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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892.

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Nun wird es möglich, alle diese Punkte an den verschiedensten
Erscheinungen zu prüfen, und Versuche auszudenken, welche
die Theorie stützen, widerlegen oder auch einfach weiterführen
sollen.

Gewiss macht sich jeder Beobachter seine theoretischen
Gedanken, aus welchen heraus er Fragen an die Natur stellt,
aber es ist ein Anderes, ob er dabei nur von den ihm augen-
blicklich gerade gegenwärtigen und besonders eindrucksvollen
Erscheinungen allein geleitet wird, oder ob er auf Grund einer
durchgearbeiteten Theorie operirt, der die Haupt-Erscheinungen
des betreffenden Gebietes als Grundlage dienen. Ich wenigstens
habe mancherlei Vererbungsversuche begonnen und dann wieder
fallen lassen, weil ich einsah, dass man ohne die Leitung einer
durchgeführten, auf realem Boden gewachsenen Theorie völlig im
Dunkeln umhertappt. Der Werth einer solchen liegt wesentlich
darin, ein heuristisches Princip zu sein. Die wahre und voll-
kommene Theorie kann nur aus unvollkommneren Anfängen her-
vorgehen; diese bilden die Stufen, welche zu jener emporführen.

Nur sehr allmählich ist dieses Buch entstanden. Als ich
vor etwa zehn Jahren anfing, mich ernstlicher dem Vererbungs-
problem zuzuwenden, war es zuerst die Existenz einer besondern
Vererbungssubstanz, die sich mir aufdrängte, einer organi-
sirten, lebenden Substanz, welche von einer Generation der
andern überliefert wird, im Gegensatz stehend zu derjenigen
Substanz, welche den vergänglichen Körper des Einzelwesens
ausmacht. So entstanden die Schriften über das Keimplasma
und die Continuität des Keimplasma's. Dies leitete zugleich
dazu hin, die bisher angenommene Vererbung der vom Körper
erworbenen Abänderungen in Zweifel zu ziehen, und ge-
naueres Eingehen, verbunden mit dem Experiment, befestigte
mehr und mehr die Überzeugung, dass eine derartige Vererbung
in der That nicht besteht. Gleichzeitig führten die Unter-

Nun wird es möglich, alle diese Punkte an den verschiedensten
Erscheinungen zu prüfen, und Versuche auszudenken, welche
die Theorie stützen, widerlegen oder auch einfach weiterführen
sollen.

Gewiss macht sich jeder Beobachter seine theoretischen
Gedanken, aus welchen heraus er Fragen an die Natur stellt,
aber es ist ein Anderes, ob er dabei nur von den ihm augen-
blicklich gerade gegenwärtigen und besonders eindrucksvollen
Erscheinungen allein geleitet wird, oder ob er auf Grund einer
durchgearbeiteten Theorie operirt, der die Haupt-Erscheinungen
des betreffenden Gebietes als Grundlage dienen. Ich wenigstens
habe mancherlei Vererbungsversuche begonnen und dann wieder
fallen lassen, weil ich einsah, dass man ohne die Leitung einer
durchgeführten, auf realem Boden gewachsenen Theorie völlig im
Dunkeln umhertappt. Der Werth einer solchen liegt wesentlich
darin, ein heuristisches Princip zu sein. Die wahre und voll-
kommene Theorie kann nur aus unvollkommneren Anfängen her-
vorgehen; diese bilden die Stufen, welche zu jener emporführen.

Nur sehr allmählich ist dieses Buch entstanden. Als ich
vor etwa zehn Jahren anfing, mich ernstlicher dem Vererbungs-
problem zuzuwenden, war es zuerst die Existenz einer besondern
Vererbungssubstanz, die sich mir aufdrängte, einer organi-
sirten, lebenden Substanz, welche von einer Generation der
andern überliefert wird, im Gegensatz stehend zu derjenigen
Substanz, welche den vergänglichen Körper des Einzelwesens
ausmacht. So entstanden die Schriften über das Keimplasma
und die Continuität des Keimplasma’s. Dies leitete zugleich
dazu hin, die bisher angenommene Vererbung der vom Körper
erworbenen Abänderungen in Zweifel zu ziehen, und ge-
naueres Eingehen, verbunden mit dem Experiment, befestigte
mehr und mehr die Überzeugung, dass eine derartige Vererbung
in der That nicht besteht. Gleichzeitig führten die Unter-

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[XI/0017] Nun wird es möglich, alle diese Punkte an den verschiedensten Erscheinungen zu prüfen, und Versuche auszudenken, welche die Theorie stützen, widerlegen oder auch einfach weiterführen sollen. Gewiss macht sich jeder Beobachter seine theoretischen Gedanken, aus welchen heraus er Fragen an die Natur stellt, aber es ist ein Anderes, ob er dabei nur von den ihm augen- blicklich gerade gegenwärtigen und besonders eindrucksvollen Erscheinungen allein geleitet wird, oder ob er auf Grund einer durchgearbeiteten Theorie operirt, der die Haupt-Erscheinungen des betreffenden Gebietes als Grundlage dienen. Ich wenigstens habe mancherlei Vererbungsversuche begonnen und dann wieder fallen lassen, weil ich einsah, dass man ohne die Leitung einer durchgeführten, auf realem Boden gewachsenen Theorie völlig im Dunkeln umhertappt. Der Werth einer solchen liegt wesentlich darin, ein heuristisches Princip zu sein. Die wahre und voll- kommene Theorie kann nur aus unvollkommneren Anfängen her- vorgehen; diese bilden die Stufen, welche zu jener emporführen. Nur sehr allmählich ist dieses Buch entstanden. Als ich vor etwa zehn Jahren anfing, mich ernstlicher dem Vererbungs- problem zuzuwenden, war es zuerst die Existenz einer besondern Vererbungssubstanz, die sich mir aufdrängte, einer organi- sirten, lebenden Substanz, welche von einer Generation der andern überliefert wird, im Gegensatz stehend zu derjenigen Substanz, welche den vergänglichen Körper des Einzelwesens ausmacht. So entstanden die Schriften über das Keimplasma und die Continuität des Keimplasma’s. Dies leitete zugleich dazu hin, die bisher angenommene Vererbung der vom Körper erworbenen Abänderungen in Zweifel zu ziehen, und ge- naueres Eingehen, verbunden mit dem Experiment, befestigte mehr und mehr die Überzeugung, dass eine derartige Vererbung in der That nicht besteht. Gleichzeitig führten die Unter-

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Zitationshilfe: Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. XI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/17>, abgerufen am 20.04.2024.