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Walcker, Karl: Die Frauenbewegung. Straßburg, 1896.

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demokratie dürften ebenso fundamentale Meinungsverschiedenheiten
bestehen, wie unter den Männern dieser Richtung. Jnnerhalb des
Vereins "Frauenwohl" und des "Allgemeinen Deutschen Frauen-
vereins" giebt es bedeutsame Meinungsverschiedenheiten. Dasselbe
dürfte vom Lette-Verein und den übrigen Frauenvereinen gelten. Es
kommt nicht selten vor, daß in der Seele eines weiblichen oder
männlichen, besonnenen (oder überspannten) Jndividuums entgegen-
gesetzte Jdeen, Gefühle, Pflichten, Jnteressen mit einander kämpfen.

Jn volkswirtschaftlicher Beziehung kann man sechs Haupt-
richtungen unterscheiden: A. und B. Antisozialistinnen, freihändlerische
und schutzzöllnerische Anhängerinnen des privaten Grund- und Kapital-
eigentums. C. Halbsozialistinnen im Sinne H. George's oder anderer.
D. Sozialdemokratinnen. E. und F. Kommunistinnen und Anarchistinnen.

Jn politischer Beziehung kann man ebenfalls sechs Haupt-
richtungen unterscheiden: A. Ultrakonservative, Gegnerinnen jeder poli-
tischen Thätigkeit der Frauen. B. und C. Gemäßigte Konservative
und Liberale, welche eine solche Thätigkeit fordern, aber das Frauen-
stimmrecht verwerfen. Das ist z. B. der Standpunkt der oben S. 5
erwähnten 104 englischen Damen. Er wird nach Frau Bentzon
auch von den ausgezeichnetsten Damen Amerikas geteilt, praktisch
bethätigt. D. Halbradikale, welche in bedingter Weise für das Frauen-
stimmrecht eintreten, z. B. für ein Zensuswahlrecht. E. und F. Radi-
kale, nichtsozialistische und sozialistische Anhängerinnen des allgemeinen
gleichen Stimmrechts beider Geschlechter.

Die sogenannte Frauenbewegung des Deutschen Reiches
ist nicht die Bewegung der deutschen Frauen, als Gesamtheit, oder
große Mehrheit betrachtet, sondern nur die Bewegung einer winzigen
Minderheit
. Dieser Satz gilt sowohl von den sog. besitzenden
und gebildeten, wie von den sog. arbeitenden und ungebildeten Frauen.
Jn den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird die ungeheure
Mehrheit
der deutschen Frauen, zunächst der gebildeten Protestantinnen,
in die Frauenbewegung eintreten; und dann wird sich drastisch zeigen,
wie antiradikal, gemäßigt, konservativ, die ungeheure Mehrheit der
deutschen Damen war und ist. Vom Radikalismus wird man dann
beinahe mit einem Shakespeare'schen Titel sagen können: "Viel Lärm
um Nichts."



demokratie dürften ebenso fundamentale Meinungsverschiedenheiten
bestehen, wie unter den Männern dieser Richtung. Jnnerhalb des
Vereins „Frauenwohl“ und des „Allgemeinen Deutschen Frauen-
vereins“ giebt es bedeutsame Meinungsverschiedenheiten. Dasselbe
dürfte vom Lette-Verein und den übrigen Frauenvereinen gelten. Es
kommt nicht selten vor, daß in der Seele eines weiblichen oder
männlichen, besonnenen (oder überspannten) Jndividuums entgegen-
gesetzte Jdeen, Gefühle, Pflichten, Jnteressen mit einander kämpfen.

Jn volkswirtschaftlicher Beziehung kann man sechs Haupt-
richtungen unterscheiden: A. und B. Antisozialistinnen, freihändlerische
und schutzzöllnerische Anhängerinnen des privaten Grund- und Kapital-
eigentums. C. Halbsozialistinnen im Sinne H. George's oder anderer.
D. Sozialdemokratinnen. E. und F. Kommunistinnen und Anarchistinnen.

