Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

in Geltung, wenn die Composition nicht mehrere Gestalten verbindet;
überdieß ist durch diesen Satztheil dafür gesorgt, daß das "nicht schön
sein Müssen" nicht als ein Zufall, sondern als ein künstlerisches Wollen
verstanden werde. Das Verhältniß ist also jetzt umgekehrt; von der Bild-
nerkunst hieß es (§. 603 Anm.): "schlechtweg allerdings kann das diesem
Prinzip der directen Idealisirung entgegenstehende von der Plastik nicht
ausgeschlossen sein, sonst hätte sie keine Bewegung und Geschichte"; jetzt
gilt ebendieß von dem dort herrschenden Prinzip: es hat die Oberhand
verloren, denn das entgegegesetzte herrscht, aber es kann nicht völlig ausge-
schlossen sein. An welche Seite der Technik sich das relative Fortbestehen
des überwundenen Prinzips knüpft, warum dieß Fortbestehen eine Lebens-
bedingung unserer Kunst, in welche nähere Schranken es gewiesen ist,
welche furchtbaren Wirkungen es für die Geschichte der Malerei hat, Alles
dieß wird der Verlauf zeigen. Daß es aber noch fortbesteht, haben wir
schon in der Anm. zu §. 655 durch den Satz ausgesprochen, daß die
Malerei darum, weil sie in gewissem Sinn ein Mißverhältniß zwischen
Form und Ausdruck liebt, keineswegs jeden reineren Adel der Form ohne
bestimmtes Motiv abweisen darf, daß zur malerischen Würze auch ein feiner
Absprung von der Durchschnittslinie genügen kann. Dieser Absprung wird
immer nicht so fein sein, wie jene zarte Modification in der Plastik, aber
was im Marmor schon hart erscheinen würde, stört in der Farbe den
Eindruck glücklicher und vorzugsweise reiner Form-Entwicklung noch nicht.
Dieß ist jedoch nur erst unbestimmt, nur eine ungefähre Vorbereitung auf
die bestimmteren Sätze, die sich aus der weiteren Auseinandersetzung er-
geben sollen.

§. 658.

Wenn dieses Prinzip verbietet, auf den Boden der plastischen Schönheit
überzutreten, so kann auf der andern Seite die Verfolgung desselben zur Ver-
kennung gewisser Schranken führen, welche durch die noch nicht aufgegebene
Feßlung des zeitlich Bewegten im Raume (vergl. §. 650) gesetzt sind, woraus
Uebergriffe in die Auffassungsweise solcher Künste entstehen, die in der Form
der wirklichen Bewegung darstellen.

Jede Kunst hat ihre Versuchungen, ihre Stellung unter den andern
Künsten reizt sie zum Wetteifer, das Bewußtsein der Einheit aller Künste
(§. 542 ff.) verschwemmt leicht die Erinnerung der Gesetze, welche im
Gemeinschaftlichen die Selbständigkeit jeder Kunst hüten sollen. Es ent-
stehen so theils Rückgriffe, theils Vorgriffe. Die Baukunst kann sich nur
durch Vorgriffe verirren; wir sahen sie ihren Boden verlieren und

in Geltung, wenn die Compoſition nicht mehrere Geſtalten verbindet;
überdieß iſt durch dieſen Satztheil dafür geſorgt, daß das „nicht ſchön
ſein Müſſen“ nicht als ein Zufall, ſondern als ein künſtleriſches Wollen
verſtanden werde. Das Verhältniß iſt alſo jetzt umgekehrt; von der Bild-
nerkunſt hieß es (§. 603 Anm.): „ſchlechtweg allerdings kann das dieſem
Prinzip der directen Idealiſirung entgegenſtehende von der Plaſtik nicht
ausgeſchloſſen ſein, ſonſt hätte ſie keine Bewegung und Geſchichte“; jetzt
gilt ebendieß von dem dort herrſchenden Prinzip: es hat die Oberhand
verloren, denn das entgegegeſetzte herrſcht, aber es kann nicht völlig ausge-
ſchloſſen ſein. An welche Seite der Technik ſich das relative Fortbeſtehen
des überwundenen Prinzips knüpft, warum dieß Fortbeſtehen eine Lebens-
bedingung unſerer Kunſt, in welche nähere Schranken es gewieſen iſt,
welche furchtbaren Wirkungen es für die Geſchichte der Malerei hat, Alles
dieß wird der Verlauf zeigen. Daß es aber noch fortbeſteht, haben wir
ſchon in der Anm. zu §. 655 durch den Satz ausgeſprochen, daß die
Malerei darum, weil ſie in gewiſſem Sinn ein Mißverhältniß zwiſchen
Form und Ausdruck liebt, keineswegs jeden reineren Adel der Form ohne
beſtimmtes Motiv abweiſen darf, daß zur maleriſchen Würze auch ein feiner
Abſprung von der Durchſchnittslinie genügen kann. Dieſer Abſprung wird
immer nicht ſo fein ſein, wie jene zarte Modification in der Plaſtik, aber
was im Marmor ſchon hart erſcheinen würde, ſtört in der Farbe den
Eindruck glücklicher und vorzugsweiſe reiner Form-Entwicklung noch nicht.
Dieß iſt jedoch nur erſt unbeſtimmt, nur eine ungefähre Vorbereitung auf
die beſtimmteren Sätze, die ſich aus der weiteren Auseinanderſetzung er-
geben ſollen.

