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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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dieser zerfallen und zugleich, als Quelle unendlichen Schmerzes, das volle
Bewußtsein dieses Zerfalles mehr oder minder entwickelt. Hiemit haben
wir nun freilich die geistige Einheit als Band der Vielheit aus dem Hin-
tergrunde, worin wir sie vorerst halten mußten, gerade auf der Spitze
ihrer scheinbaren Zurückstellung wieder hervorgezogen. Die Einheit muß
nun das Band in der ganzen Ausdehnung der Vielheit wieder herstellen,
der Hintergrund seinen Vordergrund an sich nehmen. In dieser Durch-
dringung wird nun eben das Einzelne, das Viele, das Verwickelte erst
bedeutungsvoll. Die reich partikularisirte Welt der Persönlichkeit ist nun
die Landschaft, deren viele Einzelheiten in der Beleuchtung der Geistes-
sonne zur idealen, ästhetischen Geltung erhoben werden, und wie in jener
ein Kuß der Abendröthe oder des Mondes auch den rohen, moosigen
Felsblock verklärt, wie selbst der Schilfhalm am Teich eine Sprache ge-
winnt, so leistet hier der Geist das Wunder, selbst den herben, schroffen,
seltsam zwischeneingeschobenen, zunächst alle Harmonie störenden Zug des
menschlichen Wesens, eine stehende Einseitigkeit, eine flüchtige, zusammen-
hangslose Erregung in sein Band zu ziehen; ein rasches Licht streift über
die sonderbaren Falten und Hügel hin und gibt ihnen Bedeutung und
Weihe; ein geistiger Phosphor entzündet sich selbst aus dem Zerworfenen,
Verstreuten, Abnormen der so vor uns erschlossenen Welt. Gerade dieß
bezaubert uns, daß das ganz Entlegene, scheinbar für die Kunst Verlo-
rene, das Willkührliche hervorgehoben und doch in die ideale Beleuchtung
gezogen wird. Entfesselt aber diese Kunst den Sturm in seiner ganzen
Gewalt und geht sie bis zum Bilde der Zerrissenheit fort, so gilt es nur
um so mehr, statt jenes unverlorenen Restes von Ruhe, den die Sculp-
tur bewahrt, die Einheitbildende Kraft als eine bewegte, wie aus Geister-
tiefen auftauchende in das Dunkel und Grauen ihren versöhnenden Strahl
werfen zu lassen, und bleiben wir bei dem Bilde Winkelmann's, so können
wir sagen, wenn der Bildner mitten im Sturme den unbewegten Meeres-
grund zeigen soll, so werde dagegen in der Malerei der Geist unsichtbar sichtbar
über den Wassern schweben. -- Es folgt aus dem Allem, daß jene ge-
diegene Substantialität des Charakters, die sich dem Allgemeinen gegen-
über subjectiv nicht isolirt, sondern ihre innere Einheit gar nicht anders
hat, als in der Einheit mit dem Guten, wie es als öffentliche Macht in
gesundem Volksleben waltet, nicht der Standpunct sein kann, unter wel-
chem die ächt malerische Anschauung die Persönlichkeit auffaßt. Die durch-
gearbeiteteren, gefurchteren Züge des tüchtigen, der Gemeinschaft dienenden
Charakters werden uns gestehen, daß diese Hingebung erst dem Eigenwil-
len einer subjectiven Willkühr abgerungen werden mußte, wie die Plastik
sie nicht kennt. Auf dem malerischen Standpunct ist ja durch die Freilassung
des Vielen der Einzelne für sich eine Welt geworden, das Allgemeine

dieſer zerfallen und zugleich, als Quelle unendlichen Schmerzes, das volle
Bewußtſein dieſes Zerfalles mehr oder minder entwickelt. Hiemit haben
wir nun freilich die geiſtige Einheit als Band der Vielheit aus dem Hin-
tergrunde, worin wir ſie vorerſt halten mußten, gerade auf der Spitze
ihrer ſcheinbaren Zurückſtellung wieder hervorgezogen. Die Einheit muß
nun das Band in der ganzen Ausdehnung der Vielheit wieder herſtellen,
der Hintergrund ſeinen Vordergrund an ſich nehmen. In dieſer Durch-
dringung wird nun eben das Einzelne, das Viele, das Verwickelte erſt
bedeutungsvoll. Die reich partikulariſirte Welt der Perſönlichkeit iſt nun
die Landſchaft, deren viele Einzelheiten in der Beleuchtung der Geiſtes-
ſonne zur idealen, äſthetiſchen Geltung erhoben werden, und wie in jener
ein Kuß der Abendröthe oder des Mondes auch den rohen, mooſigen
Felsblock verklärt, wie ſelbſt der Schilfhalm am Teich eine Sprache ge-
winnt, ſo leiſtet hier der Geiſt das Wunder, ſelbſt den herben, ſchroffen,
ſeltſam zwiſcheneingeſchobenen, zunächſt alle Harmonie ſtörenden Zug des
menſchlichen Weſens, eine ſtehende Einſeitigkeit, eine flüchtige, zuſammen-
hangsloſe Erregung in ſein Band zu ziehen; ein raſches Licht ſtreift über
die ſonderbaren Falten und Hügel hin und gibt ihnen Bedeutung und
Weihe; ein geiſtiger Phosphor entzündet ſich ſelbſt aus dem Zerworfenen,
Verſtreuten, Abnormen der ſo vor uns erſchloſſenen Welt. Gerade dieß
bezaubert uns, daß das ganz Entlegene, ſcheinbar für die Kunſt Verlo-
rene, das Willkührliche hervorgehoben und doch in die ideale Beleuchtung
gezogen wird. Entfeſſelt aber dieſe Kunſt den Sturm in ſeiner ganzen
Gewalt und geht ſie bis zum Bilde der Zerriſſenheit fort, ſo gilt es nur
um ſo mehr, ſtatt jenes unverlorenen Reſtes von Ruhe, den die Sculp-
tur bewahrt, die Einheitbildende Kraft als eine bewegte, wie aus Geiſter-
tiefen auftauchende in das Dunkel und Grauen ihren verſöhnenden Strahl
werfen zu laſſen, und bleiben wir bei dem Bilde Winkelmann’s, ſo können
wir ſagen, wenn der Bildner mitten im Sturme den unbewegten Meeres-
grund zeigen ſoll, ſo werde dagegen in der Malerei der Geiſt unſichtbar ſichtbar
über den Waſſern ſchweben. — Es folgt aus dem Allem, daß jene ge-
diegene Subſtantialität des Charakters, die ſich dem Allgemeinen gegen-
über ſubjectiv nicht iſolirt, ſondern ihre innere Einheit gar nicht anders
hat, als in der Einheit mit dem Guten, wie es als öffentliche Macht in
geſundem Volksleben waltet, nicht der Standpunct ſein kann, unter wel-
chem die ächt maleriſche Anſchauung die Perſönlichkeit auffaßt. Die durch-
gearbeiteteren, gefurchteren Züge des tüchtigen, der Gemeinſchaft dienenden
Charakters werden uns geſtehen, daß dieſe Hingebung erſt dem Eigenwil-
len einer ſubjectiven Willkühr abgerungen werden mußte, wie die Plaſtik
ſie nicht kennt. Auf dem maleriſchen Standpunct iſt ja durch die Freilaſſung
des Vielen der Einzelne für ſich eine Welt geworden, das Allgemeine

