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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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als solches gibt nie ein eigentliches Dieses, ein empirisch Einzelnes an,
denn das Erzeugen von Lautzeichen, wodurch jedes Object ohne sinnliche
Aufweisung kennbar gemacht wird, setzt ja eben voraus, daß durch Zusam-
menfassung der Vielheit empirischer Individuen der Begriff, das Allgemeine
gebildet sei, und der ursprüngliche symbolisch bildliche Charakter der Laute
und Schriftzeichen ist in der entwickelten Sprache nothwendig und mit Recht
vergessen, dem reinen Mechanismus gewohnter Verknüpfung des Inhalts
mit dem Worte gewichen. Allein die Abstraction des Denkens, wie es sich
in der Sprache darstellt, ist keine absolute: die Einbildungskraft begleitet
sie und erzeugt sich einen Auszug aus der unbestimmten Vielheit des Ein-
zelnen, ein Bild der Gattung, das nun den Begriff derselben, wie er im
Wort als mechanisirtem Zeichen gegeben ist, umschwebt: was man in der
Psychologie Denkbild genannt hat. Die Selbstbeobachtung sagt Jedem,
daß mit dem Worte, wie es vernommen oder gelesen wird, eine sinnliche
Vorstellung vor seinem Innern steht, bei dem Wort Mann ein Mann,
Baum ein Baum u. s. w. Der Dichter kann also mit dem Vehikel der
Sprache überhaupt auf das innere Schauen wirken, es hervorrufen, sie ist
sein elektrischer Telegraph, durch den er sein Bild zu dem hinüberströmen
läßt, für den er dichtet. Dieß bedarf allerdings einer eingreifenden näheren
Bestimmung. Jenes Denkbild, das mit dem vernommenen Worte wie
durch einen Zauberschlag innerlich entsteht, hat an sich weder die Kraft der
Idealität, noch der Individualität mit dem ästhetischen Bilde gemein, es ist
blaß, verschwommen und zur äußersten Unbestimmtheit zerfließt es bei den
Wörtern, welche abstracte Begriffe im engeren Sinne bezeichnen, obwohl
auch sie ursprünglich andere, concrete Bedeutung hatten. Die Aufgabe des
Dichters fällt in den Mittelpunct dieses Verhältnisses zwischen Sprache und
innerem Bild hinein: er hat die Sprache so zu verarbeiten, daß er das
Denkbild zum Idealbild erhebt, dem ganz Abstracten seine Beziehung zum
Sinnlichen zurückgibt, ebensosehr aber, daß er in dieser Rückbildung zum
Sinnlichen und durch dieselbe die Energie des Allgemeinen vielmehr gerade ver-
doppelt. Wie er dieß bewerkstelligt, welche Behandlung der Sprache dadurch
gefordert ist, dieß ist hier noch nicht weiter auszuführen, sondern zuerst nur
das Gewicht der Aufgabe an sich festzuhalten. Und es liegt darauf der
ganze Nachdruck eines Grundbegriffes: der Dichter hat Bilder, d. h. natürlich
nicht blos einzelne Gleichnisse, Metaphern u. s. w., sondern innere An-
schauungen, richtiger: eine ganze Anschauung zu geben. -- Es erhellt nun,
daß, wenn man in der Poesie noch von einem Materiale sprechen kann,
dieß die Phantasie des Zuhörers ist. In §. 767, 2. ist dieß auch von der
Musik gesagt, aber durch 3. beschränkt: zwischen dem Künstler und dem Zu-
hörer steht hier zwar kein Material mehr als fixer Körper, sondern schwebt
nur ein Bewegtes, der Ton, aber er ist mehr, als bloßes Vehikel, er ist

als ſolches gibt nie ein eigentliches Dieſes, ein empiriſch Einzelnes an,
denn das Erzeugen von Lautzeichen, wodurch jedes Object ohne ſinnliche
Aufweiſung kennbar gemacht wird, ſetzt ja eben voraus, daß durch Zuſam-
menfaſſung der Vielheit empiriſcher Individuen der Begriff, das Allgemeine
gebildet ſei, und der urſprüngliche ſymboliſch bildliche Charakter der Laute
und Schriftzeichen iſt in der entwickelten Sprache nothwendig und mit Recht
vergeſſen, dem reinen Mechanismus gewohnter Verknüpfung des Inhalts
mit dem Worte gewichen. Allein die Abſtraction des Denkens, wie es ſich
in der Sprache darſtellt, iſt keine abſolute: die Einbildungskraft begleitet
ſie und erzeugt ſich einen Auszug aus der unbeſtimmten Vielheit des Ein-
zelnen, ein Bild der Gattung, das nun den Begriff derſelben, wie er im
Wort als mechaniſirtem Zeichen gegeben iſt, umſchwebt: was man in der
Pſychologie Denkbild genannt hat. Die Selbſtbeobachtung ſagt Jedem,
daß mit dem Worte, wie es vernommen oder geleſen wird, eine ſinnliche
Vorſtellung vor ſeinem Innern ſteht, bei dem Wort Mann ein Mann,
Baum ein Baum u. ſ. w. Der Dichter kann alſo mit dem Vehikel der
Sprache überhaupt auf das innere Schauen wirken, es hervorrufen, ſie iſt
ſein elektriſcher Telegraph, durch den er ſein Bild zu dem hinüberſtrömen
läßt, für den er dichtet. Dieß bedarf allerdings einer eingreifenden näheren
Beſtimmung. Jenes Denkbild, das mit dem vernommenen Worte wie
durch einen Zauberſchlag innerlich entſteht, hat an ſich weder die Kraft der