§. 658.

Wenn dieſes Prinzip verbietet, auf den Boden der plaſtiſchen Schönheit
überzutreten, ſo kann auf der andern Seite die Verfolgung deſſelben zur Ver-
kennung gewiſſer Schranken führen, welche durch die noch nicht aufgegebene
Feßlung des zeitlich Bewegten im Raume (vergl. §. 650) geſetzt ſind, woraus
Uebergriffe in die Auffaſſungsweiſe ſolcher Künſte entſtehen, die in der Form
der wirklichen Bewegung darſtellen.

Jede Kunſt hat ihre Verſuchungen, ihre Stellung unter den andern
Künſten reizt ſie zum Wetteifer, das Bewußtſein der Einheit aller Künſte
(§. 542 ff.) verſchwemmt leicht die Erinnerung der Geſetze, welche im
Gemeinſchaftlichen die Selbſtändigkeit jeder Kunſt hüten ſollen. Es ent-
ſtehen ſo theils Rückgriffe, theils Vorgriffe. Die Baukunſt kann ſich nur
durch Vorgriffe verirren; wir ſahen ſie ihren Boden verlieren und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0042" n="534"/>
in Geltung, wenn die Compo&#x017F;ition nicht mehrere Ge&#x017F;talten verbindet;<lb/>
überdieß i&#x017F;t durch die&#x017F;en Satztheil dafür ge&#x017F;orgt, daß das &#x201E;nicht &#x017F;chön<lb/>
&#x017F;ein Mü&#x017F;&#x017F;en&#x201C; nicht als ein Zufall, &#x017F;ondern als ein kün&#x017F;tleri&#x017F;ches Wollen<lb/>
ver&#x017F;tanden werde. Das Verhältniß i&#x017F;t al&#x017F;o jetzt umgekehrt; von der Bild-<lb/>
nerkun&#x017F;t hieß es (§. 603 Anm.): &#x201E;&#x017F;chlechtweg allerdings kann das die&#x017F;em<lb/>
Prinzip der directen Ideali&#x017F;irung entgegen&#x017F;tehende von der Pla&#x017F;tik nicht<lb/>
ausge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ein, &#x017F;on&#x017F;t hätte &#x017F;ie keine Bewegung und Ge&#x017F;chichte&#x201C;; jetzt<lb/>
gilt ebendieß von dem <hi rendition="#g">dort</hi> herr&#x017F;chenden Prinzip: es hat die Oberhand<lb/>
verloren, denn das entgegege&#x017F;etzte herr&#x017F;cht, aber es kann nicht völlig ausge-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ein. An welche Seite der Technik &#x017F;ich das relative Fortbe&#x017F;tehen<lb/>
des überwundenen Prinzips knüpft, warum dieß Fortbe&#x017F;tehen eine Lebens-<lb/>
bedingung un&#x017F;erer Kun&#x017F;t, in welche nähere Schranken es gewie&#x017F;en i&#x017F;t,<lb/>
welche furchtbaren Wirkungen es für die Ge&#x017F;chichte der Malerei hat, Alles<lb/>
dieß wird der Verlauf zeigen. <hi rendition="#g">Daß</hi> es aber noch fortbe&#x017F;teht, haben wir<lb/>
&#x017F;chon in der Anm. zu §. 655 durch den Satz ausge&#x017F;prochen, daß die<lb/>
Malerei darum, weil &#x017F;ie in gewi&#x017F;&#x017F;em Sinn ein Mißverhältniß zwi&#x017F;chen<lb/>
Form und Ausdruck liebt, keineswegs jeden reineren Adel der Form ohne<lb/>
be&#x017F;timmtes Motiv abwei&#x017F;en darf, daß zur maleri&#x017F;chen Würze auch ein feiner<lb/>
Ab&#x017F;prung von der Durch&#x017F;chnittslinie genügen kann. Die&#x017F;er Ab&#x017F;prung wird<lb/>
immer nicht &#x017F;o fein &#x017F;ein, wie jene zarte Modification in der Pla&#x017F;tik, aber<lb/>
was im Marmor &#x017F;chon hart er&#x017F;cheinen würde, &#x017F;tört in der Farbe den<lb/>
Eindruck glücklicher und vorzugswei&#x017F;e reiner Form-Entwicklung noch nicht.<lb/>
Dieß i&#x017F;t jedoch nur er&#x017F;t unbe&#x017F;timmt, nur eine ungefähre Vorbereitung auf<lb/>
die be&#x017F;timmteren Sätze, die &#x017F;ich aus der weiteren Auseinander&#x017F;etzung er-<lb/>
geben &#x017F;ollen.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 658.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Wenn die&#x017F;es Prinzip verbietet, auf den Boden der pla&#x017F;ti&#x017F;chen Schönheit<lb/>
überzutreten, &#x017F;o kann auf der andern Seite die Verfolgung de&#x017F;&#x017F;elben zur Ver-<lb/>
