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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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und insofern ist das Gefühl von Carus (Psyche S. 288 ff.) richtig als der
Punct bezeichnet worden, wo die unbewußte Welt der Seele so eben an die
bewußte sich mittheilt. Ist nun aber das Gefühl nach der Seite der Klarheit
und der Schärfe der Contraction allerdings weniger auch als das Selbst-
bewußtsein, so ist es nach der andern Seite nicht nur, wie schon gesagt,
eine ihm analoge, sondern eine ungleich vollere und offnere Form des Geistes,
als dieser stricte Act der Selbsterfassung. Das Selbstbewußtsein ist nach dem
Obigen vollkommene Abstraction von der realen Wirklichkeit desselben Gegen-
satzes, den es selbst als idealen, rein formalen Punct in sich darstellt; das
Ich hat vollständig vergessen, daß es als Subject und Object in Einem
diese Uebersetzung der ganzen Welt in die reine Form der Idealität ist, und
es soll erst daran gehen, diese Uebersetzung wieder umzukehren und sich als
Thätigkeit im Denken und Wollen zur Welt zu erweitern. Nun haben wir
zwar auch vom Gefühl gesagt, daß es nur sich selbst vernehme, aber es
vernimmt sich so, daß es doch zugleich auf die umgebende Welt in ihrer
realen Mannigfaltigkeit mit absoluter Theilnahme bezogen ist. Im Selbst-
bewußtsein sind die unendlichen Fäden, welche von der Welt in das Subject
und von diesem zu der Welt auslaufen, vorerst abgeschnitten, um durch
freie That neu geknüpft zu werden, im Gefühle sind sie in voller Thätig-
keit als Vermittler der tiefsten Sympathie, aber vergessen sind ihre Enden
am Object. Im Gefühle vernehme ich mich als Welt-Centrum, im Selbst-
bewußtsein weiß ich mich als absoluten Punct. Im Gefühle sind daher alle
die Formen, in welchen der Geist, der im Selbstbewußtsein sich zur Spitze
des Fürsichseins zusammengefaßt hat, von da wieder hinaus- und übergreift,
sichtbarer vorbereitet, als in dieser, obwohl in sich so viel helleren und
acuteren Form. Wir werden sehen, wie das Gefühl vorzüglich dadurch auf
die thätige, entwickelte Geisteswelt hinausweist, daß ihm namentlich der
Uebergang in den Willen nahe liegt. Doch abgesehen von dem wirklichen
Uebergang in die praktische Form des Geistes ist das Gefühl schon an der
gegenwärtigen Stelle auch mit der Grundbestimmung derselben, der Freiheit,
zusammenzuhalten. Das Gefühl ist unwillkührliches Gestimmtsein, es ist
mir angethan, angeweht, es ist an mich gekommen ganz in der Weise der
Unmittelbarkeit, der Naturbegebenheit. Aber dieß ist nicht die Unfreiheit,
mit welcher das Verhalten des Geistes behaftet ist, der auf der Stufe des
bloßen Bewußtseins seinen Beruf zur freien Selbstbestimmung und Bestim-
mung der Welt hinter den Eindrücken und Reizen des Objects zurückbehält
und sich nun von diesen treiben und führen läßt; das Gefühl kann darum
nicht unfrei genannt werden, weil es in diesem antithetischen Sinne gar
keine Freiheit hat. Hier ist das ganze Selbst dem Eindruck ohne Rückhalt
hingegeben, aber indem es ihn ganz einläßt, nimmt es ihm auch seine
Fremdheit, seine Objectivität, sein Gegebensein, macht das Aufgenommene

und inſofern iſt das Gefühl von Carus (Pſyche S. 288 ff.) richtig als der
Punct bezeichnet worden, wo die unbewußte Welt der Seele ſo eben an die
bewußte ſich mittheilt. Iſt nun aber das Gefühl nach der Seite der Klarheit
und der Schärfe der Contraction allerdings weniger auch als das Selbſt-
bewußtſein, ſo iſt es nach der andern Seite nicht nur, wie ſchon geſagt,
eine ihm analoge, ſondern eine ungleich vollere und offnere Form des Geiſtes,
als dieſer ſtricte Act der Selbſterfaſſung. Das Selbſtbewußtſein iſt nach dem
Obigen vollkommene Abſtraction von der realen Wirklichkeit deſſelben Gegen-
ſatzes, den es ſelbſt als idealen, rein formalen Punct in ſich darſtellt; das
Ich hat vollſtändig vergeſſen, daß es als Subject und Object in Einem
dieſe Ueberſetzung der ganzen Welt in die reine Form der Idealität iſt, und
es ſoll erſt daran gehen, dieſe Ueberſetzung wieder umzukehren und ſich als
Thätigkeit im Denken und Wollen zur Welt zu erweitern. Nun haben wir
zwar auch vom Gefühl geſagt, daß es nur ſich ſelbſt vernehme, aber es
vernimmt ſich ſo, daß es doch zugleich auf die umgebende Welt in ihrer
realen Mannigfaltigkeit mit abſoluter Theilnahme bezogen iſt. Im Selbſt-
bewußtſein ſind die unendlichen Fäden, welche von der Welt in das Subject
und von dieſem zu der Welt auslaufen, vorerſt abgeſchnitten, um durch
freie That neu geknüpft zu werden, im Gefühle ſind ſie in voller Thätig-
keit als Vermittler der tiefſten Sympathie, aber vergeſſen ſind ihre Enden
am Object. Im Gefühle vernehme ich mich als Welt-Centrum, im Selbſt-
bewußtſein weiß ich mich als abſoluten Punct. Im Gefühle ſind daher alle
die Formen, in welchen der Geiſt, der im Selbſtbewußtſein ſich zur Spitze
des Fürſichſeins zuſammengefaßt hat, von da wieder hinaus- und übergreift,
ſichtbarer vorbereitet, als in dieſer, obwohl in ſich ſo viel helleren und
acuteren Form. Wir werden ſehen, wie das Gefühl vorzüglich dadurch auf
die thätige, entwickelte Geiſteswelt hinausweist, daß ihm namentlich der
Uebergang in den Willen nahe liegt. Doch abgeſehen von dem wirklichen
Uebergang in die praktiſche Form des Geiſtes iſt das Gefühl ſchon an der
gegenwärtigen Stelle auch mit der Grundbeſtimmung derſelben, der Freiheit,
zuſammenzuhalten. Das Gefühl iſt unwillkührliches Geſtimmtſein, es iſt
mir angethan, angeweht, es iſt an mich gekommen ganz in der Weiſe der
Unmittelbarkeit, der Naturbegebenheit. Aber dieß iſt nicht die Unfreiheit,
mit welcher das Verhalten des Geiſtes behaftet iſt, der auf der Stufe des
bloßen Bewußtſeins ſeinen Beruf zur freien Selbſtbeſtimmung und Beſtim-
mung der Welt hinter den Eindrücken und Reizen des Objects zurückbehält
und ſich nun von dieſen treiben und führen läßt; das Gefühl kann darum
nicht unfrei genannt werden, weil es in dieſem antithetiſchen Sinne gar
keine Freiheit hat. Hier iſt das ganze Selbſt dem Eindruck ohne Rückhalt
hingegeben, aber indem es ihn ganz einläßt, nimmt es ihm auch ſeine
Fremdheit, ſeine Objectivität, ſein Gegebenſein, macht das Aufgenommene

