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Wegner, Marie: Frauenstimmrecht. In: Die Frau im Osten. Deutsche Zeitschrift für moderne Frauenbestrebungen; Organ für die Interessen der Frauenbewegung in den östlichen Provinzen, Bd. 1, Jg. 1910. Breslau, 1910. S. 180–183.

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wenn sich diese Voraussetzungen nicht erfüllen, kann der
Liberalismus, der überall für die Entscheidung der Volks-
mehrheit eintritt, hier nicht ganz unbegründet eine Volks-
mehrheit ausschalten, deren Bedeutung für den Staat
mindestens ebensogroß wie die Minorität der Männer ist.
Dr. Pachnicke fährt fort:

"Wer will sagen, wohin die Mehrheit dieser Stimmen
fällt! Nur Vermutungen sind möglich, die man bisher be-
kannten Gepflogenheiten entnehmen kann.

Diese Vermutungen weisen darauf hin, daß in katholischen
Gegenden unter dem Einfluß des Beichtvaters die Frauen
scharenweise für das Zentrum, in Jndustriebezirken für die
Sozialdemokratie stimmen würden. Dem konfessionellen und
dem Klasseninstinkte folgen sie um so sicherer, je mehr ihnen
die politische Schulung fehlt. Ob bürgerliche Frauen immer
für den bürgerlichen Kandidaten stimmen würden, ist mindestens
nicht ausgemacht. Tun sie es, so bedeutet dies auf dem Lande
eine Verstärkung des Bündlertums. Die Gutsbesitzersfrau
wird, vom politischen Feuer erfaßt, Himmel und Hölle, --
Hölle vielleicht noch mehr als Himmel -- in Bewegung setzen,
um die zu verderben, die ihr als Feinde der Landwirtschaft
geschildert worden sind. (Die Frauen auf dem Lande sind
vielmehr an selbständiges Denken und Handeln gewöhnt als
die Städterinnen. Die Redaktion.) Bei der jetzigen und vor-
aussichtlich auch künftigen Einteilung der Wahlkreise überwiegt
das Land die Städte derart, daß ein Gegendruck der Handels-
und Gewerbefrauen im Gesamteffekt verschwände. Facit: eine
riesige Verstärkung des Klerikalismus, der Sozialdemokratie
und wohl auch des Bündlertums. Kann das die Liberalen
locken, ihre theoretischen Bedenken aufzugeben? (Dieses Facit
ist mehr als fraglich. Die Red.)

Oder könnte sie eine taktische Erwägung dazu bestimmen,
etwa die, daß man einen starken Wind in die eigenen Segel
einfangen müsse. Da wäre denn doch erst zu untersuchen, ob
die Windstärke wirklich so groß ist, wie man behauptet. Ge-
wiß bestehen stattliche Organisationen von Frauen, die außer
durch wirtschaftliche, soziale und charitative Beweggründe auch
durch politische geleitet werden und als erste oder letzte
Forderung das Stimmrecht im Programm oder im Herzen
führen. Der Bund deutscher Frauenvereine wird in der Über-
sicht des "Reichsarbeitsblatts" mit einer Mitgliederzahl von
150 000 aufgeführt, der deutsche Verband für Frauenstimm-
recht mit 2242 weiblichen und 216 männlichen Mitgliedern.
Dazu treten unter anderen auch noch sozialdemokratische
Frauenorganisationen. Aber hören wir nicht gerade aus diesen
Kreisen immer die gleichen Klagen über die politische Teil-
nahmlosigkeit der deutschen Frau, über das wenig frische
Leben der Verbände? Noch kürzlich wurde von sehr unter-
richteter sozialdemokratischer Seite ein starkes Anschwellen des
politischen Jnteresses unter den Frauen in Abrede gestellt.
Wenn die Millionen erwachsener Frauen von dem Jdeal des
Stimmrechts so erfüllt wären, warum rühren sie sich nicht,
warum kommen sie nicht in die Versammlungen der Männer,
warum stellen sie keine Anträge, setzen keine Beschlüsse durch?
Nicht einmal, als das Reichsvereinsgesetz, das den Frauen
die Bahnen zu politischer Betätigung eröffnen sollte, gefährdet
war, als die seiner Annahme geneigten Liberalen von allen
Seiten, nicht zum mindesten von den Neudemokraten heftig
und häßlich angegriffen wurden, nicht einmal da haben die
Frauenvereine fühlbare Hilfe geleistet. Solchen Wahrnehmungen
gegenüber hält es schwer, daran zu glauben, daß die geistige
Oberschicht der Frauenwelt, die die volle politische Gleich-
berechtigung verlangt, mit der ungleich zahlreicheren Mittel-
und Unterschicht identisch ist."


