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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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stehen; die Reihe der Gegenstände soll eine organische Beziehung auf das
Ganze des Gebäudes, die einzelnen Gegenstände auf den Theil desselben
haben, den sie schmücken, auch in der Weise der Behandlung soll diese
Beziehung berücksichtigt werden. Das Staffelei-Bild dagegen ist trans-
portabel, von der bleibenden Verbindung mit der Architektur gelöst und
diese Lösung entspricht ganz dem Wesen der Malerei als einer innerlichen,
aus dem Innern den fliegenden Schein da oder dorthin frei werfenden
Kunst, die denn, auch in diesem äußerlichen Sinne beweglich, es gestattet,
daß ihr Werk nach Bequemlichkeit und Stimmung in diesen oder jenen
Raum versetzt und zur bequemeren Betrachtung aufgestellt werde. Doch
hat auch diese Willkühr natürlich ihre Grenze: das Werk soll zum Raume
stimmen, der Raum auf das Werk hinweisen; Sammlungen, Galerien,
obwohl, wie die Verhältnisse einmal liegen, gut und unentbehrlich, sind
an sich Unnatur (vergl. §. 507 Anm. 2.). Die strengere Beziehung ist
natürlich für das größere Werk gefordert, das in bedeutungsvollem öffent-
lichem Raume aufgehängt wird und sich dem monumentalen Charakter
des Wandbildes nähert; ungleich mehr Willkühr steht der Aufstellung im Pri-
vathause zu, doch ist es auch hier eine Geschmacklosigkeit, wenn Großes
und groß Behandeltes, Tragisches, dem Raume des täglichen Wohnbe-
dürfnisses angeheftet wird; übrigens tritt auch ein gegensätzliches Motiv
in's Spiel und gerade z. B. die Wände, zwischen denen der Nordländer
seine Winter verlebt, mag er gern mit Bildern südlicher Landschaft
schmücken.

2. Die Willkühr in den Größenverhältnissen, wie sie im Wesen der
Malerei liegt, ist doch keine unbeschränkte. Es bleibt eine absolute For-
derung des Auges übrig, die von jenem allgemeinen Gesetze, daß ein Werk
der Kunst nicht zu groß und nicht zu klein sein soll (§. 36, 1.), noch
zu unterscheiden ist. Es ist vornämlich das Extrem des Kleinen, wovon
es sich hier handelt, denn es versteht sich, daß durch die Relativität der
Größen eine Versuchung für die Malerei zunächst von dieser Seite her
nahe liegt. Das Auge will nicht nur, daß der Gegenstand ohne beson-
dere Anstrengung sichtbar, in seinen Theilen unterscheidbar sei, es will auch
eine Größe, die ihm die zureichende Bahn gibt, auszulaufen, mit dem nöthigen
tenor sich zu bewegen, es will nicht zu bald fertig sein, es will eine Zeit,
sonst schlüpft ihm der Gegenstand, wie zu kleine Geldmünze zwischen den
Fingern durchfällt, zwischen den Sehnerven und der innern Anschauung
hinweg. Kleinheit in dem Maaße, dessen Grenze hiemit bezeichnet ist,
entspricht nun vermöge eines natürlichen symbolischen Verhältnisses zwischen
Maaßstab und Nachdruck, Behandlung, sowie localer Bestimmung des Ge-
genstands, vorzüglich genre-artigen oder genreartig, etwa auch hu-
moristisch, satyrisch behandelten Stoffen; solche in heroisch großen Formen

ſtehen; die Reihe der Gegenſtände ſoll eine organiſche Beziehung auf das
Ganze des Gebäudes, die einzelnen Gegenſtände auf den Theil deſſelben
haben, den ſie ſchmücken, auch in der Weiſe der Behandlung ſoll dieſe
Beziehung berückſichtigt werden. Das Staffelei-Bild dagegen iſt trans-
portabel, von der bleibenden Verbindung mit der Architektur gelöst und
dieſe Löſung entſpricht ganz dem Weſen der Malerei als einer innerlichen,
aus dem Innern den fliegenden Schein da oder dorthin frei werfenden
Kunſt, die denn, auch in dieſem äußerlichen Sinne beweglich, es geſtattet,
daß ihr Werk nach Bequemlichkeit und Stimmung in dieſen oder jenen
Raum verſetzt und zur bequemeren Betrachtung aufgeſtellt werde. Doch
hat auch dieſe Willkühr natürlich ihre Grenze: das Werk ſoll zum Raume
ſtimmen, der Raum auf das Werk hinweiſen; Sammlungen, Galerien,
obwohl, wie die Verhältniſſe einmal liegen, gut und unentbehrlich, ſind
an ſich Unnatur (vergl. §. 507 Anm. 2.). Die ſtrengere Beziehung iſt
natürlich für das größere Werk gefordert, das in bedeutungsvollem öffent-
lichem Raume aufgehängt wird und ſich dem monumentalen Charakter
des Wandbildes nähert; ungleich mehr Willkühr ſteht der Aufſtellung im Pri-
vathauſe zu, doch iſt es auch hier eine Geſchmackloſigkeit, wenn Großes
und groß Behandeltes, Tragiſches, dem Raume des täglichen Wohnbe-
dürfniſſes angeheftet wird; übrigens tritt auch ein gegenſätzliches Motiv
in’s Spiel und gerade z. B. die Wände, zwiſchen denen der Nordländer
ſeine Winter verlebt, mag er gern mit Bildern ſüdlicher Landſchaft
ſchmücken.

