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Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851.

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daß die gegenseitige Kritik die Beobachtungen sichtete und ihren that-
sächlichen Werth feststellte.

Wir sind mit diesem Kampfe in die neuere Zeit hinübergetreten.
Die letzten Nachklänge desselben hallen noch hie und da wieder; ver-
einzelt trifft man noch zuweilen Ruinen aus der naturphilosophischen
Schule, welche die Natur in die engen Schranken ihres Kopfes zwän-
gen möchten. Die thatsächliche Richtung hat offenbar den Sieg davon-
getragen und es ist nicht zu läugnen, daß die wesentlichsten Fortschritte
der Wissenschaft hauptsächlich auf ihr beruhen. Die Classification, das
Systemmachen, obgleich noch hie und da eifrig gepflegt, steht im Hin-
tergrunde; -- man hat eingesehen, daß jede Classification theils nur
ein Mittel ist, unsere Kenntnisse übersichtlich zu ordnen und sich in
dem Labyrinthe zurecht zu finden, theils auch wieder ein Ausdruck
dieser Kenntnisse, in welchem die vergleichende Beobachtung ihre Re-
sultate kund gibt. Der Forscher, der neue Seiten einem beobachteten
Körper abgewinnt, drückt dieselben gleichsam im Lapidarstyl durch
Veränderung des Systems an der betreffenden Stelle aus, und wäh-
rend so das Gebäude im Ganzen seit Cuvier's Zeiten dasselbe geblieben
ist, so dürfte kaum eine Stelle zu finden sein, die nicht mehr oder
minder durchgreifend verändert worden wäre.

Als Ausläufer des Kampfes zwischen der naturphilosophischen und
realistischen Richtung stellt sich in der systematischen Zoologie wesentlich
die verschiedenartige Tendenz der Gruppirung dar. Die Einen behaup-
ten, das Thierreich bilde eine lange und ununterbrochene Reihe, nach ein-
heitlichem Plane gebaut, wo immer ein Wesen vollkommener sei als das
andere, so daß von den niedrigsten Infusionsthierchen bis zu dem
Menschen eine Kette aus zusammenhängenden Gliedern sich fortziehe.
Derselbe gemeinsame Plan der Organisation liege dem Baue aller
thierischen Organismen zu Grunde, und je nach der Entwickelung der
einzelnen Organe, aus welchen der Thierleib zusammengesetzt sei, könne
man die Rangstufe bestimmen, auf welche jeder Organismus gestellt
werden müsse.

Andere behaupten, dem Baue der Thiere liegen im Gegentheil
mehre verschiedene Urplane zum Grunde. Es sei zwar vollkommen
richtig, daß in kleinen Gruppen, welche nach demselben Typus gebaut
seien, sich auch eine Ueberordnung, eine allmählige Vervollkommnung
erkennen lasse, für das Ganze sei dies aber nicht richtig, indem jeder
Typus sich zu einer eigenthümlichen Stufe der Vollkommenheit erhebe
und von seinem Gipfelpunkte aus kein Uebergangspunkt zu der Grund-

daß die gegenſeitige Kritik die Beobachtungen ſichtete und ihren that-
ſächlichen Werth feſtſtellte.

Wir ſind mit dieſem Kampfe in die neuere Zeit hinübergetreten.
Die letzten Nachklänge deſſelben hallen noch hie und da wieder; ver-
einzelt trifft man noch zuweilen Ruinen aus der naturphiloſophiſchen
Schule, welche die Natur in die engen Schranken ihres Kopfes zwän-
gen möchten. Die thatſächliche Richtung hat offenbar den Sieg davon-
getragen und es iſt nicht zu läugnen, daß die weſentlichſten Fortſchritte
der Wiſſenſchaft hauptſächlich auf ihr beruhen. Die Claſſification, das
Syſtemmachen, obgleich noch hie und da eifrig gepflegt, ſteht im Hin-
tergrunde; — man hat eingeſehen, daß jede Claſſification theils nur
ein Mittel iſt, unſere Kenntniſſe überſichtlich zu ordnen und ſich in
dem Labyrinthe zurecht zu finden, theils auch wieder ein Ausdruck
dieſer Kenntniſſe, in welchem die vergleichende Beobachtung ihre Re-
ſultate kund gibt. Der Forſcher, der neue Seiten einem beobachteten
Körper abgewinnt, drückt dieſelben gleichſam im Lapidarſtyl durch
Veränderung des Syſtems an der betreffenden Stelle aus, und wäh-
rend ſo das Gebäude im Ganzen ſeit Cuvier’s Zeiten dasſelbe geblieben
iſt, ſo dürfte kaum eine Stelle zu finden ſein, die nicht mehr oder
minder durchgreifend verändert worden wäre.