Die Zahlen, die Herr P. aus dem Reichsarbeitsblatt
anführt, dürften heute längst überholt sein -- es gibt jetzt in
Schlesien und am Rhein große Organisationen, die für das
Stimmrecht der Frauen eintreten -- diese Anführung beweist
jedoch wieder einmal, daß unsere Hauptarbeit zur Zeit in der
Propaganda unter den Frauen selbst liegt. Daß die Frauen
nicht wesentliche Hilfe geleistet haben, das neue Vereins-
gesetz herbeizuführen, bestreite ich mit aller Entschiedenheit!
Jahrelang haben sie in tausenden von Versammlungen und
in unzählichen Schriften und Zeitungen die öffentliche
Meinung in diesem Sinne beeinflußt. Jn den entscheidenden
Tagen, während der Verhandlungen im Reichstage, wurden
allerorten Versammlungen einberufen und das Vorgehen[Spaltenumbruch] einzelner Berliner Vertreterinnen, die im Jnteresse des kleinen
Häufleins Polen, Dänen und Franzosen das im Entwurf
vorliegende Vereinsgesetz abgelehnt sehen wollten, gebührend
getadelt. Die falsche Beurteilung der politischen Frauen-
tätigkeit ergibt sich eben daraus, daß den Frauen das Wahl-
recht fehlt und sie ihre Ansichten nur durch Petitionen, die
oft genug nicht beachtet werden, zum Ausdruck bringen können.
Jn der Provinz glauben die Herren Abgeordneten häufig
orientiert zu sein, wenn sie gelegentlich einmal eine Frauen-
versammlung besuchen, sie nehmen dann die Berliner Ver-
treterinnen als Maßstab, die sich durch aktuelle Versammlungen
über die in der betreffenden Session des Reichstages verhandelten
Gesetze bemerkbarer machen können; und doch sind die Ber-
liner Vertreterinnen ebenso wenig maßgebend für die Frauen-
bewegung im Deutschen Reich, wie etwa die Berliner Ab-
geordneten für die verschiedenen politischen Parteien im
Reichstage.

Dr. Pachnicke sagt weiter:

"Was wollen demgegenüber Argumente besagen, die darauf
hinausgehen, daß die besonderen Bedürfnisse der Frau nur
die Frau kenne und nur sie zu befriedigen in der Lage sei.
Das Bildungs-, Erwerbs-, Rechtschutzbedürfnis erkennt auch
der Mann, und der liberale Mann wird es, soweit es die
Verhältnisse und Finanzen irgend gestatten, zu erfüllen suchen."


Natürlich scheinen Herrn Pachnicke diese Argumente
nicht so wichtig, weil er sie ja garnicht empfindet im eigenen
Leben, wie wir Frauen; daß sie ihm unwichtig erscheinen
und für uns der springende Punkt sind, beweist wieder-
um, daß Frauenwünsche nur durch Frauen wirksam vertreten
werden können. Das kommunale Wahlrecht, welches die
Frauen zunächst anstreben und das in allen unseren Ver-
einen in den Vordergrund tritt, erwähnt Dr. Pachnicke über-
haupt nicht. Der Mann führt, wie der Abgeordnete Pach-
nicke, immer die Verhältnisse und die Finanzen ins Treffen,
wenn er den Frauenwünschen nicht gerecht werden will.
Die Verhältnisse hat der Mann doch so geschaffen wie
sie sind und die Finanzen sind so eng mit den von
Männern eingeführten Gesetzen und den Trinksitten
verknüpft, die jährlich fast vier Milliarden in Deutschland
verschlingen, daß das Frauenwahlrecht wahrscheinlich ganz
andere Verhältnisse und eine günstigere Finanzlage schaffen
würde, die uns endlich bessere Mädchenschulen, Fortbildungs-
schulen, staatlich angestellte Hebammen, eine Mutterschafts-
versicherung, Aufhebung der Reglementierung der Prostitution
und wie alle die brennenden Bedürfnisse der Frauen heißen,
bringen könnten! Zum Schluß führt Dr. Pachnicke aus:

"Noch schwächer ist der Eindruck, wenn man, wie geschehen,
die Erfahrungen in Wyoming, Colorado, Utah und Jdaho
-- Staaten, die das Frauen-Stimmrecht haben -- zu ver-
werten sucht. Zunächst müßte festgestellt werden, ob die Ent-
wicklung seit dem Frauenstimmrecht dort wirklich "mit Sieben-
meilenstiefeln vorangekommen ist". Dann aber sind fremde
Einrichtungen nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse
zu übertragen. Die deutsche Politik richtet sich nach deutschen
Jnteressen.

