Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

den Hand liegen, gewonnen aber ist der Ausdruck des geistreichen, leichten
Wurfs in der flüssigeren Linie. Ein Unterschied des mehr Graphischen
und des in vollerem malerischem Scheine Gehaltenen bildet sich allerdings
auch hier aus, doch ist nicht die Welt von abgestuften Tönen erreichbar,
wie im Stich, der Charakter des Ganzen bleibt doch mehr der graphische.
Das Radiren stellt sich im Ganzen näher zu den Formen, die mehr den
Charakter des raschen Uebertragens der Erfindung, den Charakter des
Unmittelbaren tragen, wovon nachher. -- Der eigentliche Kupferstich nun
erreicht jene Fülle allerdings schon durch das Mittel des Eingrabens mit
dem Stichel. Allein es tritt nun auch das erwähnte weitere Verfahren
auf, welches die flüssigen Mittel der Malerei durch Einäzen der Ab-
stufungen des Dunkels (getuschte Manier, aqua tinta) oder durch Heraus-
schaben des Hellen (Schab-Manier, schwarze Kunst) nachahmt. Es ist
klar, daß nun ein großer Vortheil gewonnen ist in Nachahmung jener
ganzen Welt von Wirkungen der allgemeinen Potenzen, welche an sich
nicht durch Linien bestimmbar scheint, weil sie den Charakter des Er-
gossenen hat. Allein ebenso klar ist es, daß die Nachahmung dieser Er-
scheinungen durch die mit dem Grabstichel gezogene Linie gerade darum
mehr künstlerisch ist, weil dieses Mittel den Meister nöthigt, die Natur
des Gegenstandes erst in ein anderes, zunächst fremdartiges Medium zu
übersetzen, wodurch er die Feinheit seines Gefühles erst in ihrem wahren
Umfang erproben kann. Ueberdieß gewinnt er hier die ganze Schärfe
der Zeichnung für das Gebiet, wo solche hingehört, nämlich die feste Form.
Jene Manieren bedürfen zur Umschreibung der Form in ihrer Bestimmt-
heit, wie gesagt, der Mithülfe des Stichels oder der Nadel; aber auch da,
wo das Unbestimmte in der Sache liegt, im ganzen Gebiete der Schatten-
gebung mit ihren Uebergängen, treibt sie ein Gefühl des Mangels an
Halt und Mark zu den verschiedenen Methoden der Verbindung mit diesen
graphischen Werkzeugen, wodurch denn allerdings ein hoher Grad von
Vollkommenheit in Wiedergebung des Malerischen erreicht worden ist. --
Vor dem Kupferstich hat nun der Stahlstich die noch größere Dauer-
haftigkeit des Materials voraus, welche ungleich mehr Abdrücke erlaubt.
Allein dieser industriöse Vorzug ist auch sein einziger und mit schweren
künstlerischem Nachtheil erkauft. Der Stahl ist zu hart; er läßt die dünnste
Linie zu, aber er widersteht der eingrabenden Hand zu sehr, er gestattet
ihr nicht, ihr Gefühl im Anschwellen des Zugs geltend zu machen, ihm
fehlt daher das Lebendige, das Anwachsen, der Saft, die Rundung, das
Metall fühlt sich zu stoffartig durch, es ist Alles kratzig, spröd, man hat
eine Empfindung, wie wenn man Tritte auf gefrornem Schnee knarren
und pfeifen hört. Ganz wird dieser Charakter auch durch Anwendung
des Punctirens, Radirens, der Tusch- und Schabmanier nicht getilgt, das

den Hand liegen, gewonnen aber iſt der Ausdruck des geiſtreichen, leichten
Wurfs in der flüſſigeren Linie. Ein Unterſchied des mehr Graphiſchen
und des in vollerem maleriſchem Scheine Gehaltenen bildet ſich allerdings
auch hier aus, doch iſt nicht die Welt von abgeſtuften Tönen erreichbar,
wie im Stich, der Charakter des Ganzen bleibt doch mehr der graphiſche.
