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Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851.

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Oberfläche ihres Körpers oder an bestimmten Stellen solche Wimpern,
durch deren Hilfe sie nach Willkühr in dem Wasser umherschwimmen; --
andere besitzen einen oder mehrere peitschenförmige Anhänge, mittelst
deren sie im Wasser umherrudern. Man glaubte, daß diese Bewe-
gungsorgane den Keimkörnern der Wasserfäden abgingen und hielt
ihre Anwesenheit deshalb für ein charakteristisches Kennzeichen des thie-
rischen Organismus. Man hatte sich auch in diesem Punkte getäuscht.
Man entdeckte Keimkörner, welche auf ihrer ganzen Oberfläche einen
flimmernden Ueberzug oder einen Kranz von Wimperhaaren besaßen; man
fand andere, die mittelst peitschenförmiger Anhänge lustig im Wasser
umherschwammen. Auch dieses Unterscheidungszeichen war vernichtet.

Die Empfindung äußerer Eindrücke, sagte man, steht
nur dem Thiere zu; die Pflanze besitzt keine Sensibilität. Wir wollen
zugeben, daß die seltsamen Bewegungen der Sinnpflanzen keinen Beweis
dafür abgeben, daß sie Resultate von Empfindungen seien, wir wollen
selbst zugeben, daß wirklich der pflanzliche Organismus nicht empfindet,
wohl aber der thierische; wir wollen anerkennen, daß dieser Unterschied
theoretisch festgehalten werden dürfe, aber man wird uns dafür zugeben
müssen, daß er durch die Beobachtung nicht nachgewiesen werden könne.
Es gibt kein anderes Maß für die Größe der Empfindung eines außer uns
stehenden Wesens, als die Reaktion des empfindenden Organismus durch
Bewegung. Einen Körper, der sich auf Reize nicht bewegt, seinen
Schmerz nicht zu erkennen gibt, halten wir für empfindungslos. Wo
wir freilich Sinnesorgane zur Aufnahme äußerer Eindrücke wahrneh-
men, da schließen wir nothwendig auch auf empfindende Fähigkeit.
Aber die rothen Fleckchen, welche man bei vielen Infusionsthierchen
vollkommen unbegründeterweise für Augen hielt, hat man auch an
vielen Keimkörnern mit Sicherheit nachgewiesen. Viele Infusionsthier-
chen aber, sogar solche, welche durch die Existenz eines Mundes ihre
Thiernatur unzweifelhaft bekunden, zeigen auf äußere Reize nicht die
mindeste Spur von Reaction, so daß uns vollkommen der thatsächliche
Nachweis ihrer Empfindlichkeit abgeht. Erschütterungen, plötzliche
Lichteindrücke, heftiger Schall, Zusammenpressen und Quetschen und
ähnliche solcher Eindrücke gehen an diesen Thieren spurlos vorüber; --
wie soll man nun bei dieser Stumpfheit der Empfindung und Bewe-
gung die Gränze ziehen, wo beide aufhören?

So wäre es denn völlig unmöglich in den niedrigsten Stufen
der Organisation eine Scheidelinie zwischen thierischen und pflanzlichen
Wesen zu finden? Fast will es so scheinen! Doch ist uns noch ein
Merkmal geblieben, wenn auch ein gar schwaches und vielleicht in

Oberfläche ihres Körpers oder an beſtimmten Stellen ſolche Wimpern,
durch deren Hilfe ſie nach Willkühr in dem Waſſer umherſchwimmen; —
andere beſitzen einen oder mehrere peitſchenförmige Anhänge, mittelſt
deren ſie im Waſſer umherrudern. Man glaubte, daß dieſe Bewe-
gungsorgane den Keimkörnern der Waſſerfäden abgingen und hielt
ihre Anweſenheit deshalb für ein charakteriſtiſches Kennzeichen des thie-
riſchen Organismus. Man hatte ſich auch in dieſem Punkte getäuſcht.
Man entdeckte Keimkörner, welche auf ihrer ganzen Oberfläche einen
flimmernden Ueberzug oder einen Kranz von Wimperhaaren beſaßen; man
fand andere, die mittelſt peitſchenförmiger Anhänge luſtig im Waſſer
umherſchwammen. Auch dieſes Unterſcheidungszeichen war vernichtet.