Als Ausläufer des Kampfes zwiſchen der naturphiloſophiſchen und
realiſtiſchen Richtung ſtellt ſich in der ſyſtematiſchen Zoologie weſentlich
die verſchiedenartige Tendenz der Gruppirung dar. Die Einen behaup-
ten, das Thierreich bilde eine lange und ununterbrochene Reihe, nach ein-
heitlichem Plane gebaut, wo immer ein Weſen vollkommener ſei als das
andere, ſo daß von den niedrigſten Infuſionsthierchen bis zu dem
Menſchen eine Kette aus zuſammenhängenden Gliedern ſich fortziehe.
Derſelbe gemeinſame Plan der Organiſation liege dem Baue aller
thieriſchen Organismen zu Grunde, und je nach der Entwickelung der
einzelnen Organe, aus welchen der Thierleib zuſammengeſetzt ſei, könne
man die Rangſtufe beſtimmen, auf welche jeder Organismus geſtellt
werden müſſe.

Andere behaupten, dem Baue der Thiere liegen im Gegentheil
mehre verſchiedene Urplane zum Grunde. Es ſei zwar vollkommen
richtig, daß in kleinen Gruppen, welche nach demſelben Typus gebaut
ſeien, ſich auch eine Ueberordnung, eine allmählige Vervollkommnung
erkennen laſſe, für das Ganze ſei dies aber nicht richtig, indem jeder
Typus ſich zu einer eigenthümlichen Stufe der Vollkommenheit erhebe
und von ſeinem Gipfelpunkte aus kein Uebergangspunkt zu der Grund-

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[15/0021] daß die gegenſeitige Kritik die Beobachtungen ſichtete und ihren that- ſächlichen Werth feſtſtellte. Wir ſind mit dieſem Kampfe in die neuere Zeit hinübergetreten. Die letzten Nachklänge deſſelben hallen noch hie und da wieder; ver- einzelt trifft man noch zuweilen Ruinen aus der naturphiloſophiſchen Schule, welche die Natur in die engen Schranken ihres Kopfes zwän- gen möchten. Die thatſächliche Richtung hat offenbar den Sieg davon- getragen und es iſt nicht zu läugnen, daß die weſentlichſten Fortſchritte der Wiſſenſchaft hauptſächlich auf ihr beruhen. Die Claſſification, das Syſtemmachen, obgleich noch hie und da eifrig gepflegt, ſteht im Hin- tergrunde; — man hat eingeſehen, daß jede Claſſification theils nur ein Mittel iſt, unſere Kenntniſſe überſichtlich zu ordnen und ſich in dem Labyrinthe zurecht zu finden, theils auch wieder ein Ausdruck dieſer Kenntniſſe, in welchem die vergleichende Beobachtung ihre Re- ſultate kund gibt. Der Forſcher, der neue Seiten einem beobachteten Körper abgewinnt, drückt dieſelben gleichſam im Lapidarſtyl durch Veränderung des Syſtems an der betreffenden Stelle aus, und wäh- rend ſo das Gebäude im Ganzen ſeit Cuvier’s Zeiten dasſelbe geblieben iſt, ſo dürfte kaum eine Stelle zu finden ſein, die nicht mehr oder minder durchgreifend verändert worden wäre. Als Ausläufer des Kampfes zwiſchen der naturphiloſophiſchen und realiſtiſchen Richtung ſtellt ſich in der ſyſtematiſchen Zoologie weſentlich die verſchiedenartige Tendenz der Gruppirung dar. Die Einen behaup- ten, das Thierreich bilde eine lange und ununterbrochene Reihe, nach ein- heitlichem Plane gebaut, wo immer ein Weſen vollkommener ſei als das andere, ſo daß von den niedrigſten Infuſionsthierchen bis zu dem Menſchen eine Kette aus zuſammenhängenden Gliedern ſich fortziehe. Derſelbe gemeinſame Plan der Organiſation liege dem Baue aller thieriſchen Organismen zu Grunde, und je nach der Entwickelung der einzelnen Organe, aus welchen der Thierleib zuſammengeſetzt ſei, könne man die Rangſtufe beſtimmen, auf welche jeder Organismus geſtellt werden müſſe. Andere behaupten, dem Baue der Thiere liegen im Gegentheil mehre verſchiedene Urplane zum Grunde. Es ſei zwar vollkommen richtig, daß in kleinen Gruppen, welche nach demſelben Typus gebaut ſeien, ſich auch eine Ueberordnung, eine allmählige Vervollkommnung erkennen laſſe, für das Ganze ſei dies aber nicht richtig, indem jeder Typus ſich zu einer eigenthümlichen Stufe der Vollkommenheit erhebe und von ſeinem Gipfelpunkte aus kein Uebergangspunkt zu der Grund-

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Zitationshilfe: Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 1. Frankfurt (Main), 1851, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_briefe01_1851/21>, abgerufen am 18.04.2024.