Das Radiren ſtellt ſich im Ganzen näher zu den Formen, die mehr den
Charakter des raſchen Uebertragens der Erfindung, den Charakter des
Unmittelbaren tragen, wovon nachher. — Der eigentliche Kupferſtich nun
erreicht jene Fülle allerdings ſchon durch das Mittel des Eingrabens mit
dem Stichel. Allein es tritt nun auch das erwähnte weitere Verfahren
auf, welches die flüſſigen Mittel der Malerei durch Einäzen der Ab-
ſtufungen des Dunkels (getuſchte Manier, aqua tinta) oder durch Heraus-
ſchaben des Hellen (Schab-Manier, ſchwarze Kunſt) nachahmt. Es iſt
klar, daß nun ein großer Vortheil gewonnen iſt in Nachahmung jener
ganzen Welt von Wirkungen der allgemeinen Potenzen, welche an ſich
nicht durch Linien beſtimmbar ſcheint, weil ſie den Charakter des Er-
goſſenen hat. Allein ebenſo klar iſt es, daß die Nachahmung dieſer Er-
ſcheinungen durch die mit dem Grabſtichel gezogene Linie gerade darum
mehr künſtleriſch iſt, weil dieſes Mittel den Meiſter nöthigt, die Natur
des Gegenſtandes erſt in ein anderes, zunächſt fremdartiges Medium zu
überſetzen, wodurch er die Feinheit ſeines Gefühles erſt in ihrem wahren
Umfang erproben kann. Ueberdieß gewinnt er hier die ganze Schärfe
der Zeichnung für das Gebiet, wo ſolche hingehört, nämlich die feſte Form.
Jene Manieren bedürfen zur Umſchreibung der Form in ihrer Beſtimmt-
heit, wie geſagt, der Mithülfe des Stichels oder der Nadel; aber auch da,
wo das Unbeſtimmte in der Sache liegt, im ganzen Gebiete der Schatten-
gebung mit ihren Uebergängen, treibt ſie ein Gefühl des Mangels an
Halt und Mark zu den verſchiedenen Methoden der Verbindung mit dieſen
graphiſchen Werkzeugen, wodurch denn allerdings ein hoher Grad von
Vollkommenheit in Wiedergebung des Maleriſchen erreicht worden iſt. —
Vor dem Kupferſtich hat nun der Stahlſtich die noch größere Dauer-
haftigkeit des Materials voraus, welche ungleich mehr Abdrücke erlaubt.
Allein dieſer induſtriöſe Vorzug iſt auch ſein einziger und mit ſchweren
künſtleriſchem Nachtheil erkauft. Der Stahl iſt zu hart; er läßt die dünnſte
Linie zu, aber er widerſteht der eingrabenden Hand zu ſehr, er geſtattet
ihr nicht, ihr Gefühl im Anſchwellen des Zugs geltend zu machen, ihm
fehlt daher das Lebendige, das Anwachſen, der Saft, die Rundung, das
Metall fühlt ſich zu ſtoffartig durch, es iſt Alles kratzig, ſpröd, man hat
eine Empfindung, wie wenn man Tritte auf gefrornem Schnee knarren
und pfeifen hört. Ganz wird dieſer Charakter auch durch Anwendung
des Punctirens, Radirens, der Tuſch- und Schabmanier nicht getilgt, das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0273" n="765"/>
den Hand liegen, gewonnen aber i&#x017F;t der Ausdruck des gei&#x017F;treichen, leichten<lb/>
Wurfs in der flü&#x017F;&#x017F;igeren Linie. Ein Unter&#x017F;chied des mehr Graphi&#x017F;chen<lb/>
und des in vollerem maleri&#x017F;chem Scheine Gehaltenen bildet &#x017F;ich allerdings<lb/>
auch hier aus, doch i&#x017F;t nicht die Welt von abge&#x017F;tuften Tönen erreichbar,<lb/>
wie im Stich, der Charakter des Ganzen bleibt doch mehr der graphi&#x017F;che.<lb/>
Das Radiren &#x017F;tellt &#x017F;ich im Ganzen näher zu den Formen, die mehr den<lb/>
