Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

Bild:
<< vorherige Seite

vorhanden ist: was aber nicht aus einem wirklichen Be¬
dürfnisse hervorgeht, ist willkürlich, unbedingt, tyrannisch.
Die Mode ist deshalb die unerhörteste, wahnsinnigste
Tyrannei, die je aus der Verkehrtheit des menschlichen
Wesens hervorgegangen ist: sie fordert von der Natur ab¬
soluten Gehorsam; sie gebietet dem wirklichen Bedürfnisse
vollkommenste Selbstverleugnung zu Gunsten eines einge¬
bildeten; sie zwingt den natürlichen Schönheitssinn des
Menschen zur Anbetung des Häßlichen; sie tödtet seine
Gesundheit, um ihm Gefallen an der Krankheit beizu¬
bringen; sie zerbricht seine Stärke und Kraft, um ihn an
seiner Schwäche Behagen finden zu lassen. Wo die lächer¬
lichste Mode herrscht, da muß die Natur als das Lächer¬
lichste anerkannt werden; wo die verbrecherischeste Unnatur
herrscht, da muß die Aeußerung der Natur als das höchste
Verbrechen erscheinen; wo die Verrücktheit die Stelle der
Wahrheit einnimmt, da muß die Wahrheit als Verrückte
eingesperrt werden.

Das Wesen der Mode ist die absoluteste Einförmig¬
keit, wie ihr Gott ein egoistischer, geschlechtsloser, zeugungs¬
unfähiger ist; ihre Thätigkeit ist daher willkürliche Verän¬
derung, unnöthiger Wechsel, unruhiges, verwirrtes Stre¬
ben nach Gegensatz zu ihrem Wesen, eben dem der absolu¬
ten Einförmigkeit. Ihre Macht ist die Macht der Gewohn¬
heit. Die Gewohnheit aber ist der unüberwindliche

vorhanden iſt: was aber nicht aus einem wirklichen Be¬
dürfniſſe hervorgeht, iſt willkürlich, unbedingt, tyranniſch.
Die Mode iſt deshalb die unerhörteſte, wahnſinnigſte
Tyrannei, die je aus der Verkehrtheit des menſchlichen
Weſens hervorgegangen iſt: ſie fordert von der Natur ab¬
ſoluten Gehorſam; ſie gebietet dem wirklichen Bedürfniſſe
vollkommenſte Selbſtverleugnung zu Gunſten eines einge¬
bildeten; ſie zwingt den natürlichen Schönheitsſinn des
Menſchen zur Anbetung des Häßlichen; ſie tödtet ſeine
Geſundheit, um ihm Gefallen an der Krankheit beizu¬
bringen; ſie zerbricht ſeine Stärke und Kraft, um ihn an
ſeiner Schwäche Behagen finden zu laſſen. Wo die lächer¬
lichſte Mode herrſcht, da muß die Natur als das Lächer¬
lichſte anerkannt werden; wo die verbrecheriſcheſte Unnatur
herrſcht, da muß die Aeußerung der Natur als das höchſte
Verbrechen erſcheinen; wo die Verrücktheit die Stelle der
Wahrheit einnimmt, da muß die Wahrheit als Verrückte
eingeſperrt werden.

