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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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wo der Punct nicht zu bestimmen ist, auf dem die eine Farbe aufhört,
die andere beginnt. Hier vorzüglich wohnt das Geheimniß des Concre-
ten, des Individuellen, des Lebens. Die schließliche Aufgabe dieser allge-
meinen abtonenden, dämpfenden Behandlung spricht der Schluß des §.
aus. Daß die Farbe ihrem Wesen nach ein Kochungsproduct der inner-
sten Stimmung des Individuums sei, leuchtet am klarsten an den organi-
schen Körpern ein; bei allen andern Erscheinungen müssen wir entschiede-
ner das Subjective hinzunehmen, die dunkle Farbensymbolik im menschli-
chen Gefühle, vermöge welcher selbst einem solchen Ganzen, das objectiv
von keiner eigentlichen Stimmung weiß, eine solche untergeschoben wird.
Diese subjective Leihung aber hinzugenommen werden uns selbst Pflanzen,
Erde, Luft, Wasser, Licht in ihren Verbindungen als so oder so gestimmte
Individuen erscheinen, auf die wir nun ebenfalls den Satz anzuwenden
haben, daß ihre Farbe als ein reifes, durcharbeitetes Kochungsproduct ih-
rer innern Stimmung erscheinen soll. Nun verschmelzt freilich die Natur
selbst ihr Farbenreich in unendlich concreter Weise, aber diese Kochung
soll so zu sagen in der Kunst noch einmal gekocht werden, so daß sich das
Ganze der künstlerischen Färbung zur Naturfärbung verhält wie die or-
ganisch verkochte Farbe der Bedeckungen höherer Thiere und des Men-
schenleibs zu dem abstract einfachen Farbenschimmer des Papagais oder
Schmetterlings. Und ebendahin führt ja die Aufgabe, das Farbenmate-
rial zu bezwingen, daß es nicht wie bei dem bloßen Illuminiren, als
"eine an der Oberfläche der Erscheinung selbständig haftende Materie"
(M. Unger a. a. O. S. 125) sich geltend mache. -- Haben falsche Idea-
listen gegen unser erstes Gesetz (§. 669) durch Abschwächung aller Farbe
in's Matte gesündigt, so spottet umgekehrt nicht nur eine rauhe Härte,
von der wir das ziegelrothe Fleisch als Beispiel angeführt haben, sondern
auch, freilich in anderer Weise, eine, namentlich in der neueren Zeit ver-
breitete, Effectmalerei dieses zweiten Gesetzes; die letztere, indem sie durch
eine üppig kitzelnde Pracht der ungetilgten Unmittelbarkeit der Farbe reizt.
Lindert und läutert ächte Kunst die Natur, so verachten dagegen diese
Schönfärber selbst die Milde und Bescheidenheit, welche sie trotz und neben
dem Grellen wirklich hat, und sofern auch sie die Härten im Vorbilde zu
mildern sich das Ansehen geben, thun sie es in der Form einer Süßig-
keit, die an buntgefärbte Liqueurs und an die Werke des Zuckerbäckers
erinnert.

§. 672.

Ein unendliches Gebiet neuer Uebergänge und Mischungen der Farbe ent-
steht nun durch ihre Verbindung mit Licht und Dunkel. In eigenthümlichen

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 38

wo der Punct nicht zu beſtimmen iſt, auf dem die eine Farbe aufhört,
die andere beginnt. Hier vorzüglich wohnt das Geheimniß des Concre-
ten, des Individuellen, des Lebens. Die ſchließliche Aufgabe dieſer allge-
meinen abtonenden, dämpfenden Behandlung ſpricht der Schluß des §.
aus. Daß die Farbe ihrem Weſen nach ein Kochungsproduct der inner-
ſten Stimmung des Individuums ſei, leuchtet am klarſten an den organi-
ſchen Körpern ein; bei allen andern Erſcheinungen müſſen wir entſchiede-
ner das Subjective hinzunehmen, die dunkle Farbenſymbolik im menſchli-
chen Gefühle, vermöge welcher ſelbſt einem ſolchen Ganzen, das objectiv
von keiner eigentlichen Stimmung weiß, eine ſolche untergeſchoben wird.
Dieſe ſubjective Leihung aber hinzugenommen werden uns ſelbſt Pflanzen,
Erde, Luft, Waſſer, Licht in ihren Verbindungen als ſo oder ſo geſtimmte
Individuen erſcheinen, auf die wir nun ebenfalls den Satz anzuwenden
haben, daß ihre Farbe als ein reifes, durcharbeitetes Kochungsproduct ih-
rer innern Stimmung erſcheinen ſoll. Nun verſchmelzt freilich die Natur
ſelbſt ihr Farbenreich in unendlich concreter Weiſe, aber dieſe Kochung
ſoll ſo zu ſagen in der Kunſt noch einmal gekocht werden, ſo daß ſich das
Ganze der künſtleriſchen Färbung zur Naturfärbung verhält wie die or-
ganiſch verkochte Farbe der Bedeckungen höherer Thiere und des Men-
ſchenleibs zu dem abſtract einfachen Farbenſchimmer des Papagais oder
Schmetterlings. Und ebendahin führt ja die Aufgabe, das Farbenmate-
rial zu bezwingen, daß es nicht wie bei dem bloßen Illuminiren, als
„eine an der Oberfläche der Erſcheinung ſelbſtändig haftende Materie“
(M. Unger a. a. O. S. 125) ſich geltend mache. — Haben falſche Idea-
liſten gegen unſer erſtes Geſetz (§. 669) durch Abſchwächung aller Farbe
in’s Matte geſündigt, ſo ſpottet umgekehrt nicht nur eine rauhe Härte,
von der wir das ziegelrothe Fleiſch als Beiſpiel angeführt haben, ſondern
auch, freilich in anderer Weiſe, eine, namentlich in der neueren Zeit ver-
breitete, Effectmalerei dieſes zweiten Geſetzes; die letztere, indem ſie durch
eine üppig kitzelnde Pracht der ungetilgten Unmittelbarkeit der Farbe reizt.
Lindert und läutert ächte Kunſt die Natur, ſo verachten dagegen dieſe
Schönfärber ſelbſt die Milde und Beſcheidenheit, welche ſie trotz und neben
dem Grellen wirklich hat, und ſofern auch ſie die Härten im Vorbilde zu
mildern ſich das Anſehen geben, thun ſie es in der Form einer Süßig-
keit, die an buntgefärbte Liqueurs und an die Werke des Zuckerbäckers
erinnert.