Die Empfindung äußerer Eindrücke, ſagte man, ſteht
nur dem Thiere zu; die Pflanze beſitzt keine Senſibilität. Wir wollen
zugeben, daß die ſeltſamen Bewegungen der Sinnpflanzen keinen Beweis
dafür abgeben, daß ſie Reſultate von Empfindungen ſeien, wir wollen
ſelbſt zugeben, daß wirklich der pflanzliche Organismus nicht empfindet,
wohl aber der thieriſche; wir wollen anerkennen, daß dieſer Unterſchied
theoretiſch feſtgehalten werden dürfe, aber man wird uns dafür zugeben
müſſen, daß er durch die Beobachtung nicht nachgewieſen werden könne.
Es gibt kein anderes Maß für die Größe der Empfindung eines außer uns
ſtehenden Weſens, als die Reaktion des empfindenden Organismus durch
Bewegung. Einen Körper, der ſich auf Reize nicht bewegt, ſeinen
Schmerz nicht zu erkennen gibt, halten wir für empfindungslos. Wo
wir freilich Sinnesorgane zur Aufnahme äußerer Eindrücke wahrneh-
men, da ſchließen wir nothwendig auch auf empfindende Fähigkeit.
Aber die rothen Fleckchen, welche man bei vielen Infuſionsthierchen
vollkommen unbegründeterweiſe für Augen hielt, hat man auch an
vielen Keimkörnern mit Sicherheit nachgewieſen. Viele Infuſionsthier-
chen aber, ſogar ſolche, welche durch die Exiſtenz eines Mundes ihre
Thiernatur unzweifelhaft bekunden, zeigen auf äußere Reize nicht die
mindeſte Spur von Reaction, ſo daß uns vollkommen der thatſächliche
Nachweis ihrer Empfindlichkeit abgeht. Erſchütterungen, plötzliche
Lichteindrücke, heftiger Schall, Zuſammenpreſſen und Quetſchen und
ähnliche ſolcher Eindrücke gehen an dieſen Thieren ſpurlos vorüber; —
wie ſoll man nun bei dieſer Stumpfheit der Empfindung und Bewe-
gung die Gränze ziehen, wo beide aufhören?

So wäre es denn völlig unmöglich in den niedrigſten Stufen
der Organiſation eine Scheidelinie zwiſchen thieriſchen und pflanzlichen
Weſen zu finden? Faſt will es ſo ſcheinen! Doch iſt uns noch ein
Merkmal geblieben, wenn auch ein gar ſchwaches und vielleicht in

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[34/0040] Oberfläche ihres Körpers oder an beſtimmten Stellen ſolche Wimpern, durch deren Hilfe ſie nach Willkühr in dem Waſſer umherſchwimmen; — andere beſitzen einen oder mehrere peitſchenförmige Anhänge, mittelſt deren ſie im Waſſer umherrudern. Man glaubte, daß dieſe Bewe- gungsorgane den Keimkörnern der Waſſerfäden abgingen und hielt ihre Anweſenheit deshalb für ein charakteriſtiſches Kennzeichen des thie- riſchen Organismus. Man hatte ſich auch in dieſem Punkte getäuſcht. Man entdeckte Keimkörner, welche auf ihrer ganzen Oberfläche einen flimmernden Ueberzug oder einen Kranz von Wimperhaaren beſaßen; man fand andere, die mittelſt peitſchenförmiger Anhänge luſtig im Waſſer umherſchwammen. Auch dieſes Unterſcheidungszeichen war vernichtet. Die Empfindung äußerer Eindrücke, ſagte man, ſteht nur dem Thiere zu; die Pflanze beſitzt keine Senſibilität. Wir wollen zugeben, daß die ſeltſamen Bewegungen der Sinnpflanzen keinen Beweis dafür abgeben, daß ſie Reſultate von Empfindungen ſeien, wir wollen ſelbſt zugeben, daß wirklich der pflanzliche Organismus nicht empfindet, wohl aber der thieriſche; wir wollen anerkennen, daß dieſer Unterſchied theoretiſch feſtgehalten werden dürfe, aber man wird uns dafür zugeben müſſen, daß er durch die Beobachtung nicht nachgewieſen werden könne. Es gibt kein anderes Maß für die Größe der Empfindung eines außer uns ſtehenden Weſens, als die Reaktion des empfindenden Organismus durch Bewegung. Einen Körper, der ſich auf Reize nicht bewegt, ſeinen Schmerz nicht zu erkennen gibt, halten wir für empfindungslos. Wo wir freilich Sinnesorgane zur Aufnahme äußerer Eindrücke wahrneh- men, da ſchließen wir nothwendig auch auf empfindende Fähigkeit. Aber die rothen Fleckchen, welche man bei vielen Infuſionsthierchen vollkommen unbegründeterweiſe für Augen hielt, hat man auch an vielen Keimkörnern mit Sicherheit nachgewieſen. Viele Infuſionsthier- chen aber, ſogar ſolche, welche durch die Exiſtenz eines Mundes ihre Thiernatur unzweifelhaft bekunden, zeigen auf äußere Reize nicht die mindeſte Spur von Reaction, ſo daß uns vollkommen der thatſächliche Nachweis ihrer Empfindlichkeit abgeht. Erſchütterungen, plötzliche Lichteindrücke, heftiger Schall, Zuſammenpreſſen und Quetſchen und ähnliche ſolcher Eindrücke gehen an dieſen Thieren ſpurlos vorüber; — wie ſoll man nun bei dieſer Stumpfheit der Empfindung und Bewe- gung die Gränze ziehen, wo beide aufhören? So wäre es denn völlig unmöglich in den niedrigſten Stufen der Organiſation eine Scheidelinie zwiſchen thieriſchen und pflanzlichen Weſen zu finden? Faſt will es ſo ſcheinen! Doch iſt uns noch ein Merkmal geblieben, wenn auch ein gar ſchwaches und vielleicht in

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Zitationshilfe: Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_briefe01_1851/40>, abgerufen am 25.04.2024.