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[527/0035] dieſer zerfallen und zugleich, als Quelle unendlichen Schmerzes, das volle Bewußtſein dieſes Zerfalles mehr oder minder entwickelt. Hiemit haben wir nun freilich die geiſtige Einheit als Band der Vielheit aus dem Hin- tergrunde, worin wir ſie vorerſt halten mußten, gerade auf der Spitze ihrer ſcheinbaren Zurückſtellung wieder hervorgezogen. Die Einheit muß nun das Band in der ganzen Ausdehnung der Vielheit wieder herſtellen, der Hintergrund ſeinen Vordergrund an ſich nehmen. In dieſer Durch- dringung wird nun eben das Einzelne, das Viele, das Verwickelte erſt bedeutungsvoll. Die reich partikulariſirte Welt der Perſönlichkeit iſt nun die Landſchaft, deren viele Einzelheiten in der Beleuchtung der Geiſtes- ſonne zur idealen, äſthetiſchen Geltung erhoben werden, und wie in jener ein Kuß der Abendröthe oder des Mondes auch den rohen, mooſigen Felsblock verklärt, wie ſelbſt der Schilfhalm am Teich eine Sprache ge- winnt, ſo leiſtet hier der Geiſt das Wunder, ſelbſt den herben, ſchroffen, ſeltſam zwiſcheneingeſchobenen, zunächſt alle Harmonie ſtörenden Zug des menſchlichen Weſens, eine ſtehende Einſeitigkeit, eine flüchtige, zuſammen- hangsloſe Erregung in ſein Band zu ziehen; ein raſches Licht ſtreift über die ſonderbaren Falten und Hügel hin und gibt ihnen Bedeutung und Weihe; ein geiſtiger Phosphor entzündet ſich ſelbſt aus dem Zerworfenen, Verſtreuten, Abnormen der ſo vor uns erſchloſſenen Welt. Gerade dieß bezaubert uns, daß das ganz Entlegene, ſcheinbar für die Kunſt Verlo- rene, das Willkührliche hervorgehoben und doch in die ideale Beleuchtung gezogen wird. Entfeſſelt aber dieſe Kunſt den Sturm in ſeiner ganzen Gewalt und geht ſie bis zum Bilde der Zerriſſenheit fort, ſo gilt es nur um ſo mehr, ſtatt jenes unverlorenen Reſtes von Ruhe, den die Sculp- tur bewahrt, die Einheitbildende Kraft als eine bewegte, wie aus Geiſter- tiefen auftauchende in das Dunkel und Grauen ihren verſöhnenden Strahl werfen zu laſſen, und bleiben wir bei dem Bilde Winkelmann’s, ſo können wir ſagen, wenn der Bildner mitten im Sturme den unbewegten Meeres- grund zeigen ſoll, ſo werde dagegen in der Malerei der Geiſt unſichtbar ſichtbar über den Waſſern ſchweben. — Es folgt aus dem Allem, daß jene ge- diegene Subſtantialität des Charakters, die ſich dem Allgemeinen gegen- über ſubjectiv nicht iſolirt, ſondern ihre innere Einheit gar nicht anders hat, als in der Einheit mit dem Guten, wie es als öffentliche Macht in geſundem Volksleben waltet, nicht der Standpunct ſein kann, unter wel- chem die ächt maleriſche Anſchauung die Perſönlichkeit auffaßt. Die durch- gearbeiteteren, gefurchteren Züge des tüchtigen, der Gemeinſchaft dienenden Charakters werden uns geſtehen, daß dieſe Hingebung erſt dem Eigenwil- len einer ſubjectiven Willkühr abgerungen werden mußte, wie die Plaſtik ſie nicht kennt. Auf dem maleriſchen Standpunct iſt ja durch die Freilaſſung des Vielen der Einzelne für ſich eine Welt geworden, das Allgemeine

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 527. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/35>, abgerufen am 29.03.2024.