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Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.

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Frau Gabor. -- Weil du es nicht verstehst.
Melchior. Das kannst du nicht wissen, Mama. Ich fühle
sehr wohl, daß ich das Werk in seiner ganzen Erhabenheit zu
erfassen noch nicht im Stande bin ...
Moritz. Wir lesen immer zu zweit; das erleichtert das
Verständniß außerordentlich!
Frau Gabor. Du bist alt genug, Melchior, um wissen
zu können, was dir zuträglich und was dir schädlich ist. Thu,
was du vor dir verantworten kannst. Ich werde die Erste sein,
die es dankbar anerkennt, wenn du mir niemals Grund giebst,
dir etwas vorenthalten zu müssen. -- Ich wollte dich nur darauf
aufmerksam machen, daß auch das Beste nachtheilig wirken kann,
wenn man noch die Reife nicht besitzt, um es richtig aufzunehmen.
-- Ich werde mein Vertrauen immer lieber in dich als in irgend-
beliebige erzieherische Maßregeln setzen. -- -- Wenn ihr noch
etwas braucht, Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe
mich. Ich bin auf meinem Schlafzimmer.
(Ab.)
Moritz. -- -- Deine Mama meinte die Geschichte mit Gretchen.
Melchior. Haben wir uns auch nur einen Moment dabei
aufgehalten!
Moritz. Faust kann sich nicht kaltblütiger darüber hin-
weggesetzt haben!
Melchior. Das Kunstwerk gipfelt doch schließlich nicht
in dieser Schändlichkeit! -- Faust könnte dem Mädchen die Heirath
versprochen, könnte es daraufhin verlassen haben, er wäre in
meinen Augen um kein Haar weniger strafbar. Gretchen könnte ja
meinethalben an gebrochenem Herzen sterben. -- Sieht man wie Jeder
darauf immer gleich krampfhaft die Blicke richtet, man möchte
glauben, die ganze Welt drehe sich um P .... und K ....!
Moritz. Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so habe
ich nämlich thatsächlich das Gefühl, seit ich deinen Aufsatz gelesen.
Frau Gabor. — Weil du es nicht verſtehſt.
Melchior. Das kannſt du nicht wiſſen, Mama. Ich fühle
ſehr wohl, daß ich das Werk in ſeiner ganzen Erhabenheit zu
erfaſſen noch nicht im Stande bin …
Moritz. Wir leſen immer zu zweit; das erleichtert das
Verſtändniß außerordentlich!
Frau Gabor. Du biſt alt genug, Melchior, um wiſſen
zu können, was dir zuträglich und was dir ſchädlich iſt. Thu,
was du vor dir verantworten kannſt. Ich werde die Erſte ſein,
die es dankbar anerkennt, wenn du mir niemals Grund giebſt,
dir etwas vorenthalten zu müſſen. — Ich wollte dich nur darauf
aufmerkſam machen, daß auch das Beſte nachtheilig wirken kann,
wenn man noch die Reife nicht beſitzt, um es richtig aufzunehmen.
— Ich werde mein Vertrauen immer lieber in dich als in irgend-
beliebige erzieheriſche Maßregeln ſetzen. — — Wenn ihr noch
etwas braucht, Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe
mich. Ich bin auf meinem Schlafzimmer.
(Ab.)
Moritz. — — Deine Mama meinte die Geſchichte mit Gretchen.
Melchior. Haben wir uns auch nur einen Moment dabei
aufgehalten!
Moritz. Fauſt kann ſich nicht kaltblütiger darüber hin-
weggeſetzt haben!
Melchior. Das Kunſtwerk gipfelt doch ſchließlich nicht
in dieſer Schändlichkeit! — Fauſt könnte dem Mädchen die Heirath
verſprochen, könnte es daraufhin verlaſſen haben, er wäre in
meinen Augen um kein Haar weniger ſtrafbar. Gretchen könnte ja
meinethalben an gebrochenem Herzen ſterben. — Sieht man wie Jeder
darauf immer gleich krampfhaft die Blicke richtet, man möchte
glauben, die ganze Welt drehe ſich um P .... und K ....!
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ich nämlich thatſächlich das Gefühl, ſeit ich deinen Aufſatz geleſen.
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[29/0045] Frau Gabor. — Weil du es nicht verſtehſt. Melchior. Das kannſt du nicht wiſſen, Mama. Ich fühle ſehr wohl, daß ich das Werk in ſeiner ganzen Erhabenheit zu erfaſſen noch nicht im Stande bin … Moritz. Wir leſen immer zu zweit; das erleichtert das Verſtändniß außerordentlich! Frau Gabor. Du biſt alt genug, Melchior, um wiſſen zu können, was dir zuträglich und was dir ſchädlich iſt. Thu, was du vor dir verantworten kannſt. Ich werde die Erſte ſein, die es dankbar anerkennt, wenn du mir niemals Grund giebſt, dir etwas vorenthalten zu müſſen. — Ich wollte dich nur darauf aufmerkſam machen, daß auch das Beſte nachtheilig wirken kann, wenn man noch die Reife nicht beſitzt, um es richtig aufzunehmen. — Ich werde mein Vertrauen immer lieber in dich als in irgend- beliebige erzieheriſche Maßregeln ſetzen. — — Wenn ihr noch etwas braucht, Kinder, dann komm herüber, Melchior, und rufe mich. Ich bin auf meinem Schlafzimmer. (Ab.) Moritz. — — Deine Mama meinte die Geſchichte mit Gretchen. Melchior. Haben wir uns auch nur einen Moment dabei aufgehalten! Moritz. Fauſt kann ſich nicht kaltblütiger darüber hin- weggeſetzt haben! Melchior. Das Kunſtwerk gipfelt doch ſchließlich nicht in dieſer Schändlichkeit! — Fauſt könnte dem Mädchen die Heirath verſprochen, könnte es daraufhin verlaſſen haben, er wäre in meinen Augen um kein Haar weniger ſtrafbar. Gretchen könnte ja meinethalben an gebrochenem Herzen ſterben. — Sieht man wie Jeder darauf immer gleich krampfhaft die Blicke richtet, man möchte glauben, die ganze Welt drehe ſich um P .... und K ....! Moritz. Wenn ich aufrichtig ſein ſoll, Melchior, ſo habe ich nämlich thatſächlich das Gefühl, ſeit ich deinen Aufſatz geleſen.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wedekind_erwachen_1891/45>, abgerufen am 20.04.2024.