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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Form sich im Schwanken befindet. Allerdings lag solcher Steigerung der
einen Seite meist ausdrückliche Opposition gegen die Steigerung der an-
dern, gegen unmalerische Geltung des plastischen Prinzips zu Grunde.
Der folg. §. wird darauf eingehen, wie die entgegengesetzten Prinzipien
sich zu den Momenten des Verfahrens der Malerei verhalten, und die
Styl-Lehre dieß weiter durchführen. -- Die andere Seite solcher äußersten
Verfeinerung des Colorits ist die Consumtion der Farbe. Die Farbe soll,
wie wir gesehen, nicht Stoff, nicht selbständige Materie bleiben; der höchste
Sieg über diese Stoffartigkeit zehrt in einem zauberischen Ineinander
der Farben ihre Besonderheit am Ende so auf, daß sie dem Auge in
dem Momente, wo es sie zu fühlen glaubt, wieder entschwindet. Als
schlagendstes Beispiel ist auch hier Rembrandt, der Geisterbeschwörer
des Helldunkels, zu nennen, der die volle Farbe fast zur bloßen Licht-
und Schattengebung verarbeitet, ohne doch ihre Kraft und Saftigkeit
zu tilgen. Dieß kann aber auch so nicht wiederkehren; was durch
den geheimnißvoll eigenthümlichen Geist eines großen Meisters möglich
und gerechtfertigt ist, kann nicht allgemein werden und der nothwendige
tiefe Mangel, der damit zusammenhängt, wäre bei Jedem, der nicht jenes
Zaubers mächtig ist, welcher mit dem Mangel versöhnt, unentschuldbar.
Die herbe Unmittelbarkeit der Farbe kann künstlerisch bezwungen werden,
ohne daß doch ihre locale Entschiedenheit in lauter schwebende Ueberleitun-
gen und Vermittlungen aufgelöst wird. Was den Inhalt betrifft, so hängt
solche Magie mit der Neigung zu einem phantastischen Hexen-Elemente
innerlich nothwendig zusammen; überhaupt ist ja diese Behandlung der
Farbe nur eine Seite der Uebersteigerung, von welcher vorhin im Allgemei-
nen die Rede gewesen ist, sie wird daher auch auf Kosten des Adels
der Gestalt gehen, und so dämmert denn bei Rembrandt eine bäurisch
wilde Form aus dem Zauberscheine seines Helldunkels, worin die äußerst
consumirte Farbe schwül verzittert, wie ein Traumbild phantasmagorisch
hervor. Alle diese Erwägungen führen uns nun auf den Hauptsatz, der
sie zugleich erläutert und ergänzt.

§. 674.

Das Wahre in dem Zurücktreten des Gegenstands gegen die Bedeutung
der Farbe ist dieß, daß, wie an die Zeichnung das Prinzip der directen Idea-
lisirung (vergl. §. 662), so an die Farbengebung das Prinzip der indirecten
Idealisirung
sich anschließt.

Wir haben die Steigerung des Colorits auf jener gefährlichen Spitze,
wo sie zur Einseitigkeit wird, aus einer Opposition erklärt und das Prinzip,

Form ſich im Schwanken befindet. Allerdings lag ſolcher Steigerung der
einen Seite meiſt ausdrückliche Oppoſition gegen die Steigerung der an-
dern, gegen unmaleriſche Geltung des plaſtiſchen Prinzips zu Grunde.
Der folg. §. wird darauf eingehen, wie die entgegengeſetzten Prinzipien
ſich zu den Momenten des Verfahrens der Malerei verhalten, und die
Styl-Lehre dieß weiter durchführen. — Die andere Seite ſolcher äußerſten
Verfeinerung des Colorits iſt die Conſumtion der Farbe. Die Farbe ſoll,
wie wir geſehen, nicht Stoff, nicht ſelbſtändige Materie bleiben; der höchſte
Sieg über dieſe Stoffartigkeit zehrt in einem zauberiſchen Ineinander
der Farben ihre Beſonderheit am Ende ſo auf, daß ſie dem Auge in
dem Momente, wo es ſie zu fühlen glaubt, wieder entſchwindet. Als
ſchlagendſtes Beiſpiel iſt auch hier Rembrandt, der Geiſterbeſchwörer
des Helldunkels, zu nennen, der die volle Farbe faſt zur bloßen Licht-
und Schattengebung verarbeitet, ohne doch ihre Kraft und Saftigkeit
zu tilgen. Dieß kann aber auch ſo nicht wiederkehren; was durch
den geheimnißvoll eigenthümlichen Geiſt eines großen Meiſters möglich
und gerechtfertigt iſt, kann nicht allgemein werden und der nothwendige
tiefe Mangel, der damit zuſammenhängt, wäre bei Jedem, der nicht jenes
Zaubers mächtig iſt, welcher mit dem Mangel verſöhnt, unentſchuldbar.
Die herbe Unmittelbarkeit der Farbe kann künſtleriſch bezwungen werden,
ohne daß doch ihre locale Entſchiedenheit in lauter ſchwebende Ueberleitun-
gen und Vermittlungen aufgelöst wird. Was den Inhalt betrifft, ſo hängt
ſolche Magie mit der Neigung zu einem phantaſtiſchen Hexen-Elemente
innerlich nothwendig zuſammen; überhaupt iſt ja dieſe Behandlung der
Farbe nur eine Seite der Ueberſteigerung, von welcher vorhin im Allgemei-
nen die Rede geweſen iſt, ſie wird daher auch auf Koſten des Adels
der Geſtalt gehen, und ſo dämmert denn bei Rembrandt eine bäuriſch
wilde Form aus dem Zauberſcheine ſeines Helldunkels, worin die äußerſt
conſumirte Farbe ſchwül verzittert, wie ein Traumbild phantaſmagoriſch
hervor. Alle dieſe Erwägungen führen uns nun auf den Hauptſatz, der
ſie zugleich erläutert und ergänzt.

