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Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851.

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ganz auf dieselbe Weise vor sich wie bei vielen niedern Pflanzen,
welche sich im Wasser bilden.

Man glaubte die freie Beweglichkeit der Thiere sei ein cha-
rakteristisches Kennzeichen. Viele von ihnen sind zwar gänzlich oder
während der größten Zeit ihres Lebens in ähnlicher Weise wie viele
Pflanzen an den Boden festgeheftet, aber selbst diese festsitzenden Thiere,
die besonders im Meere häufig vorkommen, öffnen und schließen sich,
breiten ihre Fangorgane aus und erhaschen die Beute, welche in ihre
Nähe kommt. Man glaubte also in der freiwilligen Bewegung ein
sicheres Merkmal gefunden zu haben und bis vor wenigen Jahren
hatte man nach dem damaligen Stande der Kenntnisse vollkommen
Recht, wenn man sagte, ein Thier sei ein abgeschlossener Organismus,
welcher sich willkührlich bewege. Bald aber mußte man erkennen, daß
es eine Anzahl niederer Pflanzen gebe, besonders Wasserfäden (Con-
ferven
) deren Keimkörner oder Sporen sich vollkommen ebenso be-
wegten, wie kleine Infusionsthierchen. Man sah, wie im Innern die-

[Abbildung] Fig. 4 Fig. 5 Fig. 6
Fig. 7 Fig. 3

Wasserfäden mit daraus entstehenden beweglichen
Keimkörnern (Sporen).
In dem unteren Faden Fig. 3 sieht man
bei a die Sporen mit ihren rothen Kernen,
die sich isoliren, bei Fig. 4 eine freigewor-
dene Spore mit ihrem Kern b und ihren
Bewegungsfäden c; bei 5 eine Spore die
zu keimen beginnt, bei 6 eine, die schon eine
zweite Zelle getrieben hat. Fig. 7 ist eine ge-
panzerte Spore von einer andern Gattung,
die ebenfalls früher für ein Thier gehalten
und Disceraea genannt wurde.

ser Wasserfäden (Fig. 3.) sich grüne
Keimkörner bildeten, die nach einer
gewissen Zeit hervorbrachen und sich
in solcher Weise in dem Wasser
umhertummelten, daß jeder unbe-
fangene Beobachter ihre Bewegun-
gen unbedingt für willkührliche hal-
ten mußte. Nur ausdauernde, stun-
denlange Beobachtung konnte über-
zeugen, daß diese Keimkörner nach
einiger Zeit sich festsetzten und nach
und nach zu wirklichen Wasserfäden
auswuchsen. Während der Zeit ih-
rer Beweglichkeit verhalten sich diese
Keimkörner vollkommen wie lebende
Infusionsthierchen; -- sie wälzen
sich nach allen Richtungen rasch im
Wasser herum, bewegen sich vor-
wärts, halten zuweilen einen Augenblick still, schnellen plötzlich wie
krampfhaft zurück um dann auf's Neue wieder vorwärts zu schie-
ßen, kurz benehmen sich in Allem, wie Wesen, denen Empfindung
und willkührliche Bewegung zukömmt; auch standen manche Be-
obachter durchaus nicht an in Folge dieser Thatsachen zu behaupten,
es gebe keine Grenzlinie zwischen Thier und Pflanze und die niedern

ganz auf dieſelbe Weiſe vor ſich wie bei vielen niedern Pflanzen,
welche ſich im Waſſer bilden.

Man glaubte die freie Beweglichkeit der Thiere ſei ein cha-
rakteriſtiſches Kennzeichen. Viele von ihnen ſind zwar gänzlich oder
während der größten Zeit ihres Lebens in ähnlicher Weiſe wie viele
Pflanzen an den Boden feſtgeheftet, aber ſelbſt dieſe feſtſitzenden Thiere,
die beſonders im Meere häufig vorkommen, öffnen und ſchließen ſich,
breiten ihre Fangorgane aus und erhaſchen die Beute, welche in ihre
Nähe kommt. Man glaubte alſo in der freiwilligen Bewegung ein
ſicheres Merkmal gefunden zu haben und bis vor wenigen Jahren
hatte man nach dem damaligen Stande der Kenntniſſe vollkommen
Recht, wenn man ſagte, ein Thier ſei ein abgeſchloſſener Organismus,
welcher ſich willkührlich bewege. Bald aber mußte man erkennen, daß
es eine Anzahl niederer Pflanzen gebe, beſonders Waſſerfäden (Con-
ferven
) deren Keimkörner oder Sporen ſich vollkommen ebenſo be-
wegten, wie kleine Infuſionsthierchen. Man ſah, wie im Innern die-

[Abbildung] Fig. 4 Fig. 5 Fig. 6
Fig. 7 Fig. 3

Waſſerfäden mit daraus entſtehenden beweglichen
Keimkörnern (Sporen).
In dem unteren Faden Fig. 3 ſieht man
bei a die Sporen mit ihren rothen Kernen,
die ſich iſoliren, bei Fig. 4 eine freigewor-
dene Spore mit ihrem Kern b und ihren
Bewegungsfäden c; bei 5 eine Spore die
zu keimen beginnt, bei 6 eine, die ſchon eine
zweite Zelle getrieben hat. Fig. 7 iſt eine ge-
panzerte Spore von einer andern Gattung,
die ebenfalls früher für ein Thier gehalten
und Disceraea genannt wurde.