§. 672.

Ein unendliches Gebiet neuer Uebergänge und Miſchungen der Farbe ent-
ſteht nun durch ihre Verbindung mit Licht und Dunkel. In eigenthümlichen

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 38
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[569/0077] wo der Punct nicht zu beſtimmen iſt, auf dem die eine Farbe aufhört, die andere beginnt. Hier vorzüglich wohnt das Geheimniß des Concre- ten, des Individuellen, des Lebens. Die ſchließliche Aufgabe dieſer allge- meinen abtonenden, dämpfenden Behandlung ſpricht der Schluß des §. aus. Daß die Farbe ihrem Weſen nach ein Kochungsproduct der inner- ſten Stimmung des Individuums ſei, leuchtet am klarſten an den organi- ſchen Körpern ein; bei allen andern Erſcheinungen müſſen wir entſchiede- ner das Subjective hinzunehmen, die dunkle Farbenſymbolik im menſchli- chen Gefühle, vermöge welcher ſelbſt einem ſolchen Ganzen, das objectiv von keiner eigentlichen Stimmung weiß, eine ſolche untergeſchoben wird. Dieſe ſubjective Leihung aber hinzugenommen werden uns ſelbſt Pflanzen, Erde, Luft, Waſſer, Licht in ihren Verbindungen als ſo oder ſo geſtimmte Individuen erſcheinen, auf die wir nun ebenfalls den Satz anzuwenden haben, daß ihre Farbe als ein reifes, durcharbeitetes Kochungsproduct ih- rer innern Stimmung erſcheinen ſoll. Nun verſchmelzt freilich die Natur ſelbſt ihr Farbenreich in unendlich concreter Weiſe, aber dieſe Kochung ſoll ſo zu ſagen in der Kunſt noch einmal gekocht werden, ſo daß ſich das Ganze der künſtleriſchen Färbung zur Naturfärbung verhält wie die or- ganiſch verkochte Farbe der Bedeckungen höherer Thiere und des Men- ſchenleibs zu dem abſtract einfachen Farbenſchimmer des Papagais oder Schmetterlings. Und ebendahin führt ja die Aufgabe, das Farbenmate- rial zu bezwingen, daß es nicht wie bei dem bloßen Illuminiren, als „eine an der Oberfläche der Erſcheinung ſelbſtändig haftende Materie“ (M. Unger a. a. O. S. 125) ſich geltend mache. — Haben falſche Idea- liſten gegen unſer erſtes Geſetz (§. 669) durch Abſchwächung aller Farbe in’s Matte geſündigt, ſo ſpottet umgekehrt nicht nur eine rauhe Härte, von der wir das ziegelrothe Fleiſch als Beiſpiel angeführt haben, ſondern auch, freilich in anderer Weiſe, eine, namentlich in der neueren Zeit ver- breitete, Effectmalerei dieſes zweiten Geſetzes; die letztere, indem ſie durch eine üppig kitzelnde Pracht der ungetilgten Unmittelbarkeit der Farbe reizt. Lindert und läutert ächte Kunſt die Natur, ſo verachten dagegen dieſe Schönfärber ſelbſt die Milde und Beſcheidenheit, welche ſie trotz und neben dem Grellen wirklich hat, und ſofern auch ſie die Härten im Vorbilde zu mildern ſich das Anſehen geben, thun ſie es in der Form einer Süßig- keit, die an buntgefärbte Liqueurs und an die Werke des Zuckerbäckers erinnert. §. 672. Ein unendliches Gebiet neuer Uebergänge und Miſchungen der Farbe ent- ſteht nun durch ihre Verbindung mit Licht und Dunkel. In eigenthümlichen Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 38

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 569. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/77>, abgerufen am 29.03.2024.