§. 674.

Das Wahre in dem Zurücktreten des Gegenſtands gegen die Bedeutung
der Farbe iſt dieß, daß, wie an die Zeichnung das Prinzip der directen Idea-
liſirung (vergl. §. 662), ſo an die Farbengebung das Prinzip der indirecten
Idealiſirung
ſich anſchließt.

Wir haben die Steigerung des Colorits auf jener gefährlichen Spitze,
wo ſie zur Einſeitigkeit wird, aus einer Oppoſition erklärt und das Prinzip,

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[575/0083] Form ſich im Schwanken befindet. Allerdings lag ſolcher Steigerung der einen Seite meiſt ausdrückliche Oppoſition gegen die Steigerung der an- dern, gegen unmaleriſche Geltung des plaſtiſchen Prinzips zu Grunde. Der folg. §. wird darauf eingehen, wie die entgegengeſetzten Prinzipien ſich zu den Momenten des Verfahrens der Malerei verhalten, und die Styl-Lehre dieß weiter durchführen. — Die andere Seite ſolcher äußerſten Verfeinerung des Colorits iſt die Conſumtion der Farbe. Die Farbe ſoll, wie wir geſehen, nicht Stoff, nicht ſelbſtändige Materie bleiben; der höchſte Sieg über dieſe Stoffartigkeit zehrt in einem zauberiſchen Ineinander der Farben ihre Beſonderheit am Ende ſo auf, daß ſie dem Auge in dem Momente, wo es ſie zu fühlen glaubt, wieder entſchwindet. Als ſchlagendſtes Beiſpiel iſt auch hier Rembrandt, der Geiſterbeſchwörer des Helldunkels, zu nennen, der die volle Farbe faſt zur bloßen Licht- und Schattengebung verarbeitet, ohne doch ihre Kraft und Saftigkeit zu tilgen. Dieß kann aber auch ſo nicht wiederkehren; was durch den geheimnißvoll eigenthümlichen Geiſt eines großen Meiſters möglich und gerechtfertigt iſt, kann nicht allgemein werden und der nothwendige tiefe Mangel, der damit zuſammenhängt, wäre bei Jedem, der nicht jenes Zaubers mächtig iſt, welcher mit dem Mangel verſöhnt, unentſchuldbar. Die herbe Unmittelbarkeit der Farbe kann künſtleriſch bezwungen werden, ohne daß doch ihre locale Entſchiedenheit in lauter ſchwebende Ueberleitun- gen und Vermittlungen aufgelöst wird. Was den Inhalt betrifft, ſo hängt ſolche Magie mit der Neigung zu einem phantaſtiſchen Hexen-Elemente innerlich nothwendig zuſammen; überhaupt iſt ja dieſe Behandlung der Farbe nur eine Seite der Ueberſteigerung, von welcher vorhin im Allgemei- nen die Rede geweſen iſt, ſie wird daher auch auf Koſten des Adels der Geſtalt gehen, und ſo dämmert denn bei Rembrandt eine bäuriſch wilde Form aus dem Zauberſcheine ſeines Helldunkels, worin die äußerſt conſumirte Farbe ſchwül verzittert, wie ein Traumbild phantaſmagoriſch hervor. Alle dieſe Erwägungen führen uns nun auf den Hauptſatz, der ſie zugleich erläutert und ergänzt. §. 674. Das Wahre in dem Zurücktreten des Gegenſtands gegen die Bedeutung der Farbe iſt dieß, daß, wie an die Zeichnung das Prinzip der directen Idea- liſirung (vergl. §. 662), ſo an die Farbengebung das Prinzip der indirecten Idealiſirung ſich anſchließt. Wir haben die Steigerung des Colorits auf jener gefährlichen Spitze, wo ſie zur Einſeitigkeit wird, aus einer Oppoſition erklärt und das Prinzip,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/83>, abgerufen am 20.04.2024.