Es kommt hinzu, daß innerhalb der Fortschrittlichen
Volkspartei die Meinungen über den hier in Rede stehenden
Punkt weit auseinandergehen. Genau dieselbe Erscheinung
wie in England, wo sich Whigs und Tories keineswegs ge-
schlossen gegenüberstehen, wo auch durch das jetzige Ministerium
ein Riß geht, der es verhindert, daß eine Bill, die vielleicht
im Unterhaus endgültig eine Mehrheit fände, Gesetzeskraft
gewinnt. Eine derart umstrittene Frage zum Gegenstand pro-
grammatischer Erörterungen machen, hieße, mutwillig den Eris-
apfel in die Partei werfen, die sich zur Freude auch der
Frauen soeben erst zusammenfand.

Der Arbeitsausschuß und der erweiterte Ausschuß der
fortschrittlichen Frauen finden uns bereit, alles für die Frauen
zu tun, was diese wirtschaftlich fördert und geistig hebt, ihnen
den Zugang zu Berufen zu erleichtern, denen sie nach ihrer
Eigenart gewachsen sind, die letzten Schranken fortzuräumen,
die ihrem wissenschaftlichen Studium noch entgegenstehen, ihnen
entsprechend der an das Preußische Abgeordnetenhaus ge-
richteten Petition die Kunstakademien zu öffnen, die ihnen in
Berlin und Düsseldorf noch geschlossen sind, der steuerzahlenden

wenn sich diese Voraussetzungen nicht erfüllen, kann der
Liberalismus, der überall für die Entscheidung der Volks-
mehrheit eintritt, hier nicht ganz unbegründet eine Volks-
mehrheit ausschalten, deren Bedeutung für den Staat
mindestens ebensogroß wie die Minorität der Männer ist.
Dr. Pachnicke fährt fort:

„Wer will sagen, wohin die Mehrheit dieser Stimmen
fällt! Nur Vermutungen sind möglich, die man bisher be-
kannten Gepflogenheiten entnehmen kann.

Diese Vermutungen weisen darauf hin, daß in katholischen
Gegenden unter dem Einfluß des Beichtvaters die Frauen
scharenweise für das Zentrum, in Jndustriebezirken für die
Sozialdemokratie stimmen würden. Dem konfessionellen und
dem Klasseninstinkte folgen sie um so sicherer, je mehr ihnen
die politische Schulung fehlt. Ob bürgerliche Frauen immer
für den bürgerlichen Kandidaten stimmen würden, ist mindestens
nicht ausgemacht. Tun sie es, so bedeutet dies auf dem Lande
eine Verstärkung des Bündlertums. Die Gutsbesitzersfrau
wird, vom politischen Feuer erfaßt, Himmel und Hölle, —
Hölle vielleicht noch mehr als Himmel — in Bewegung setzen,
um die zu verderben, die ihr als Feinde der Landwirtschaft
geschildert worden sind. (Die Frauen auf dem Lande sind
vielmehr an selbständiges Denken und Handeln gewöhnt als
die Städterinnen. Die Redaktion.) Bei der jetzigen und vor-
aussichtlich auch künftigen Einteilung der Wahlkreise überwiegt
das Land die Städte derart, daß ein Gegendruck der Handels-
und Gewerbefrauen im Gesamteffekt verschwände. Facit: eine
riesige Verstärkung des Klerikalismus, der Sozialdemokratie
und wohl auch des Bündlertums. Kann das die Liberalen
locken, ihre theoretischen Bedenken aufzugeben? (Dieses Facit
ist mehr als fraglich. Die Red.)