kennung gewi&#x017F;&#x017F;er Schranken führen, welche durch die noch nicht aufgegebene<lb/>
Feßlung des zeitlich Bewegten im Raume (vergl. §. 650) ge&#x017F;etzt &#x017F;ind, woraus<lb/>
Uebergriffe in die Auffa&#x017F;&#x017F;ungswei&#x017F;e &#x017F;olcher Kün&#x017F;te ent&#x017F;tehen, die in der Form<lb/>
der wirklichen Bewegung dar&#x017F;tellen.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">Jede Kun&#x017F;t hat ihre Ver&#x017F;uchungen, ihre Stellung unter den andern<lb/>
Kün&#x017F;ten reizt &#x017F;ie zum Wetteifer, das Bewußt&#x017F;ein der Einheit aller Kün&#x017F;te<lb/>
(§. 542 ff.) ver&#x017F;chwemmt leicht die Erinnerung der Ge&#x017F;etze, welche im<lb/>
Gemein&#x017F;chaftlichen die Selb&#x017F;tändigkeit jeder Kun&#x017F;t hüten &#x017F;ollen. Es ent-<lb/>
&#x017F;tehen &#x017F;o theils Rückgriffe, theils Vorgriffe. Die Baukun&#x017F;t kann &#x017F;ich nur<lb/>
durch Vorgriffe verirren; wir &#x017F;ahen &#x017F;ie ihren Boden verlieren und<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[534/0042] in Geltung, wenn die Compoſition nicht mehrere Geſtalten verbindet; überdieß iſt durch dieſen Satztheil dafür geſorgt, daß das „nicht ſchön ſein Müſſen“ nicht als ein Zufall, ſondern als ein künſtleriſches Wollen verſtanden werde. Das Verhältniß iſt alſo jetzt umgekehrt; von der Bild- nerkunſt hieß es (§. 603 Anm.): „ſchlechtweg allerdings kann das dieſem Prinzip der directen Idealiſirung entgegenſtehende von der Plaſtik nicht ausgeſchloſſen ſein, ſonſt hätte ſie keine Bewegung und Geſchichte“; jetzt gilt ebendieß von dem dort herrſchenden Prinzip: es hat die Oberhand verloren, denn das entgegegeſetzte herrſcht, aber es kann nicht völlig ausge- ſchloſſen ſein. An welche Seite der Technik ſich das relative Fortbeſtehen des überwundenen Prinzips knüpft, warum dieß Fortbeſtehen eine Lebens- bedingung unſerer Kunſt, in welche nähere Schranken es gewieſen iſt, welche furchtbaren Wirkungen es für die Geſchichte der Malerei hat, Alles dieß wird der Verlauf zeigen. Daß es aber noch fortbeſteht, haben wir ſchon in der Anm. zu §. 655 durch den Satz ausgeſprochen, daß die Malerei darum, weil ſie in gewiſſem Sinn ein Mißverhältniß zwiſchen Form und Ausdruck liebt, keineswegs jeden reineren Adel der Form ohne beſtimmtes Motiv abweiſen darf, daß zur maleriſchen Würze auch ein feiner Abſprung von der Durchſchnittslinie genügen kann. Dieſer Abſprung wird immer nicht ſo fein ſein, wie jene zarte Modification in der Plaſtik, aber was im Marmor ſchon hart erſcheinen würde, ſtört in der Farbe den Eindruck glücklicher und vorzugsweiſe reiner Form-Entwicklung noch nicht. Dieß iſt jedoch nur erſt unbeſtimmt, nur eine ungefähre Vorbereitung auf die beſtimmteren Sätze, die ſich aus der weiteren Auseinanderſetzung er- geben ſollen. §. 658. Wenn dieſes Prinzip verbietet, auf den Boden der plaſtiſchen Schönheit überzutreten, ſo kann auf der andern Seite die Verfolgung deſſelben zur Ver- kennung gewiſſer Schranken führen, welche durch die noch nicht aufgegebene Feßlung des zeitlich Bewegten im Raume (vergl. §. 650) geſetzt ſind, woraus Uebergriffe in die Auffaſſungsweiſe ſolcher Künſte entſtehen, die in der Form der wirklichen Bewegung darſtellen. Jede Kunſt hat ihre Verſuchungen, ihre Stellung unter den andern Künſten reizt ſie zum Wetteifer, das Bewußtſein der Einheit aller Künſte (§. 542 ff.) verſchwemmt leicht die Erinnerung der Geſetze, welche im Gemeinſchaftlichen die Selbſtändigkeit jeder Kunſt hüten ſollen. Es ent- ſtehen ſo theils Rückgriffe, theils Vorgriffe. Die Baukunſt kann ſich nur durch Vorgriffe verirren; wir ſahen ſie ihren Boden verlieren und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/42
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/42>, abgerufen am 28.03.2024.