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Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851.

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Dritter Brief.
Der Thierleib; der Aufbau seiner Organe.


Was ist ein Thier? Wodurch unterscheidet es sich von der
Pflanze?

Eine unnöthige Frage! wird Mancher antworten und die Meisten
werden ihm Recht geben. Wie ist es möglich einen Baum und einen
Hund, ein Gras und eine Raupe mit einander zu verwechseln? Das
Eine bewegt sich willkührlich und frei aus innerem Antriebe, nimmt
Nahrung zu sich, die es aufsucht und durch eine offene Mündung ein-
führt, das Andere ist an den Boden gefesselt, zeigt weder Empfindung
noch willkührliche Bewegung und läßt die Aufnahme der Nahrungs-
stoffe, aus welchen es sich aufbaut, nicht unmittelbar erkennen. In
dem Thierorganismus eine große Anzahl mannigfach gebildeter Organe,
die den einzelnen Funktionen vorstehen; in der Pflanze die complicir-
testen äußern Bildungen und im Innern ein mehr homogenes Gewebe,
dessen charakteristische Eigenthümlichkeiten erst das Mikroskop darlegen
kann. Es scheint eben so unnöthig den Begriff des Wortes Thier oder
Pflanze festzustellen, als zu beweisen, daß zwei mal zwei vier macht.

Stellt man aber dieselbe Frage an den Forscher, welcher tiefer
eingedrungen ist und sich namentlich mit den niedern Pflanzen und
Thierclassen beschäftigt hat, so wird er bedenklich das Haupt schütteln
und gestehen müssen, daß es kaum möglich sei eine befriedigende Ant-
wort zu geben und die Grenze zwischen Thier und Pflanze mit Sicher-
heit zu legen. Ein Merkmal nach dem andern verschwindet, je tiefer
man in die einfachsten Formen des Thier- und Pflanzenreiches hinab-
steigt; -- was uns kaum noch einen sichern Halt gewährte, muß im
nächsten Augenblicke als unzureichend erkannt werden und ohne voll-
kommene Sicherheit befinden wir uns endlich einer Gruppe von Or-
ganismen gegenüber, welche hier von dem Botaniker, dort von dem
Zoologen als sein ihm rechtmäßig zustehendes Eigenthum beansprucht
wird. Der Streit ist nicht neu und beginnt stets von Neuem wieder,
denn sobald ein zweifelhafter Gegenstand erledigt und mit anscheinender
Gewißheit an seinen Platz in dem einen oder andern Reiche gestellt
ist, tauchen wieder über ein neues Object erneute Zweifel auf. Bis
in die Mitte des vorigen Jahrhundert's hielt man die Korallen ihrer
äußern Gestalt wegen für Pflanzen. Ein Italienischer Forscher hatte

Dritter Brief.
Der Thierleib; der Aufbau ſeiner Organe.


Was iſt ein Thier? Wodurch unterſcheidet es ſich von der
Pflanze?

Eine unnöthige Frage! wird Mancher antworten und die Meiſten
werden ihm Recht geben. Wie iſt es möglich einen Baum und einen
Hund, ein Gras und eine Raupe mit einander zu verwechſeln? Das
Eine bewegt ſich willkührlich und frei aus innerem Antriebe, nimmt
Nahrung zu ſich, die es aufſucht und durch eine offene Mündung ein-
führt, das Andere iſt an den Boden gefeſſelt, zeigt weder Empfindung
noch willkührliche Bewegung und läßt die Aufnahme der Nahrungs-
ſtoffe, aus welchen es ſich aufbaut, nicht unmittelbar erkennen. In
dem Thierorganismus eine große Anzahl mannigfach gebildeter Organe,
die den einzelnen Funktionen vorſtehen; in der Pflanze die complicir-
teſten äußern Bildungen und im Innern ein mehr homogenes Gewebe,
deſſen charakteriſtiſche Eigenthümlichkeiten erſt das Mikroskop darlegen
kann. Es ſcheint eben ſo unnöthig den Begriff des Wortes Thier oder
Pflanze feſtzuſtellen, als zu beweiſen, daß zwei mal zwei vier macht.