Oder könnte sie eine taktische Erwägung dazu bestimmen,
etwa die, daß man einen starken Wind in die eigenen Segel
einfangen müsse. Da wäre denn doch erst zu untersuchen, ob
die Windstärke wirklich so groß ist, wie man behauptet. Ge-
wiß bestehen stattliche Organisationen von Frauen, die außer
durch wirtschaftliche, soziale und charitative Beweggründe auch
durch politische geleitet werden und als erste oder letzte
Forderung das Stimmrecht im Programm oder im Herzen
führen. Der Bund deutscher Frauenvereine wird in der Über-
sicht des „Reichsarbeitsblatts“ mit einer Mitgliederzahl von
150 000 aufgeführt, der deutsche Verband für Frauenstimm-
recht mit 2242 weiblichen und 216 männlichen Mitgliedern.
Dazu treten unter anderen auch noch sozialdemokratische
Frauenorganisationen. Aber hören wir nicht gerade aus diesen
Kreisen immer die gleichen Klagen über die politische Teil-
nahmlosigkeit der deutschen Frau, über das wenig frische
Leben der Verbände? Noch kürzlich wurde von sehr unter-
richteter sozialdemokratischer Seite ein starkes Anschwellen des
politischen Jnteresses unter den Frauen in Abrede gestellt.
Wenn die Millionen erwachsener Frauen von dem Jdeal des
Stimmrechts so erfüllt wären, warum rühren sie sich nicht,
warum kommen sie nicht in die Versammlungen der Männer,
warum stellen sie keine Anträge, setzen keine Beschlüsse durch?
Nicht einmal, als das Reichsvereinsgesetz, das den Frauen
die Bahnen zu politischer Betätigung eröffnen sollte, gefährdet
war, als die seiner Annahme geneigten Liberalen von allen
Seiten, nicht zum mindesten von den Neudemokraten heftig
und häßlich angegriffen wurden, nicht einmal da haben die
Frauenvereine fühlbare Hilfe geleistet. Solchen Wahrnehmungen
gegenüber hält es schwer, daran zu glauben, daß die geistige
Oberschicht der Frauenwelt, die die volle politische Gleich-
berechtigung verlangt, mit der ungleich zahlreicheren Mittel-
und Unterschicht identisch ist.“


Die Zahlen, die Herr P. aus dem Reichsarbeitsblatt
anführt, dürften heute längst überholt sein — es gibt jetzt in
Schlesien und am Rhein große Organisationen, die für das
Stimmrecht der Frauen eintreten — diese Anführung beweist
jedoch wieder einmal, daß unsere Hauptarbeit zur Zeit in der
Propaganda unter den Frauen selbst liegt. Daß die Frauen
nicht wesentliche Hilfe geleistet haben, das neue Vereins-
gesetz herbeizuführen, bestreite ich mit aller Entschiedenheit!
Jahrelang haben sie in tausenden von Versammlungen und
in unzählichen Schriften und Zeitungen die öffentliche
Meinung in diesem Sinne beeinflußt. Jn den entscheidenden
Tagen, während der Verhandlungen im Reichstage, wurden
allerorten Versammlungen einberufen und das Vorgehen[Spaltenumbruch] einzelner Berliner Vertreterinnen, die im Jnteresse des kleinen
Häufleins Polen, Dänen und Franzosen das im Entwurf
vorliegende Vereinsgesetz abgelehnt sehen wollten, gebührend
getadelt. Die falsche Beurteilung der politischen Frauen-
tätigkeit ergibt sich eben daraus, daß den Frauen das Wahl-
recht fehlt und sie ihre Ansichten nur durch Petitionen, die
oft genug nicht beachtet werden, zum Ausdruck bringen können.
Jn der Provinz glauben die Herren Abgeordneten häufig
orientiert zu sein, wenn sie gelegentlich einmal eine Frauen-
versammlung besuchen, sie nehmen dann die Berliner Ver-
treterinnen als Maßstab, die sich durch aktuelle Versammlungen
über die in der betreffenden Session des Reichstages verhandelten
Gesetze bemerkbarer machen können; und doch sind die Ber-
liner Vertreterinnen ebenso wenig maßgebend für die Frauen-
bewegung im Deutschen Reich, wie etwa die Berliner Ab-
geordneten für die verschiedenen politischen Parteien im
Reichstage.

