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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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um die Ueberleitung eines Bildes in die empfangende Phantasie handle.
Wir nehmen jetzt die erste zunächst für sich wieder auf und lassen dabei
allerdings den Begriff im engeren Sinne des Wortes, das abstracte Denken
des Allgemeinen, vorerst aus; die Frage, wie weit er neben dem in ein
Denkbild überlaufenden Begriffe, der Concretes in seiner Allgemeinheit zu-
sammenfaßt, eine Rolle in der Poesie spielen könne, werden wir später auf-
nehmen. Wesentlich ist also, daß in der Poesie Alles vom Bewußtsein
getragen und begleitet wird, das denn in Begriffen sich deutlich sagt, was
es in sich aufnimmt. Gegenüber dem bloßen Empfinden in der Musik, die
sich an den dunkeln Sinn des bloße Töne vernehmenden Gehörs wendet,
haben wir allerdings schon der bildenden Kunst, die dem Auge das klare
Object vorführt, den Boden des Bewußtseins zuerkannt. Das Bewußtsein
ist der Act, wodurch sich das Subject ein Object klar gegenüberstellt; in
diesem Acte, ohne daß er darum schon in den idealistischen des Selbst-
bewußtseins (vergl. §. 748) übergeht, kann das eine Glied der Synthese,
das Subject, sich mit größerer oder geringerer Schärfe in seiner Selbst-
thätigkeit, daher auch mehr oder minder activ, eindringend, aneignend das
Object erfassen. Dieser Unterschied hängt davon ab, ob zur Vorführung
des Gegenstands die Sprache nicht im Kunstwerk selbst, sondern nur daneben,
oder ob sie innerhalb desselben und als ursprüngliche Trägerinn verwendet wird.
Bei Bauwerken, Statuen, Gemälden wird uns der Zweck und Gegenstand
meist genannt oder wir nennen ihn uns selbst und auch das Aesthetische
der Darstellung geben wir uns in Worten an, aber der Künstler selbst als
Künstler spricht nicht. Der Dichter dagegen spricht eben als Künstler und
das Nennen ist wesentlich. Daraus folgt zunächst ganz einfach, daß dem
Gesetze: jedes Kunstwerk soll sich selbst erklären, keine Kunst so
ganz und eigentlich genügt, wie die Poesie. Dieß ist von der tiefsten Be-
deutung für das Innerste der künstlerischen Thätigkeit: der bildende Künstler
ist durch die Stummheit seiner Kunst gehalten, bekannte und geläufige, im
Wesentlichen schon erfundene Gegenstände vorzuziehen, und freilich muß er
sie wieder zum Stoff herabsetzen, daß seine Umbildung den Werth einer
neuen Schöpfung habe; der Dichter dagegen heißt zwar auch geläufige, von
der Volksphantasie schon bearbeitete Stoffe willkommen, aber er kann doch
weit unbeschränkter Stoffe ergreifen, die noch nie behandelt sind, denn da
er sie mit Worten exponirt, so braucht er keine Bekanntschaft vorauszusetzen;
er ist daher weit mehr eigentlich erfindend; vgl. Lessing's Laokoon Abschn. 11.
Es entspringt aber hieraus überhaupt eine Eigenschaft, ein Grundzug in
der Physiognomie der Dichtung, der als ein absolutes, klares Fassen, ein
Treffen mit der Spitze des Bewußtseins zu bezeichnen ist; das Auge des
Dichters und durch ihn das unsrige verhält sich zu dem des bildenden
Künstlers wie ein durchbohrendes zu einem hell und deutlich, aber mehr

um die Ueberleitung eines Bildes in die empfangende Phantaſie handle.
Wir nehmen jetzt die erſte zunächſt für ſich wieder auf und laſſen dabei
allerdings den Begriff im engeren Sinne des Wortes, das abſtracte Denken
des Allgemeinen, vorerſt aus; die Frage, wie weit er neben dem in ein
Denkbild überlaufenden Begriffe, der Concretes in ſeiner Allgemeinheit zu-
ſammenfaßt, eine Rolle in der Poeſie ſpielen könne, werden wir ſpäter auf-
nehmen. Weſentlich iſt alſo, daß in der Poeſie Alles vom Bewußtſein
getragen und begleitet wird, das denn in Begriffen ſich deutlich ſagt, was
es in ſich aufnimmt. Gegenüber dem bloßen Empfinden in der Muſik, die
ſich an den dunkeln Sinn des bloße Töne vernehmenden Gehörs wendet,
haben wir allerdings ſchon der bildenden Kunſt, die dem Auge das klare
Object vorführt, den Boden des Bewußtſeins zuerkannt. Das Bewußtſein
iſt der Act, wodurch ſich das Subject ein Object klar gegenüberſtellt; in
dieſem Acte, ohne daß er darum ſchon in den idealiſtiſchen des Selbſt-
bewußtſeins (vergl. §. 748) übergeht, kann das eine Glied der Syntheſe,
das Subject, ſich mit größerer oder geringerer Schärfe in ſeiner Selbſt-
thätigkeit, daher auch mehr oder minder activ, eindringend, aneignend das
Object erfaſſen. Dieſer Unterſchied hängt davon ab, ob zur Vorführung
des Gegenſtands die Sprache nicht im Kunſtwerk ſelbſt, ſondern nur daneben,
oder ob ſie innerhalb deſſelben und als urſprüngliche Trägerinn verwendet wird.
Bei Bauwerken, Statuen, Gemälden wird uns der Zweck und Gegenſtand
meiſt genannt oder wir nennen ihn uns ſelbſt und auch das Aeſthetiſche
der Darſtellung geben wir uns in Worten an, aber der Künſtler ſelbſt als
Künſtler ſpricht nicht. Der Dichter dagegen ſpricht eben als Künſtler und
das Nennen iſt weſentlich. Daraus folgt zunächſt ganz einfach, daß dem
Geſetze: jedes Kunſtwerk ſoll ſich ſelbſt erklären, keine Kunſt ſo
ganz und eigentlich genügt, wie die Poeſie. Dieß iſt von der tiefſten Be-
deutung für das Innerſte der künſtleriſchen Thätigkeit: der bildende Künſtler
iſt durch die Stummheit ſeiner Kunſt gehalten, bekannte und geläufige, im
Weſentlichen ſchon erfundene Gegenſtände vorzuziehen, und freilich muß er
ſie wieder zum Stoff herabſetzen, daß ſeine Umbildung den Werth einer
neuen Schöpfung habe; der Dichter dagegen heißt zwar auch geläufige, von
der Volksphantaſie ſchon bearbeitete Stoffe willkommen, aber er kann doch
weit unbeſchränkter Stoffe ergreifen, die noch nie behandelt ſind, denn da
er ſie mit Worten exponirt, ſo braucht er keine Bekanntſchaft vorauszuſetzen;
er iſt daher weit mehr eigentlich erfindend; vgl. Leſſing’s Laokoon Abſchn. 11.
Es entſpringt aber hieraus überhaupt eine Eigenſchaft, ein Grundzug in
der Phyſiognomie der Dichtung, der als ein abſolutes, klares Faſſen, ein
Treffen mit der Spitze des Bewußtſeins zu bezeichnen iſt; das Auge des
Dichters und durch ihn das unſrige verhält ſich zu dem des bildenden
Künſtlers wie ein durchbohrendes zu einem hell und deutlich, aber mehr