Charakter des ra&#x017F;chen Uebertragens der Erfindung, den Charakter des<lb/>
Unmittelbaren tragen, wovon nachher. &#x2014; Der eigentliche Kupfer&#x017F;tich nun<lb/>
erreicht jene Fülle allerdings &#x017F;chon durch das Mittel des Eingrabens mit<lb/>
dem Stichel. Allein es tritt nun auch das erwähnte weitere Verfahren<lb/>
auf, welches die flü&#x017F;&#x017F;igen Mittel der Malerei durch Einäzen der Ab-<lb/>
&#x017F;tufungen des Dunkels (getu&#x017F;chte Manier, <hi rendition="#aq">aqua tinta</hi>) oder durch Heraus-<lb/>
&#x017F;chaben des Hellen (Schab-Manier, &#x017F;chwarze Kun&#x017F;t) nachahmt. Es i&#x017F;t<lb/>
klar, daß nun ein großer Vortheil gewonnen i&#x017F;t in Nachahmung jener<lb/>
ganzen Welt von Wirkungen der allgemeinen Potenzen, welche an &#x017F;ich<lb/>
nicht durch Linien be&#x017F;timmbar &#x017F;cheint, weil &#x017F;ie den Charakter des Er-<lb/>
go&#x017F;&#x017F;enen hat. Allein eben&#x017F;o klar i&#x017F;t es, daß die Nachahmung die&#x017F;er Er-<lb/>
&#x017F;cheinungen durch die mit dem Grab&#x017F;tichel gezogene Linie gerade darum<lb/>
mehr kün&#x017F;tleri&#x017F;ch i&#x017F;t, weil die&#x017F;es Mittel den Mei&#x017F;ter nöthigt, die Natur<lb/>
des Gegen&#x017F;tandes er&#x017F;t in ein anderes, zunäch&#x017F;t fremdartiges Medium zu<lb/>
über&#x017F;etzen, wodurch er die Feinheit &#x017F;eines Gefühles er&#x017F;t in ihrem wahren<lb/>
Umfang erproben kann. Ueberdieß gewinnt er hier die ganze Schärfe<lb/>
der Zeichnung für das Gebiet, wo &#x017F;olche hingehört, nämlich die fe&#x017F;te Form.<lb/>
Jene Manieren bedürfen zur Um&#x017F;chreibung der Form in ihrer Be&#x017F;timmt-<lb/>
heit, wie ge&#x017F;agt, der Mithülfe des Stichels oder der Nadel; aber auch da,<lb/>
wo das Unbe&#x017F;timmte in der Sache liegt, im ganzen Gebiete der Schatten-<lb/>
gebung mit ihren Uebergängen, treibt &#x017F;ie ein Gefühl des Mangels an<lb/>
Halt und Mark zu den ver&#x017F;chiedenen Methoden der Verbindung mit die&#x017F;en<lb/>
graphi&#x017F;chen Werkzeugen, wodurch denn allerdings ein hoher Grad von<lb/>
Vollkommenheit in Wiedergebung des Maleri&#x017F;chen erreicht worden i&#x017F;t. &#x2014;<lb/>
Vor dem Kupfer&#x017F;tich hat nun der <hi rendition="#g">Stahl&#x017F;tich</hi> die noch größere Dauer-<lb/>
haftigkeit des Materials voraus, welche ungleich mehr Abdrücke erlaubt.<lb/>
Allein die&#x017F;er <hi rendition="#g">indu&#x017F;triö&#x017F;e</hi> Vorzug i&#x017F;t auch &#x017F;ein einziger und mit &#x017F;chweren<lb/>
kün&#x017F;tleri&#x017F;chem Nachtheil erkauft. Der Stahl i&#x017F;t zu hart; er läßt die dünn&#x017F;te<lb/>
Linie zu, aber er wider&#x017F;teht der eingrabenden Hand zu &#x017F;ehr, er ge&#x017F;tattet<lb/>
ihr nicht, ihr Gefühl im An&#x017F;chwellen des Zugs geltend zu machen, ihm<lb/>
fehlt daher das Lebendige, das Anwach&#x017F;en, der Saft, die Rundung, das<lb/>
Metall fühlt &#x017F;ich zu &#x017F;toffartig durch, es i&#x017F;t Alles kratzig, &#x017F;pröd, man hat<lb/>
eine Empfindung, wie wenn man Tritte auf gefrornem Schnee knarren<lb/>
und pfeifen hört. Ganz wird die&#x017F;er Charakter auch durch Anwendung<lb/>