Dr. Pachnicke sagt weiter:

„Was wollen demgegenüber Argumente besagen, die darauf
hinausgehen, daß die besonderen Bedürfnisse der Frau nur
die Frau kenne und nur sie zu befriedigen in der Lage sei.
Das Bildungs-, Erwerbs-, Rechtschutzbedürfnis erkennt auch
der Mann, und der liberale Mann wird es, soweit es die
Verhältnisse und Finanzen irgend gestatten, zu erfüllen suchen.“


Natürlich scheinen Herrn Pachnicke diese Argumente
nicht so wichtig, weil er sie ja garnicht empfindet im eigenen
Leben, wie wir Frauen; daß sie ihm unwichtig erscheinen
und für uns der springende Punkt sind, beweist wieder-
um, daß Frauenwünsche nur durch Frauen wirksam vertreten
werden können. Das kommunale Wahlrecht, welches die
Frauen zunächst anstreben und das in allen unseren Ver-
einen in den Vordergrund tritt, erwähnt Dr. Pachnicke über-
haupt nicht. Der Mann führt, wie der Abgeordnete Pach-
nicke, immer die Verhältnisse und die Finanzen ins Treffen,
wenn er den Frauenwünschen nicht gerecht werden will.
Die Verhältnisse hat der Mann doch so geschaffen wie
sie sind und die Finanzen sind so eng mit den von
Männern eingeführten Gesetzen und den Trinksitten
verknüpft, die jährlich fast vier Milliarden in Deutschland
verschlingen, daß das Frauenwahlrecht wahrscheinlich ganz
andere Verhältnisse und eine günstigere Finanzlage schaffen
würde, die uns endlich bessere Mädchenschulen, Fortbildungs-
schulen, staatlich angestellte Hebammen, eine Mutterschafts-
versicherung, Aufhebung der Reglementierung der Prostitution
und wie alle die brennenden Bedürfnisse der Frauen heißen,
bringen könnten! Zum Schluß führt Dr. Pachnicke aus:

„Noch schwächer ist der Eindruck, wenn man, wie geschehen,
die Erfahrungen in Wyoming, Colorado, Utah und Jdaho
— Staaten, die das Frauen-Stimmrecht haben — zu ver-
werten sucht. Zunächst müßte festgestellt werden, ob die Ent-
wicklung seit dem Frauenstimmrecht dort wirklich „mit Sieben-
meilenstiefeln vorangekommen ist“. Dann aber sind fremde
Einrichtungen nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse
zu übertragen. Die deutsche Politik richtet sich nach deutschen
Jnteressen.

Es kommt hinzu, daß innerhalb der Fortschrittlichen
Volkspartei die Meinungen über den hier in Rede stehenden
Punkt weit auseinandergehen. Genau dieselbe Erscheinung
wie in England, wo sich Whigs und Tories keineswegs ge-
schlossen gegenüberstehen, wo auch durch das jetzige Ministerium
ein Riß geht, der es verhindert, daß eine Bill, die vielleicht
im Unterhaus endgültig eine Mehrheit fände, Gesetzeskraft
gewinnt. Eine derart umstrittene Frage zum Gegenstand pro-
grammatischer Erörterungen machen, hieße, mutwillig den Eris-
apfel in die Partei werfen, die sich zur Freude auch der
Frauen soeben erst zusammenfand.

Der Arbeitsausschuß und der erweiterte Ausschuß der
fortschrittlichen Frauen finden uns bereit, alles für die Frauen
zu tun, was diese wirtschaftlich fördert und geistig hebt, ihnen
den Zugang zu Berufen zu erleichtern, denen sie nach ihrer
Eigenart gewachsen sind, die letzten Schranken fortzuräumen,
die ihrem wissenschaftlichen Studium noch entgegenstehen, ihnen
entsprechend der an das Preußische Abgeordnetenhaus ge-
richteten Petition die Kunstakademien zu öffnen, die ihnen in
Berlin und Düsseldorf noch geschlossen sind, der steuerzahlenden