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[1167/0031] um die Ueberleitung eines Bildes in die empfangende Phantaſie handle. Wir nehmen jetzt die erſte zunächſt für ſich wieder auf und laſſen dabei allerdings den Begriff im engeren Sinne des Wortes, das abſtracte Denken des Allgemeinen, vorerſt aus; die Frage, wie weit er neben dem in ein Denkbild überlaufenden Begriffe, der Concretes in ſeiner Allgemeinheit zu- ſammenfaßt, eine Rolle in der Poeſie ſpielen könne, werden wir ſpäter auf- nehmen. Weſentlich iſt alſo, daß in der Poeſie Alles vom Bewußtſein getragen und begleitet wird, das denn in Begriffen ſich deutlich ſagt, was es in ſich aufnimmt. Gegenüber dem bloßen Empfinden in der Muſik, die ſich an den dunkeln Sinn des bloße Töne vernehmenden Gehörs wendet, haben wir allerdings ſchon der bildenden Kunſt, die dem Auge das klare Object vorführt, den Boden des Bewußtſeins zuerkannt. Das Bewußtſein iſt der Act, wodurch ſich das Subject ein Object klar gegenüberſtellt; in dieſem Acte, ohne daß er darum ſchon in den idealiſtiſchen des Selbſt- bewußtſeins (vergl. §. 748) übergeht, kann das eine Glied der Syntheſe, das Subject, ſich mit größerer oder geringerer Schärfe in ſeiner Selbſt- thätigkeit, daher auch mehr oder minder activ, eindringend, aneignend das Object erfaſſen. Dieſer Unterſchied hängt davon ab, ob zur Vorführung des Gegenſtands die Sprache nicht im Kunſtwerk ſelbſt, ſondern nur daneben, oder ob ſie innerhalb deſſelben und als urſprüngliche Trägerinn verwendet wird. Bei Bauwerken, Statuen, Gemälden wird uns der Zweck und Gegenſtand meiſt genannt oder wir nennen ihn uns ſelbſt und auch das Aeſthetiſche der Darſtellung geben wir uns in Worten an, aber der Künſtler ſelbſt als Künſtler ſpricht nicht. Der Dichter dagegen ſpricht eben als Künſtler und das Nennen iſt weſentlich. Daraus folgt zunächſt ganz einfach, daß dem Geſetze: jedes Kunſtwerk ſoll ſich ſelbſt erklären, keine Kunſt ſo ganz und eigentlich genügt, wie die Poeſie. Dieß iſt von der tiefſten Be- deutung für das Innerſte der künſtleriſchen Thätigkeit: der bildende Künſtler iſt durch die Stummheit ſeiner Kunſt gehalten, bekannte und geläufige, im Weſentlichen ſchon erfundene Gegenſtände vorzuziehen, und freilich muß er ſie wieder zum Stoff herabſetzen, daß ſeine Umbildung den Werth einer neuen Schöpfung habe; der Dichter dagegen heißt zwar auch geläufige, von der Volksphantaſie ſchon bearbeitete Stoffe willkommen, aber er kann doch weit unbeſchränkter Stoffe ergreifen, die noch nie behandelt ſind, denn da er ſie mit Worten exponirt, ſo braucht er keine Bekanntſchaft vorauszuſetzen; er iſt daher weit mehr eigentlich erfindend; vgl. Leſſing’s Laokoon Abſchn. 11. Es entſpringt aber hieraus überhaupt eine Eigenſchaft, ein Grundzug in der Phyſiognomie der Dichtung, der als ein abſolutes, klares Faſſen, ein Treffen mit der Spitze des Bewußtſeins zu bezeichnen iſt; das Auge des Dichters und durch ihn das unſrige verhält ſich zu dem des bildenden Künſtlers wie ein durchbohrendes zu einem hell und deutlich, aber mehr

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/31>, abgerufen am 19.04.2024.