a1, letzteres aber, weil es
mit auf die Bahn cb angewiesen ist, von viel geringerem Werthe
als normal, vorhanden. Es werden also Wörter verwechselt, nicht
so arg wie bei der vorigen Form, aber doch sehr auffallend.
Jedoch kann hier eine andere Correctur eintreten, welche, beim
normalen Sprachvorgange wenig benützt, die unbewusste auf
bewusstem Wege allmählich vollständig ersetzen kann. Der Acusticus
ist intact und leitet den Klang des gesprochenen Wortes zu dem
unversehrten Orte der Klangbilder hin. Das gesprochene Wort
wird also gehört und je nachdem richtig oder falsch befunden.
Der Kranke weiss bei einiger Aufmerksamkeit, dass er falsch ge-
sprochen hat und geräth darüber in Unmut. Wird ihm eine Aus-
wahl von Wörtern vorgesagt, unter welchen er das richtige
wählen soll, so trifft er es regelmässig; eben so beantwortet er
Suggestivfragen unfehlbar richtig. Ein solcher Kranker wird sich
das, was er sagen will, einüben können, indem er es vorher leise
vor sich hin spricht; und ist er ein willenskräftiger, intenser
Aufmerksamkeit fähiger Mensch, so wird er durch eine bewusste,

Agraphie und Alexie entstehen kann; indessen wird sich viel eher
erwarten lassen, dass das ganze optische Sinnesgebiet erkrankt
ist. Der Symptomencomplex würde sich dann dadurch vervoll-
ständigen, dass auch andere gesehene Gegenstände nicht wieder
erkannt würden. Mit der Aphasie hätte aber diese Störung eigent-
lich nichts zu schaffen.

III. Es sei die Bahn a1 b, d. h. es seien die Associations-
fasern betroffen, welche das Klangbild mit der zugehörigen
Bewegungsvorstellung verknüpfen, aber Klangbild a1 und Bewe-
gungsvorstellung b selbst erhalten.

Der Kranke versteht Alles, ganz im Gegensatze zu
der eben geschilderten Form der Aphasie. Er kann auch Alles
sprechen, aber die Auswahl der richtigen Worte ist in
ähnlicher Weise gestört wie in der eben geschilderten
Form.
Das Klangbild ist hier zwar erhalten, es wird auch von
den übrigen Sinnesbildern, welche den Begriff bilden, mit innervirt,
es kann aber, weil die Bahn a1 b unterbrochen ist, seinen gewich-
tigen Einfluss für die richtige Auswahl der Bewegungsvorstellungen
nicht in die Wagschale werfen, oder es kommt wenigstens nur
mit sehr viel geringerer Intensität zur Geltung. Während in der
vorigen Form nur die Summe c+d zur Innervation von b vor-
handen war, ist hier zwar c+d+a1, letzteres aber, weil es
mit auf die Bahn cb angewiesen ist, von viel geringerem Werthe
als normal, vorhanden. Es werden also Wörter verwechselt, nicht
so arg wie bei der vorigen Form, aber doch sehr auffallend.
Jedoch kann hier eine andere Correctur eintreten, welche, beim
normalen Sprachvorgange wenig benützt, die unbewusste auf
bewusstem Wege allmählich vollständig ersetzen kann. Der Acusticus
ist intact und leitet den Klang des gesprochenen Wortes zu dem
unversehrten Orte der Klangbilder hin. Das gesprochene Wort
wird also gehört und je nachdem richtig oder falsch befunden.
Der Kranke weiss bei einiger Aufmerksamkeit, dass er falsch ge-
sprochen hat und geräth darüber in Unmut. Wird ihm eine Aus-
wahl von Wörtern vorgesagt, unter welchen er das richtige
wählen soll, so trifft er es regelmässig; eben so beantwortet er
Suggestivfragen unfehlbar richtig. Ein solcher Kranker wird sich
das, was er sagen will, einüben können, indem er es vorher leise
vor sich hin spricht; und ist er ein willenskräftiger, intenser
Aufmerksamkeit fähiger Mensch, so wird er durch eine bewusste,

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[26/0030] Agraphie und Alexie entstehen kann; indessen wird sich viel eher erwarten lassen, dass das ganze optische Sinnesgebiet erkrankt ist. Der Symptomencomplex würde sich dann dadurch vervoll- ständigen, dass auch andere gesehene Gegenstände nicht wieder erkannt würden. Mit der Aphasie hätte aber diese Störung eigent- lich nichts zu schaffen. III. Es sei die Bahn a1 b, d. h. es seien die Associations- fasern betroffen, welche das Klangbild mit der zugehörigen Bewegungsvorstellung verknüpfen, aber Klangbild a1 und Bewe- gungsvorstellung b selbst erhalten. Der Kranke versteht Alles, ganz im Gegensatze zu der eben geschilderten Form der Aphasie. Er kann auch Alles sprechen, aber die Auswahl der richtigen Worte ist in ähnlicher Weise gestört wie in der eben geschilderten Form. Das Klangbild ist hier zwar erhalten, es wird auch von den übrigen Sinnesbildern, welche den Begriff bilden, mit innervirt, es kann aber, weil die Bahn a1 b unterbrochen ist, seinen gewich- tigen Einfluss für die richtige Auswahl der Bewegungsvorstellungen nicht in die Wagschale werfen, oder es kommt wenigstens nur mit sehr viel geringerer Intensität zur Geltung. Während in der vorigen Form nur die Summe c+d zur Innervation von b vor- handen war, ist hier zwar c+d+a1, letzteres aber, weil es mit auf die Bahn cb angewiesen ist, von viel geringerem Werthe als normal, vorhanden. Es werden also Wörter verwechselt, nicht so arg wie bei der vorigen Form, aber doch sehr auffallend. Jedoch kann hier eine andere Correctur eintreten, welche, beim normalen Sprachvorgange wenig benützt, die unbewusste auf bewusstem Wege allmählich vollständig ersetzen kann. Der Acusticus ist intact und leitet den Klang des gesprochenen Wortes zu dem unversehrten Orte der Klangbilder hin. Das gesprochene Wort wird also gehört und je nachdem richtig oder falsch befunden. Der Kranke weiss bei einiger Aufmerksamkeit, dass er falsch ge- sprochen hat und geräth darüber in Unmut. Wird ihm eine Aus- wahl von Wörtern vorgesagt, unter welchen er das richtige wählen soll, so trifft er es regelmässig; eben so beantwortet er Suggestivfragen unfehlbar richtig. Ein solcher Kranker wird sich das, was er sagen will, einüben können, indem er es vorher leise vor sich hin spricht; und ist er ein willenskräftiger, intenser Aufmerksamkeit fähiger Mensch, so wird er durch eine bewusste,

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/30>, abgerufen am 28.03.2024.