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Die Gutsbesitzersfrau wird, vom politischen Feuer erfaßt, Himmel und Hölle, — Hölle vielleicht noch mehr als Himmel — in Bewegung setzen, um die zu verderben, die ihr als Feinde der Landwirtschaft geschildert worden sind. (Die Frauen auf dem Lande sind vielmehr an selbständiges Denken und Handeln gewöhnt als die Städterinnen. Die Redaktion.) Bei der jetzigen und vor- aussichtlich auch künftigen Einteilung der Wahlkreise überwiegt das Land die Städte derart, daß ein Gegendruck der Handels- und Gewerbefrauen im Gesamteffekt verschwände. Facit: eine riesige Verstärkung des Klerikalismus, der Sozialdemokratie und wohl auch des Bündlertums. Kann das die Liberalen locken, ihre theoretischen Bedenken aufzugeben? (Dieses Facit ist mehr als fraglich. Die Red.) Oder könnte sie eine taktische Erwägung dazu bestimmen, etwa die, daß man einen starken Wind in die eigenen Segel einfangen müsse. Da wäre denn doch erst zu untersuchen, ob die Windstärke wirklich so groß ist, wie man behauptet. Ge- wiß bestehen stattliche Organisationen von Frauen, die außer durch wirtschaftliche, soziale und charitative Beweggründe auch durch politische geleitet werden und als erste oder letzte Forderung das Stimmrecht im Programm oder im Herzen führen. Der Bund deutscher Frauenvereine wird in der Über- sicht des „Reichsarbeitsblatts“ mit einer Mitgliederzahl von 150 000 aufgeführt, der deutsche Verband für Frauenstimm- recht mit 2242 weiblichen und 216 männlichen Mitgliedern. Dazu treten unter anderen auch noch sozialdemokratische Frauenorganisationen. Aber hören wir nicht gerade aus diesen Kreisen immer die gleichen Klagen über die politische Teil- nahmlosigkeit der deutschen Frau, über das wenig frische Leben der Verbände? Noch kürzlich wurde von sehr unter- richteter sozialdemokratischer Seite ein starkes Anschwellen des politischen Jnteresses unter den Frauen in Abrede gestellt. Wenn die Millionen erwachsener Frauen von dem Jdeal des Stimmrechts so erfüllt wären, warum rühren sie sich nicht, warum kommen sie nicht in die Versammlungen der Männer, warum stellen sie keine Anträge, setzen keine Beschlüsse durch? Nicht einmal, als das Reichsvereinsgesetz, das den Frauen die Bahnen zu politischer Betätigung eröffnen sollte, gefährdet war, als die seiner Annahme geneigten Liberalen von allen Seiten, nicht zum mindesten von den Neudemokraten heftig und häßlich angegriffen wurden, nicht einmal da haben die Frauenvereine fühlbare Hilfe geleistet. Solchen Wahrnehmungen gegenüber hält es schwer, daran zu glauben, daß die geistige Oberschicht der Frauenwelt, die die volle politische Gleich- berechtigung verlangt, mit der ungleich zahlreicheren Mittel- und Unterschicht identisch ist.“ Die Zahlen, die Herr P. aus dem Reichsarbeitsblatt anführt, dürften heute längst überholt sein — es gibt jetzt in Schlesien und am Rhein große Organisationen, die für das Stimmrecht der Frauen eintreten — diese Anführung beweist jedoch wieder einmal, daß unsere Hauptarbeit zur Zeit in der Propaganda unter den Frauen selbst liegt. Daß die Frauen nicht wesentliche Hilfe geleistet haben, das neue Vereins- gesetz herbeizuführen, bestreite ich mit aller Entschiedenheit! Jahrelang haben sie in tausenden von Versammlungen und in unzählichen Schriften und Zeitungen die öffentliche Meinung in diesem Sinne beeinflußt. Jn den entscheidenden Tagen, während der Verhandlungen im Reichstage, wurden allerorten Versammlungen einberufen und das Vorgehen einzelner Berliner Vertreterinnen, die im Jnteresse des kleinen Häufleins Polen, Dänen und Franzosen das im Entwurf vorliegende Vereinsgesetz abgelehnt sehen wollten, gebührend getadelt. Die falsche Beurteilung der politischen Frauen- tätigkeit ergibt sich eben daraus, daß den Frauen das Wahl- recht fehlt und sie ihre Ansichten nur durch Petitionen, die oft genug nicht beachtet werden, zum Ausdruck bringen können. Jn der Provinz glauben die Herren Abgeordneten häufig orientiert zu sein, wenn sie gelegentlich einmal eine Frauen- versammlung besuchen, sie nehmen dann die Berliner Ver- treterinnen als Maßstab, die sich durch aktuelle Versammlungen