2. Die Willkühr in den Größenverhältniſſen, wie ſie im Weſen der
Malerei liegt, iſt doch keine unbeſchränkte. Es bleibt eine abſolute For-
derung des Auges übrig, die von jenem allgemeinen Geſetze, daß ein Werk
der Kunſt nicht zu groß und nicht zu klein ſein ſoll (§. 36, 1.), noch
zu unterſcheiden iſt. Es iſt vornämlich das Extrem des Kleinen, wovon
es ſich hier handelt, denn es verſteht ſich, daß durch die Relativität der
Größen eine Verſuchung für die Malerei zunächſt von dieſer Seite her
nahe liegt. Das Auge will nicht nur, daß der Gegenſtand ohne beſon-
dere Anſtrengung ſichtbar, in ſeinen Theilen unterſcheidbar ſei, es will auch
eine Größe, die ihm die zureichende Bahn gibt, auszulaufen, mit dem nöthigen
tenor ſich zu bewegen, es will nicht zu bald fertig ſein, es will eine Zeit,
ſonſt ſchlüpft ihm der Gegenſtand, wie zu kleine Geldmünze zwiſchen den
Fingern durchfällt, zwiſchen den Sehnerven und der innern Anſchauung
hinweg. Kleinheit in dem Maaße, deſſen Grenze hiemit bezeichnet iſt,
entſpricht nun vermöge eines natürlichen ſymboliſchen Verhältniſſes zwiſchen
Maaßſtab und Nachdruck, Behandlung, ſowie localer Beſtimmung des Ge-
genſtands, vorzüglich genre-artigen oder genreartig, etwa auch hu-
moriſtiſch, ſatyriſch behandelten Stoffen; ſolche in heroiſch großen Formen

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[544/0052] ſtehen; die Reihe der Gegenſtände ſoll eine organiſche Beziehung auf das Ganze des Gebäudes, die einzelnen Gegenſtände auf den Theil deſſelben haben, den ſie ſchmücken, auch in der Weiſe der Behandlung ſoll dieſe Beziehung berückſichtigt werden. Das Staffelei-Bild dagegen iſt trans- portabel, von der bleibenden Verbindung mit der Architektur gelöst und dieſe Löſung entſpricht ganz dem Weſen der Malerei als einer innerlichen, aus dem Innern den fliegenden Schein da oder dorthin frei werfenden Kunſt, die denn, auch in dieſem äußerlichen Sinne beweglich, es geſtattet, daß ihr Werk nach Bequemlichkeit und Stimmung in dieſen oder jenen Raum verſetzt und zur bequemeren Betrachtung aufgeſtellt werde. Doch hat auch dieſe Willkühr natürlich ihre Grenze: das Werk ſoll zum Raume ſtimmen, der Raum auf das Werk hinweiſen; Sammlungen, Galerien, obwohl, wie die Verhältniſſe einmal liegen, gut und unentbehrlich, ſind an ſich Unnatur (vergl. §. 507 Anm. 2.). Die ſtrengere Beziehung iſt natürlich für das größere Werk gefordert, das in bedeutungsvollem öffent- lichem Raume aufgehängt wird und ſich dem monumentalen Charakter des Wandbildes nähert; ungleich mehr Willkühr ſteht der Aufſtellung im Pri- vathauſe zu, doch iſt es auch hier eine Geſchmackloſigkeit, wenn Großes und groß Behandeltes, Tragiſches, dem Raume des täglichen Wohnbe- dürfniſſes angeheftet wird; übrigens tritt auch ein gegenſätzliches Motiv in’s Spiel und gerade z. B. die Wände, zwiſchen denen der Nordländer ſeine Winter verlebt, mag er gern mit Bildern ſüdlicher Landſchaft ſchmücken. 2. Die Willkühr in den Größenverhältniſſen, wie ſie im Weſen der Malerei liegt, iſt doch keine unbeſchränkte. Es bleibt eine abſolute For- derung des Auges übrig, die von jenem allgemeinen Geſetze, daß ein Werk der Kunſt nicht zu groß und nicht zu klein ſein ſoll (§. 36, 1.), noch zu unterſcheiden iſt. Es iſt vornämlich das Extrem des Kleinen, wovon es ſich hier handelt, denn es verſteht ſich, daß durch die Relativität der Größen eine Verſuchung für die Malerei zunächſt von dieſer Seite her nahe liegt. Das Auge will nicht nur, daß der Gegenſtand ohne beſon- dere Anſtrengung ſichtbar, in ſeinen Theilen unterſcheidbar ſei, es will auch eine Größe, die ihm die zureichende Bahn gibt, auszulaufen, mit dem nöthigen tenor ſich zu bewegen, es will nicht zu bald fertig ſein, es will eine Zeit, ſonſt ſchlüpft ihm der Gegenſtand, wie zu kleine Geldmünze zwiſchen den Fingern durchfällt, zwiſchen den Sehnerven und der innern Anſchauung hinweg. Kleinheit in dem Maaße, deſſen Grenze hiemit bezeichnet iſt, entſpricht nun vermöge eines natürlichen ſymboliſchen Verhältniſſes zwiſchen Maaßſtab und Nachdruck, Behandlung, ſowie localer Beſtimmung des Ge- genſtands, vorzüglich genre-artigen oder genreartig, etwa auch hu- moriſtiſch, ſatyriſch behandelten Stoffen; ſolche in heroiſch großen Formen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 544. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/52>, abgerufen am 18.04.2024.