des Punctirens, Radirens, der Tu&#x017F;ch- und Schabmanier nicht getilgt, das<lb/></hi> </p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[765/0273] den Hand liegen, gewonnen aber iſt der Ausdruck des geiſtreichen, leichten Wurfs in der flüſſigeren Linie. Ein Unterſchied des mehr Graphiſchen und des in vollerem maleriſchem Scheine Gehaltenen bildet ſich allerdings auch hier aus, doch iſt nicht die Welt von abgeſtuften Tönen erreichbar, wie im Stich, der Charakter des Ganzen bleibt doch mehr der graphiſche. Das Radiren ſtellt ſich im Ganzen näher zu den Formen, die mehr den Charakter des raſchen Uebertragens der Erfindung, den Charakter des Unmittelbaren tragen, wovon nachher. — Der eigentliche Kupferſtich nun erreicht jene Fülle allerdings ſchon durch das Mittel des Eingrabens mit dem Stichel. Allein es tritt nun auch das erwähnte weitere Verfahren auf, welches die flüſſigen Mittel der Malerei durch Einäzen der Ab- ſtufungen des Dunkels (getuſchte Manier, aqua tinta) oder durch Heraus- ſchaben des Hellen (Schab-Manier, ſchwarze Kunſt) nachahmt. Es iſt klar, daß nun ein großer Vortheil gewonnen iſt in Nachahmung jener ganzen Welt von Wirkungen der allgemeinen Potenzen, welche an ſich nicht durch Linien beſtimmbar ſcheint, weil ſie den Charakter des Er- goſſenen hat. Allein ebenſo klar iſt es, daß die Nachahmung dieſer Er- ſcheinungen durch die mit dem Grabſtichel gezogene Linie gerade darum mehr künſtleriſch iſt, weil dieſes Mittel den Meiſter nöthigt, die Natur des Gegenſtandes erſt in ein anderes, zunächſt fremdartiges Medium zu überſetzen, wodurch er die Feinheit ſeines Gefühles erſt in ihrem wahren Umfang erproben kann. Ueberdieß gewinnt er hier die ganze Schärfe der Zeichnung für das Gebiet, wo ſolche hingehört, nämlich die feſte Form. Jene Manieren bedürfen zur Umſchreibung der Form in ihrer Beſtimmt- heit, wie geſagt, der Mithülfe des Stichels oder der Nadel; aber auch da, wo das Unbeſtimmte in der Sache liegt, im ganzen Gebiete der Schatten- gebung mit ihren Uebergängen, treibt ſie ein Gefühl des Mangels an Halt und Mark zu den verſchiedenen Methoden der Verbindung mit dieſen graphiſchen Werkzeugen, wodurch denn allerdings ein hoher Grad von Vollkommenheit in Wiedergebung des Maleriſchen erreicht worden iſt. — Vor dem Kupferſtich hat nun der Stahlſtich die noch größere Dauer- haftigkeit des Materials voraus, welche ungleich mehr Abdrücke erlaubt. Allein dieſer induſtriöſe Vorzug iſt auch ſein einziger und mit ſchweren künſtleriſchem Nachtheil erkauft. Der Stahl iſt zu hart; er läßt die dünnſte Linie zu, aber er widerſteht der eingrabenden Hand zu ſehr, er geſtattet ihr nicht, ihr Gefühl im Anſchwellen des Zugs geltend zu machen, ihm fehlt daher das Lebendige, das Anwachſen, der Saft, die Rundung, das Metall fühlt ſich zu ſtoffartig durch, es iſt Alles kratzig, ſpröd, man hat eine Empfindung, wie wenn man Tritte auf gefrornem Schnee knarren und pfeifen hört. Ganz wird dieſer Charakter auch durch Anwendung des Punctirens, Radirens, der Tuſch- und Schabmanier nicht getilgt, das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/273
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 765. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/273>, abgerufen am 29.03.2024.