Stellt man aber dieſelbe Frage an den Forſcher, welcher tiefer
eingedrungen iſt und ſich namentlich mit den niedern Pflanzen und
Thierclaſſen beſchäftigt hat, ſo wird er bedenklich das Haupt ſchütteln
und geſtehen müſſen, daß es kaum möglich ſei eine befriedigende Ant-
wort zu geben und die Grenze zwiſchen Thier und Pflanze mit Sicher-
heit zu legen. Ein Merkmal nach dem andern verſchwindet, je tiefer
man in die einfachſten Formen des Thier- und Pflanzenreiches hinab-
ſteigt; — was uns kaum noch einen ſichern Halt gewährte, muß im
nächſten Augenblicke als unzureichend erkannt werden und ohne voll-
kommene Sicherheit befinden wir uns endlich einer Gruppe von Or-
ganismen gegenüber, welche hier von dem Botaniker, dort von dem
Zoologen als ſein ihm rechtmäßig zuſtehendes Eigenthum beanſprucht
wird. Der Streit iſt nicht neu und beginnt ſtets von Neuem wieder,
denn ſobald ein zweifelhafter Gegenſtand erledigt und mit anſcheinender
Gewißheit an ſeinen Platz in dem einen oder andern Reiche geſtellt
iſt, tauchen wieder über ein neues Object erneute Zweifel auf. Bis
in die Mitte des vorigen Jahrhundert’s hielt man die Korallen ihrer
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[30/0036] Dritter Brief. Der Thierleib; der Aufbau ſeiner Organe. Was iſt ein Thier? Wodurch unterſcheidet es ſich von der Pflanze? Eine unnöthige Frage! wird Mancher antworten und die Meiſten werden ihm Recht geben. Wie iſt es möglich einen Baum und einen Hund, ein Gras und eine Raupe mit einander zu verwechſeln? Das Eine bewegt ſich willkührlich und frei aus innerem Antriebe, nimmt Nahrung zu ſich, die es aufſucht und durch eine offene Mündung ein- führt, das Andere iſt an den Boden gefeſſelt, zeigt weder Empfindung noch willkührliche Bewegung und läßt die Aufnahme der Nahrungs- ſtoffe, aus welchen es ſich aufbaut, nicht unmittelbar erkennen. In dem Thierorganismus eine große Anzahl mannigfach gebildeter Organe, die den einzelnen Funktionen vorſtehen; in der Pflanze die complicir- teſten äußern Bildungen und im Innern ein mehr homogenes Gewebe, deſſen charakteriſtiſche Eigenthümlichkeiten erſt das Mikroskop darlegen kann. Es ſcheint eben ſo unnöthig den Begriff des Wortes Thier oder Pflanze feſtzuſtellen, als zu beweiſen, daß zwei mal zwei vier macht. Stellt man aber dieſelbe Frage an den Forſcher, welcher tiefer eingedrungen iſt und ſich namentlich mit den niedern Pflanzen und Thierclaſſen beſchäftigt hat, ſo wird er bedenklich das Haupt ſchütteln und geſtehen müſſen, daß es kaum möglich ſei eine befriedigende Ant- wort zu geben und die Grenze zwiſchen Thier und Pflanze mit Sicher- heit zu legen. Ein Merkmal nach dem andern verſchwindet, je tiefer man in die einfachſten Formen des Thier- und Pflanzenreiches hinab- ſteigt; — was uns kaum noch einen ſichern Halt gewährte, muß im nächſten Augenblicke als unzureichend erkannt werden und ohne voll- kommene Sicherheit befinden wir uns endlich einer Gruppe von Or- ganismen gegenüber, welche hier von dem Botaniker, dort von dem Zoologen als ſein ihm rechtmäßig zuſtehendes Eigenthum beanſprucht wird. Der Streit iſt nicht neu und beginnt ſtets von Neuem wieder, denn ſobald ein zweifelhafter Gegenſtand erledigt und mit anſcheinender Gewißheit an ſeinen Platz in dem einen oder andern Reiche geſtellt iſt, tauchen wieder über ein neues Object erneute Zweifel auf. Bis in die Mitte des vorigen Jahrhundert’s hielt man die Korallen ihrer äußern Geſtalt wegen für Pflanzen. Ein Italieniſcher Forſcher hatte

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Zitationshilfe: Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_briefe01_1851/36>, abgerufen am 29.03.2024.