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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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auf sich nimmt; wir werden von ihrer stark umrissenen Gestalt leise fort-
gezogen in die Ferne, wo Alles sich im leichten Aether des Allgemeinen
verflüchtigt, Mensch und Thier und Berg und Thal nur noch leicht hin-
gehaucht erscheint, aber die befriedigte Sehnsucht nach Auflösung kehrt
auch zum Rechte der Existenz, zur Lust am Gesättigten und herb Entschie-
denen des Daseins zurück. Es ist ähnlich wie im Drama: der Hinter-
tergrund im Bild verhält sich zum Vordergrunde wie das Schicksal zum
Heiden; die drei Gründe entsprechen den Acten, denen immer eine Drei-
zahl zu Grunde liegt, die sich ebenso natürlich zu einer Fünfzahl erwei-
tert, wie sich auch die drei Gründe nicht in abstracter Bestimmtheit unter-
scheiden. Anders und einfacher stellt sich die Sache allerdings, wenn der
ästhetische Nachdruck mehr auf dem allgemeinen Naturleben, als auf dem
individuellen Dasein liegt, wie in der Landschaft. Es sind zwar auch
hier verschiedene Verhältnisse der ästhetischen Geltung beider Seiten mög-
lich und danach wird sich die Anordnung bestimmen, aber es ist nicht
nothwendig, daß der Vordergrund oder nähere Mittelgrund von großer
Bedeutung sei, alle Wirkung kann sich in der Ferne concentriren und
das Nahe, obwohl natürlich nicht werthlos, doch mehr nur bestimmt sein,
durch energischen Gegenschlag die Idealität im Hintergrund in's Licht zu
setzen.

2. Haltung erkennt man einem Bilde zu, wenn Alles auf ihm Dar-
gestellte seinen Plan oder Grund deutlich einnimmt, nicht in einen andern
sich hinüberdrängt, mit dem, was auf demselben Grund steht, sich über-
zeugend für das Auge zusammenräumt, wenn das Ganze der verschiedenen
Pläne klar und entschieden vor und zurücktritt, sich abhebt und so ein
Werk vor uns steht, das in Beziehung auf die Abstufungen der Tiefe
uns die Genugthuung innerer Harmonie gibt. Der Begriff wird deut-
lich durch sein Entgegengesetztes, worauf das Wort Haltung weist: ein
Durch- und Uebereinanderfallen. Es wirken zu dieser Art der Wohl-
ordnung alle bis hieher dargestellten Mittel vereinigt zusammen, die
Zeichnung, die Linearperspective, die Lichter und Schatten, vorzüglich aber
die Luftperspective. Die letzteren Gebiete haben wir noch nicht erschöpft
und doch scheint der Begriff der Haltung dieß vorauszusetzen, ja er be-
rührt sich innig mit einer noch viel tieferen Seite, nämlich der inneren
Wohlordnung der Composition, deren Erörterung wir erst ganz von Wei-
tem vorbereitet haben. Die Sache verhält sich aber so, daß die Haltung
auf diese tieferen Eigenschaften zwar hinweist, aber selbst nur den äußern
Niederschlag derselben darstellt: die innere Genugthuung, wie sie aus der
tieferen Harmonie des ganzen Baus und der Stimmung fließt, verläuft
sich in eine Genugthuung für das Raumgefühl, geschöpft aus der An-
schauung eines festen Rhythmus in den Taktschlägen der örtlichen Ver-

auf ſich nimmt; wir werden von ihrer ſtark umriſſenen Geſtalt leiſe fort-
gezogen in die Ferne, wo Alles ſich im leichten Aether des Allgemeinen
verflüchtigt, Menſch und Thier und Berg und Thal nur noch leicht hin-
gehaucht erſcheint, aber die befriedigte Sehnſucht nach Auflöſung kehrt
auch zum Rechte der Exiſtenz, zur Luſt am Geſättigten und herb Entſchie-
denen des Daſeins zurück. Es iſt ähnlich wie im Drama: der Hinter-
tergrund im Bild verhält ſich zum Vordergrunde wie das Schickſal zum
Heiden; die drei Gründe entſprechen den Acten, denen immer eine Drei-
zahl zu Grunde liegt, die ſich ebenſo natürlich zu einer Fünfzahl erwei-
tert, wie ſich auch die drei Gründe nicht in abſtracter Beſtimmtheit unter-
ſcheiden. Anders und einfacher ſtellt ſich die Sache allerdings, wenn der
äſthetiſche Nachdruck mehr auf dem allgemeinen Naturleben, als auf dem
individuellen Daſein liegt, wie in der Landſchaft. Es ſind zwar auch
hier verſchiedene Verhältniſſe der äſthetiſchen Geltung beider Seiten mög-
lich und danach wird ſich die Anordnung beſtimmen, aber es iſt nicht
nothwendig, daß der Vordergrund oder nähere Mittelgrund von großer
Bedeutung ſei, alle Wirkung kann ſich in der Ferne concentriren und
das Nahe, obwohl natürlich nicht werthlos, doch mehr nur beſtimmt ſein,
durch energiſchen Gegenſchlag die Idealität im Hintergrund in’s Licht zu
ſetzen.