Das Weſen der Mode iſt die abſoluteſte Einförmig¬
keit, wie ihr Gott ein egoiſtiſcher, geſchlechtsloſer, zeugungs¬
unfähiger iſt; ihre Thätigkeit iſt daher willkürliche Verän¬
derung, unnöthiger Wechſel, unruhiges, verwirrtes Stre¬
ben nach Gegenſatz zu ihrem Weſen, eben dem der abſolu¬
ten Einförmigkeit. Ihre Macht iſt die Macht der Gewohn¬
heit. Die Gewohnheit aber iſt der unüberwindliche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0042" n="26"/>
vorhanden i&#x017F;t: was aber nicht aus einem wirklichen Be¬<lb/>
dürfni&#x017F;&#x017F;e hervorgeht, i&#x017F;t willkürlich, unbedingt, tyranni&#x017F;ch.<lb/>
Die Mode i&#x017F;t deshalb die unerhörte&#x017F;te, wahn&#x017F;innig&#x017F;te<lb/>
Tyrannei, die je aus der Verkehrtheit des men&#x017F;chlichen<lb/>
We&#x017F;ens hervorgegangen i&#x017F;t: &#x017F;ie fordert von der Natur ab¬<lb/>
&#x017F;oluten Gehor&#x017F;am; &#x017F;ie gebietet dem wirklichen Bedürfni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
vollkommen&#x017F;te Selb&#x017F;tverleugnung zu Gun&#x017F;ten eines einge¬<lb/>
bildeten; &#x017F;ie zwingt den natürlichen Schönheits&#x017F;inn des<lb/>
Men&#x017F;chen zur Anbetung des Häßlichen; &#x017F;ie tödtet &#x017F;eine<lb/>
Ge&#x017F;undheit, um ihm Gefallen an der Krankheit beizu¬<lb/>
bringen; &#x017F;ie zerbricht &#x017F;eine Stärke und Kraft, um ihn an<lb/>
&#x017F;einer Schwäche Behagen finden zu la&#x017F;&#x017F;en. Wo die lächer¬<lb/>
lich&#x017F;te Mode herr&#x017F;cht, da muß die Natur als das Lächer¬<lb/>
lich&#x017F;te anerkannt werden; wo die verbrecheri&#x017F;che&#x017F;te Unnatur<lb/>
herr&#x017F;cht, da muß die Aeußerung der Natur als das höch&#x017F;te<lb/>
Verbrechen er&#x017F;cheinen; wo die Verrücktheit die Stelle der<lb/>
Wahrheit einnimmt, da muß die Wahrheit als Verrückte<lb/>
einge&#x017F;perrt werden.</p><lb/>
          <p>Das We&#x017F;en der Mode i&#x017F;t die ab&#x017F;olute&#x017F;te Einförmig¬<lb/>
keit, wie ihr Gott ein egoi&#x017F;ti&#x017F;cher, ge&#x017F;chlechtslo&#x017F;er, zeugungs¬<lb/>
unfähiger i&#x017F;t; ihre Thätigkeit i&#x017F;t daher willkürliche Verän¬<lb/>
derung, unnöthiger Wech&#x017F;el, unruhiges, verwirrtes Stre¬<lb/>
ben nach Gegen&#x017F;atz zu ihrem We&#x017F;en, eben dem der ab&#x017F;olu¬<lb/>
ten Einförmigkeit. Ihre Macht i&#x017F;t die Macht der Gewohn¬<lb/>
heit. Die <hi rendition="#g">Gewohnheit</hi> aber i&#x017F;t der unüberwindliche<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0042] vorhanden iſt: was aber nicht aus einem wirklichen Be¬ dürfniſſe hervorgeht, iſt willkürlich, unbedingt, tyranniſch. Die Mode iſt deshalb die unerhörteſte, wahnſinnigſte Tyrannei, die je aus der Verkehrtheit des menſchlichen Weſens hervorgegangen iſt: ſie fordert von der Natur ab¬ ſoluten Gehorſam; ſie gebietet dem wirklichen Bedürfniſſe vollkommenſte Selbſtverleugnung zu Gunſten eines einge¬ bildeten; ſie zwingt den natürlichen Schönheitsſinn des Menſchen zur Anbetung des Häßlichen; ſie tödtet ſeine Geſundheit, um ihm Gefallen an der Krankheit beizu¬ bringen; ſie zerbricht ſeine Stärke und Kraft, um ihn an ſeiner Schwäche Behagen finden zu laſſen. Wo die lächer¬ lichſte Mode herrſcht, da muß die Natur als das Lächer¬ lichſte anerkannt werden; wo die verbrecheriſcheſte Unnatur herrſcht, da muß die Aeußerung der Natur als das höchſte Verbrechen erſcheinen; wo die Verrücktheit die Stelle der Wahrheit einnimmt, da muß die Wahrheit als Verrückte eingeſperrt werden. Das Weſen der Mode iſt die abſoluteſte Einförmig¬ keit, wie ihr Gott ein egoiſtiſcher, geſchlechtsloſer, zeugungs¬ unfähiger iſt; ihre Thätigkeit iſt daher willkürliche Verän¬ derung, unnöthiger Wechſel, unruhiges, verwirrtes Stre¬ ben nach Gegenſatz zu ihrem Weſen, eben dem der abſolu¬ ten Einförmigkeit. Ihre Macht iſt die Macht der Gewohn¬ heit. Die Gewohnheit aber iſt der unüberwindliche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/42
Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/42>, abgerufen am 25.04.2024.