ſer Waſſerfäden (Fig. 3.) ſich grüne
Keimkörner bildeten, die nach einer
gewiſſen Zeit hervorbrachen und ſich
in ſolcher Weiſe in dem Waſſer
umhertummelten, daß jeder unbe-
fangene Beobachter ihre Bewegun-
gen unbedingt für willkührliche hal-
ten mußte. Nur ausdauernde, ſtun-
denlange Beobachtung konnte über-
zeugen, daß dieſe Keimkörner nach
einiger Zeit ſich feſtſetzten und nach
und nach zu wirklichen Waſſerfäden
auswuchſen. Während der Zeit ih-
rer Beweglichkeit verhalten ſich dieſe
Keimkörner vollkommen wie lebende
Infuſionsthierchen; — ſie wälzen
ſich nach allen Richtungen raſch im
Waſſer herum, bewegen ſich vor-
wärts, halten zuweilen einen Augenblick ſtill, ſchnellen plötzlich wie
krampfhaft zurück um dann auf’s Neue wieder vorwärts zu ſchie-
ßen, kurz benehmen ſich in Allem, wie Weſen, denen Empfindung
und willkührliche Bewegung zukömmt; auch ſtanden manche Be-
obachter durchaus nicht an in Folge dieſer Thatſachen zu behaupten,
es gebe keine Grenzlinie zwiſchen Thier und Pflanze und die niedern

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[32/0038] ganz auf dieſelbe Weiſe vor ſich wie bei vielen niedern Pflanzen, welche ſich im Waſſer bilden. Man glaubte die freie Beweglichkeit der Thiere ſei ein cha- rakteriſtiſches Kennzeichen. Viele von ihnen ſind zwar gänzlich oder während der größten Zeit ihres Lebens in ähnlicher Weiſe wie viele Pflanzen an den Boden feſtgeheftet, aber ſelbſt dieſe feſtſitzenden Thiere, die beſonders im Meere häufig vorkommen, öffnen und ſchließen ſich, breiten ihre Fangorgane aus und erhaſchen die Beute, welche in ihre Nähe kommt. Man glaubte alſo in der freiwilligen Bewegung ein ſicheres Merkmal gefunden zu haben und bis vor wenigen Jahren hatte man nach dem damaligen Stande der Kenntniſſe vollkommen Recht, wenn man ſagte, ein Thier ſei ein abgeſchloſſener Organismus, welcher ſich willkührlich bewege. Bald aber mußte man erkennen, daß es eine Anzahl niederer Pflanzen gebe, beſonders Waſſerfäden (Con- ferven) deren Keimkörner oder Sporen ſich vollkommen ebenſo be- wegten, wie kleine Infuſionsthierchen. Man ſah, wie im Innern die- [Abbildung Fig. 4 Fig. 5 Fig. 6 Fig. 7 Fig. 3 Waſſerfäden mit daraus entſtehenden beweglichen Keimkörnern (Sporen). In dem unteren Faden Fig. 3 ſieht man bei a die Sporen mit ihren rothen Kernen, die ſich iſoliren, bei Fig. 4 eine freigewor- dene Spore mit ihrem Kern b und ihren Bewegungsfäden c; bei 5 eine Spore die zu keimen beginnt, bei 6 eine, die ſchon eine zweite Zelle getrieben hat. Fig. 7 iſt eine ge- panzerte Spore von einer andern Gattung, die ebenfalls früher für ein Thier gehalten und Disceraea genannt wurde.] ſer Waſſerfäden (Fig. 3.) ſich grüne Keimkörner bildeten, die nach einer gewiſſen Zeit hervorbrachen und ſich in ſolcher Weiſe in dem Waſſer umhertummelten, daß jeder unbe- fangene Beobachter ihre Bewegun- gen unbedingt für willkührliche hal- ten mußte. Nur ausdauernde, ſtun- denlange Beobachtung konnte über- zeugen, daß dieſe Keimkörner nach einiger Zeit ſich feſtſetzten und nach und nach zu wirklichen Waſſerfäden auswuchſen. Während der Zeit ih- rer Beweglichkeit verhalten ſich dieſe Keimkörner vollkommen wie lebende Infuſionsthierchen; — ſie wälzen ſich nach allen Richtungen raſch im Waſſer herum, bewegen ſich vor- wärts, halten zuweilen einen Augenblick ſtill, ſchnellen plötzlich wie krampfhaft zurück um dann auf’s Neue wieder vorwärts zu ſchie- ßen, kurz benehmen ſich in Allem, wie Weſen, denen Empfindung und willkührliche Bewegung zukömmt; auch ſtanden manche Be- obachter durchaus nicht an in Folge dieſer Thatſachen zu behaupten, es gebe keine Grenzlinie zwiſchen Thier und Pflanze und die niedern

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Zitationshilfe: Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_briefe01_1851/38>, abgerufen am 25.04.2024.