Idealität, noch der Individualität mit dem äſthetiſchen Bilde gemein, es iſt
blaß, verſchwommen und zur äußerſten Unbeſtimmtheit zerfließt es bei den
Wörtern, welche abſtracte Begriffe im engeren Sinne bezeichnen, obwohl
auch ſie urſprünglich andere, concrete Bedeutung hatten. Die Aufgabe des
Dichters fällt in den Mittelpunct dieſes Verhältniſſes zwiſchen Sprache und
innerem Bild hinein: er hat die Sprache ſo zu verarbeiten, daß er das
Denkbild zum Idealbild erhebt, dem ganz Abſtracten ſeine Beziehung zum
Sinnlichen zurückgibt, ebenſoſehr aber, daß er in dieſer Rückbildung zum
Sinnlichen und durch dieſelbe die Energie des Allgemeinen vielmehr gerade ver-
doppelt. Wie er dieß bewerkſtelligt, welche Behandlung der Sprache dadurch
gefordert iſt, dieß iſt hier noch nicht weiter auszuführen, ſondern zuerſt nur
das Gewicht der Aufgabe an ſich feſtzuhalten. Und es liegt darauf der
ganze Nachdruck eines Grundbegriffes: der Dichter hat Bilder, d. h. natürlich
nicht blos einzelne Gleichniſſe, Metaphern u. ſ. w., ſondern innere An-
ſchauungen, richtiger: eine ganze Anſchauung zu geben. — Es erhellt nun,
daß, wenn man in der Poeſie noch von einem Materiale ſprechen kann,
dieß die Phantaſie des Zuhörers iſt. In §. 767, 2. iſt dieß auch von der
Muſik geſagt, aber durch 3. beſchränkt: zwiſchen dem Künſtler und dem Zu-
hörer ſteht hier zwar kein Material mehr als fixer Körper, ſondern ſchwebt
nur ein Bewegtes, der Ton, aber er iſt mehr, als bloßes Vehikel, er iſt

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[1165/0029] als ſolches gibt nie ein eigentliches Dieſes, ein empiriſch Einzelnes an, denn das Erzeugen von Lautzeichen, wodurch jedes Object ohne ſinnliche Aufweiſung kennbar gemacht wird, ſetzt ja eben voraus, daß durch Zuſam- menfaſſung der Vielheit empiriſcher Individuen der Begriff, das Allgemeine gebildet ſei, und der urſprüngliche ſymboliſch bildliche Charakter der Laute und Schriftzeichen iſt in der entwickelten Sprache nothwendig und mit Recht vergeſſen, dem reinen Mechanismus gewohnter Verknüpfung des Inhalts mit dem Worte gewichen. Allein die Abſtraction des Denkens, wie es ſich in der Sprache darſtellt, iſt keine abſolute: die Einbildungskraft begleitet ſie und erzeugt ſich einen Auszug aus der unbeſtimmten Vielheit des Ein- zelnen, ein Bild der Gattung, das nun den Begriff derſelben, wie er im Wort als mechaniſirtem Zeichen gegeben iſt, umſchwebt: was man in der Pſychologie Denkbild genannt hat. Die Selbſtbeobachtung ſagt Jedem, daß mit dem Worte, wie es vernommen oder geleſen wird, eine ſinnliche Vorſtellung vor ſeinem Innern ſteht, bei dem Wort Mann ein Mann, Baum ein Baum u. ſ. w. Der Dichter kann alſo mit dem Vehikel der Sprache überhaupt auf das innere Schauen wirken, es hervorrufen, ſie iſt ſein elektriſcher Telegraph, durch den er ſein Bild zu dem hinüberſtrömen läßt, für den er dichtet. Dieß bedarf allerdings einer eingreifenden näheren Beſtimmung. Jenes Denkbild, das mit dem vernommenen Worte wie durch einen Zauberſchlag innerlich entſteht, hat an ſich weder die Kraft der Idealität, noch der Individualität mit dem äſthetiſchen Bilde gemein, es iſt blaß, verſchwommen und zur äußerſten Unbeſtimmtheit zerfließt es bei den Wörtern, welche abſtracte Begriffe im engeren Sinne bezeichnen, obwohl auch ſie urſprünglich andere, concrete Bedeutung hatten. Die Aufgabe des Dichters fällt in den Mittelpunct dieſes Verhältniſſes zwiſchen Sprache und innerem Bild hinein: er hat die Sprache ſo zu verarbeiten, daß er das Denkbild zum Idealbild erhebt, dem ganz Abſtracten ſeine Beziehung zum Sinnlichen zurückgibt, ebenſoſehr aber, daß er in dieſer Rückbildung zum Sinnlichen und durch dieſelbe die Energie des Allgemeinen vielmehr gerade ver- doppelt. Wie er dieß bewerkſtelligt, welche Behandlung der Sprache dadurch gefordert iſt, dieß iſt hier noch nicht weiter auszuführen, ſondern zuerſt nur das Gewicht der Aufgabe an ſich feſtzuhalten. Und es liegt darauf der ganze Nachdruck eines Grundbegriffes: der Dichter hat Bilder, d. h. natürlich nicht blos einzelne Gleichniſſe, Metaphern u. ſ. w., ſondern innere An- ſchauungen, richtiger: eine ganze Anſchauung zu geben. — Es erhellt nun, daß, wenn man in der Poeſie noch von einem Materiale ſprechen kann, dieß die Phantaſie des Zuhörers iſt. In §. 767, 2. iſt dieß auch von der Muſik geſagt, aber durch 3. beſchränkt: zwiſchen dem Künſtler und dem Zu- hörer ſteht hier zwar kein Material mehr als fixer Körper, ſondern ſchwebt nur ein Bewegtes, der Ton, aber er iſt mehr, als bloßes Vehikel, er iſt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/29>, abgerufen am 28.03.2024.