2. Haltung erkennt man einem Bilde zu, wenn Alles auf ihm Dar-
geſtellte ſeinen Plan oder Grund deutlich einnimmt, nicht in einen andern
ſich hinüberdrängt, mit dem, was auf demſelben Grund ſteht, ſich über-
zeugend für das Auge zuſammenräumt, wenn das Ganze der verſchiedenen
Pläne klar und entſchieden vor und zurücktritt, ſich abhebt und ſo ein
Werk vor uns ſteht, das in Beziehung auf die Abſtufungen der Tiefe
uns die Genugthuung innerer Harmonie gibt. Der Begriff wird deut-
lich durch ſein Entgegengeſetztes, worauf das Wort Haltung weist: ein
Durch- und Uebereinanderfallen. Es wirken zu dieſer Art der Wohl-
ordnung alle bis hieher dargeſtellten Mittel vereinigt zuſammen, die
Zeichnung, die Linearperſpective, die Lichter und Schatten, vorzüglich aber
die Luftperſpective. Die letzteren Gebiete haben wir noch nicht erſchöpft
und doch ſcheint der Begriff der Haltung dieß vorauszuſetzen, ja er be-
rührt ſich innig mit einer noch viel tieferen Seite, nämlich der inneren
Wohlordnung der Compoſition, deren Erörterung wir erſt ganz von Wei-
tem vorbereitet haben. Die Sache verhält ſich aber ſo, daß die Haltung
auf dieſe tieferen Eigenſchaften zwar hinweist, aber ſelbſt nur den äußern
Niederſchlag derſelben darſtellt: die innere Genugthuung, wie ſie aus der
tieferen Harmonie des ganzen Baus und der Stimmung fließt, verläuft
ſich in eine Genugthuung für das Raumgefühl, geſchöpft aus der An-
ſchauung eines feſten Rhythmus in den Taktſchlägen der örtlichen Ver-

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[560/0068] auf ſich nimmt; wir werden von ihrer ſtark umriſſenen Geſtalt leiſe fort- gezogen in die Ferne, wo Alles ſich im leichten Aether des Allgemeinen verflüchtigt, Menſch und Thier und Berg und Thal nur noch leicht hin- gehaucht erſcheint, aber die befriedigte Sehnſucht nach Auflöſung kehrt auch zum Rechte der Exiſtenz, zur Luſt am Geſättigten und herb Entſchie- denen des Daſeins zurück. Es iſt ähnlich wie im Drama: der Hinter- tergrund im Bild verhält ſich zum Vordergrunde wie das Schickſal zum Heiden; die drei Gründe entſprechen den Acten, denen immer eine Drei- zahl zu Grunde liegt, die ſich ebenſo natürlich zu einer Fünfzahl erwei- tert, wie ſich auch die drei Gründe nicht in abſtracter Beſtimmtheit unter- ſcheiden. Anders und einfacher ſtellt ſich die Sache allerdings, wenn der äſthetiſche Nachdruck mehr auf dem allgemeinen Naturleben, als auf dem individuellen Daſein liegt, wie in der Landſchaft. Es ſind zwar auch hier verſchiedene Verhältniſſe der äſthetiſchen Geltung beider Seiten mög- lich und danach wird ſich die Anordnung beſtimmen, aber es iſt nicht nothwendig, daß der Vordergrund oder nähere Mittelgrund von großer Bedeutung ſei, alle Wirkung kann ſich in der Ferne concentriren und das Nahe, obwohl natürlich nicht werthlos, doch mehr nur beſtimmt ſein, durch energiſchen Gegenſchlag die Idealität im Hintergrund in’s Licht zu ſetzen. 2. Haltung erkennt man einem Bilde zu, wenn Alles auf ihm Dar- geſtellte ſeinen Plan oder Grund deutlich einnimmt, nicht in einen andern ſich hinüberdrängt, mit dem, was auf demſelben Grund ſteht, ſich über- zeugend für das Auge zuſammenräumt, wenn das Ganze der verſchiedenen Pläne klar und entſchieden vor und zurücktritt, ſich abhebt und ſo ein Werk vor uns ſteht, das in Beziehung auf die Abſtufungen der Tiefe uns die Genugthuung innerer Harmonie gibt. Der Begriff wird deut- lich durch ſein Entgegengeſetztes, worauf das Wort Haltung weist: ein Durch- und Uebereinanderfallen. Es wirken zu dieſer Art der Wohl- ordnung alle bis hieher dargeſtellten Mittel vereinigt zuſammen, die Zeichnung, die Linearperſpective, die Lichter und Schatten, vorzüglich aber die Luftperſpective. Die letzteren Gebiete haben wir noch nicht erſchöpft und doch ſcheint der Begriff der Haltung dieß vorauszuſetzen, ja er be- rührt ſich innig mit einer noch viel tieferen Seite, nämlich der inneren Wohlordnung der Compoſition, deren Erörterung wir erſt ganz von Wei- tem vorbereitet haben. Die Sache verhält ſich aber ſo, daß die Haltung auf dieſe tieferen Eigenſchaften zwar hinweist, aber ſelbſt nur den äußern Niederſchlag derſelben darſtellt: die innere Genugthuung, wie ſie aus der tieferen Harmonie des ganzen Baus und der Stimmung fließt, verläuft ſich in eine Genugthuung für das Raumgefühl, geſchöpft aus der An- ſchauung eines feſten Rhythmus in den Taktſchlägen der örtlichen Ver-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/68>, abgerufen am 24.04.2024.