Jn politischer Beziehung kann man ebenfalls sechs Haupt-
richtungen unterscheiden: A. Ultrakonservative, Gegnerinnen jeder poli-
tischen Thätigkeit der Frauen. B. und C. Gemäßigte Konservative
und Liberale, welche eine solche Thätigkeit fordern, aber das Frauen-
stimmrecht verwerfen. Das ist z. B. der Standpunkt der oben S. 5
erwähnten 104 englischen Damen. Er wird nach Frau Bentzon
auch von den ausgezeichnetsten Damen Amerikas geteilt, praktisch
bethätigt. D. Halbradikale, welche in bedingter Weise für das Frauen-
stimmrecht eintreten, z. B. für ein Zensuswahlrecht. E. und F. Radi-
kale, nichtsozialistische und sozialistische Anhängerinnen des allgemeinen
gleichen Stimmrechts beider Geschlechter.

Die sogenannte Frauenbewegung des Deutschen Reiches
ist nicht die Bewegung der deutschen Frauen, als Gesamtheit, oder
große Mehrheit betrachtet, sondern nur die Bewegung einer winzigen
Minderheit
. Dieser Satz gilt sowohl von den sog. besitzenden
und gebildeten, wie von den sog. arbeitenden und ungebildeten Frauen.
Jn den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird die ungeheure
Mehrheit
der deutschen Frauen, zunächst der gebildeten Protestantinnen,
in die Frauenbewegung eintreten; und dann wird sich drastisch zeigen,
wie antiradikal, gemäßigt, konservativ, die ungeheure Mehrheit der
deutschen Damen war und ist. Vom Radikalismus wird man dann
beinahe mit einem Shakespeare'schen Titel sagen können: „Viel Lärm
um Nichts.“



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[12/0018] demokratie dürften ebenso fundamentale Meinungsverschiedenheiten bestehen, wie unter den Männern dieser Richtung. Jnnerhalb des Vereins „Frauenwohl“ und des „Allgemeinen Deutschen Frauen- vereins“ giebt es bedeutsame Meinungsverschiedenheiten. Dasselbe dürfte vom Lette-Verein und den übrigen Frauenvereinen gelten. Es kommt nicht selten vor, daß in der Seele eines weiblichen oder männlichen, besonnenen (oder überspannten) Jndividuums entgegen- gesetzte Jdeen, Gefühle, Pflichten, Jnteressen mit einander kämpfen. Jn volkswirtschaftlicher Beziehung kann man sechs Haupt- richtungen unterscheiden: A. und B. Antisozialistinnen, freihändlerische und schutzzöllnerische Anhängerinnen des privaten Grund- und Kapital- eigentums. C. Halbsozialistinnen im Sinne H. George's oder anderer. D. Sozialdemokratinnen. E. und F. Kommunistinnen und Anarchistinnen. Jn politischer Beziehung kann man ebenfalls sechs Haupt- richtungen unterscheiden: A. Ultrakonservative, Gegnerinnen jeder poli- tischen Thätigkeit der Frauen. B. und C. Gemäßigte Konservative und Liberale, welche eine solche Thätigkeit fordern, aber das Frauen- stimmrecht verwerfen. Das ist z. B. der Standpunkt der oben S. 5 erwähnten 104 englischen Damen. Er wird nach Frau Bentzon auch von den ausgezeichnetsten Damen Amerikas geteilt, praktisch bethätigt. D. Halbradikale, welche in bedingter Weise für das Frauen- stimmrecht eintreten, z. B. für ein Zensuswahlrecht. E. und F. Radi- kale, nichtsozialistische und sozialistische Anhängerinnen des allgemeinen gleichen Stimmrechts beider Geschlechter. Die sogenannte Frauenbewegung des Deutschen Reiches ist nicht die Bewegung der deutschen Frauen, als Gesamtheit, oder große Mehrheit betrachtet, sondern nur die Bewegung einer winzigen Minderheit. Dieser Satz gilt sowohl von den sog. besitzenden und gebildeten, wie von den sog. arbeitenden und ungebildeten Frauen. Jn den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird die ungeheure Mehrheit der deutschen Frauen, zunächst der gebildeten Protestantinnen, in die Frauenbewegung eintreten; und dann wird sich drastisch zeigen, wie antiradikal, gemäßigt, konservativ, die ungeheure Mehrheit der deutschen Damen war und ist. Vom Radikalismus wird man dann beinahe mit einem Shakespeare'schen Titel sagen können: „Viel Lärm um Nichts.“

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-04-09T14:25:10Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Walcker, Karl: Die Frauenbewegung. Straßburg, 1896, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/walcker_frauenbewegung_1896/18>, abgerufen am 29.03.2024.