über die in der betreffenden Session des Reichstages verhandelten Gesetze bemerkbarer machen können; und doch sind die Ber- liner Vertreterinnen ebenso wenig maßgebend für die Frauen- bewegung im Deutschen Reich, wie etwa die Berliner Ab- geordneten für die verschiedenen politischen Parteien im Reichstage. Dr. Pachnicke sagt weiter: „Was wollen demgegenüber Argumente besagen, die darauf hinausgehen, daß die besonderen Bedürfnisse der Frau nur die Frau kenne und nur sie zu befriedigen in der Lage sei. Das Bildungs-, Erwerbs-, Rechtschutzbedürfnis erkennt auch der Mann, und der liberale Mann wird es, soweit es die Verhältnisse und Finanzen irgend gestatten, zu erfüllen suchen.“ Natürlich scheinen Herrn Pachnicke diese Argumente nicht so wichtig, weil er sie ja garnicht empfindet im eigenen Leben, wie wir Frauen; daß sie ihm unwichtig erscheinen und für uns der springende Punkt sind, beweist wieder- um, daß Frauenwünsche nur durch Frauen wirksam vertreten werden können. Das kommunale Wahlrecht, welches die Frauen zunächst anstreben und das in allen unseren Ver- einen in den Vordergrund tritt, erwähnt Dr. Pachnicke über- haupt nicht. Der Mann führt, wie der Abgeordnete Pach- nicke, immer die Verhältnisse und die Finanzen ins Treffen, wenn er den Frauenwünschen nicht gerecht werden will. Die Verhältnisse hat der Mann doch so geschaffen wie sie sind und die Finanzen sind so eng mit den von Männern eingeführten Gesetzen und den Trinksitten verknüpft, die jährlich fast vier Milliarden in Deutschland verschlingen, daß das Frauenwahlrecht wahrscheinlich ganz andere Verhältnisse und eine günstigere Finanzlage schaffen würde, die uns endlich bessere Mädchenschulen, Fortbildungs- schulen, staatlich angestellte Hebammen, eine Mutterschafts- versicherung, Aufhebung der Reglementierung der Prostitution und wie alle die brennenden Bedürfnisse der Frauen heißen, bringen könnten! Zum Schluß führt Dr. Pachnicke aus: „Noch schwächer ist der Eindruck, wenn man, wie geschehen, die Erfahrungen in Wyoming, Colorado, Utah und Jdaho — Staaten, die das Frauen-Stimmrecht haben — zu ver- werten sucht. Zunächst müßte festgestellt werden, ob die Ent- wicklung seit dem Frauenstimmrecht dort wirklich „mit Sieben- meilenstiefeln vorangekommen ist“. Dann aber sind fremde Einrichtungen nicht ohne weiteres auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Die deutsche Politik richtet sich nach deutschen Jnteressen. Es kommt hinzu, daß innerhalb der Fortschrittlichen Volkspartei die Meinungen über den hier in Rede stehenden Punkt weit auseinandergehen. Genau dieselbe Erscheinung wie in England, wo sich Whigs und Tories keineswegs ge- schlossen gegenüberstehen, wo auch durch das jetzige Ministerium ein Riß geht, der es verhindert, daß eine Bill, die vielleicht im Unterhaus endgültig eine Mehrheit fände, Gesetzeskraft gewinnt. Eine derart umstrittene Frage zum Gegenstand pro- grammatischer Erörterungen machen, hieße, mutwillig den Eris- apfel in die Partei werfen, die sich zur Freude auch der Frauen soeben erst zusammenfand. Der Arbeitsausschuß und der erweiterte Ausschuß der fortschrittlichen Frauen finden uns bereit, alles für die Frauen zu tun, was diese wirtschaftlich fördert und geistig hebt, ihnen den Zugang zu Berufen zu erleichtern, denen sie nach ihrer Eigenart gewachsen sind, die letzten Schranken fortzuräumen, die ihrem wissenschaftlichen Studium noch entgegenstehen, ihnen entsprechend der an das Preußische Abgeordnetenhaus ge- richteten Petition die Kunstakademien zu öffnen, die ihnen in Berlin und Düsseldorf noch geschlossen sind, der steuerzahlenden

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-03-21T10:13:41Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-03-21T10:13:41Z)

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Zitationshilfe: Wegner, Marie: Frauenstimmrecht. In: Die Frau im Osten. Deutsche Zeitschrift für moderne Frauenbestrebungen; Organ für die Interessen der Frauenbewegung in den östlichen Provinzen, Bd. 1, Jg. 1910. Breslau, 1910. S. 180–183, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wegner_frauenstimmrecht_1910/3>, abgerufen am 29.03.2024.