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[785/0023] und inſofern iſt das Gefühl von Carus (Pſyche S. 288 ff.) richtig als der Punct bezeichnet worden, wo die unbewußte Welt der Seele ſo eben an die bewußte ſich mittheilt. Iſt nun aber das Gefühl nach der Seite der Klarheit und der Schärfe der Contraction allerdings weniger auch als das Selbſt- bewußtſein, ſo iſt es nach der andern Seite nicht nur, wie ſchon geſagt, eine ihm analoge, ſondern eine ungleich vollere und offnere Form des Geiſtes, als dieſer ſtricte Act der Selbſterfaſſung. Das Selbſtbewußtſein iſt nach dem Obigen vollkommene Abſtraction von der realen Wirklichkeit deſſelben Gegen- ſatzes, den es ſelbſt als idealen, rein formalen Punct in ſich darſtellt; das Ich hat vollſtändig vergeſſen, daß es als Subject und Object in Einem dieſe Ueberſetzung der ganzen Welt in die reine Form der Idealität iſt, und es ſoll erſt daran gehen, dieſe Ueberſetzung wieder umzukehren und ſich als Thätigkeit im Denken und Wollen zur Welt zu erweitern. Nun haben wir zwar auch vom Gefühl geſagt, daß es nur ſich ſelbſt vernehme, aber es vernimmt ſich ſo, daß es doch zugleich auf die umgebende Welt in ihrer realen Mannigfaltigkeit mit abſoluter Theilnahme bezogen iſt. Im Selbſt- bewußtſein ſind die unendlichen Fäden, welche von der Welt in das Subject und von dieſem zu der Welt auslaufen, vorerſt abgeſchnitten, um durch freie That neu geknüpft zu werden, im Gefühle ſind ſie in voller Thätig- keit als Vermittler der tiefſten Sympathie, aber vergeſſen ſind ihre Enden am Object. Im Gefühle vernehme ich mich als Welt-Centrum, im Selbſt- bewußtſein weiß ich mich als abſoluten Punct. Im Gefühle ſind daher alle die Formen, in welchen der Geiſt, der im Selbſtbewußtſein ſich zur Spitze des Fürſichſeins zuſammengefaßt hat, von da wieder hinaus- und übergreift, ſichtbarer vorbereitet, als in dieſer, obwohl in ſich ſo viel helleren und acuteren Form. Wir werden ſehen, wie das Gefühl vorzüglich dadurch auf die thätige, entwickelte Geiſteswelt hinausweist, daß ihm namentlich der Uebergang in den Willen nahe liegt. Doch abgeſehen von dem wirklichen Uebergang in die praktiſche Form des Geiſtes iſt das Gefühl ſchon an der gegenwärtigen Stelle auch mit der Grundbeſtimmung derſelben, der Freiheit, zuſammenzuhalten. Das Gefühl iſt unwillkührliches Geſtimmtſein, es iſt mir angethan, angeweht, es iſt an mich gekommen ganz in der Weiſe der Unmittelbarkeit, der Naturbegebenheit. Aber dieß iſt nicht die Unfreiheit, mit welcher das Verhalten des Geiſtes behaftet iſt, der auf der Stufe des bloßen Bewußtſeins ſeinen Beruf zur freien Selbſtbeſtimmung und Beſtim- mung der Welt hinter den Eindrücken und Reizen des Objects zurückbehält und ſich nun von dieſen treiben und führen läßt; das Gefühl kann darum nicht unfrei genannt werden, weil es in dieſem antithetiſchen Sinne gar keine Freiheit hat. Hier iſt das ganze Selbſt dem Eindruck ohne Rückhalt hingegeben, aber indem es ihn ganz einläßt, nimmt es ihm auch ſeine Fremdheit, ſeine Objectivität, ſein Gegebenſein, macht das Aufgenommene

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 785. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/23>, abgerufen am 24.04.2024.