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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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In der Geschichte des Ideals berücksichtigt §. 477 und 478 zunächst
die Revolution in der Poesie, welche ungleich später zum ächten Classicis-
mus fortschritt; für die Malerei ist daher, was in §. 479 gesagt ist, zurück-
zudatiren: sie ergriff zuerst die reine antike Form, die tiefere Erwärmung
derselben mit der Fülle des deutschen Geistes folgte, wie wir sehen werden,
nach; die Poesie begann umgekehrt mit dem Sturm der Empfindung und
lernte erst dann von den Alten die reine Form. Die genialen Männer,
welche, von Winkelmann zum ächten Quellwasser geführt, mit dem
conventionellen Afterbilde des Classischen brechen und seine hohe Einfalt,
die bescheidene Grazie seiner wahren Schönheit, seine Formenbildende
Seele selbst in sich aufnehmen, diese Männer, die jetzt erst endlich der
deutschen Nation jenes wahre Mittel der Lösung von dem anhängenden
Reste der Form-Barbarei bringen, das wir seit dem fünfzehnten Jahr-
hundert suchen, die Karstens, Eberh. Wächter, Koch, Schick treten
-- den Letzteren ausgenommen, der sich mehr an Raphael anschließt und
leider von seiner herrlichen Laufbahn früh abgerufen wird -- selbst wieder
auf die eine Seite des Gegensatzes, dessen Kampf das Triebrad der Kunst-
geschichte ist. Von nun an, im Tageslichte der nahen Vergangenheit und
Gegenwart, zeigt sich uns immer schärfer und deutlicher die Natur dieser
und aller Geschichte: ihre Nadel oscillirt um das absolute, nie
erreichte Endziel so, daß jede erreichte Einheit und Ver-
söhnung der Gegensätze selbst wieder zu einem derselben
hinüberfällt
(vergl. §. 676 Anm. 2). Statt dem Prinzip des ächt
malerischen Styls, zu dem die deutsche Kunst durch den innersten Geist der
Nation berufen ist, das richtige Maaß des Plastischen beizumischen, werden
sie, die allerdings den falsch sculptorischen Regel-Zwang der Franzosen
niedergekämpft haben, nun selbst Plastiker der Malerei, lebendig und
seelenvoll, aber ohne Individualität, stylvolle Zeichner, aber schwache
Coloristen, edle Anordner geistreicher Erfindung, aber mangelhafte Execu-
toren, Ausbeuter des alten Mythus und der alten Allegorie, Erdichter
von neuen, Freunde der Stoffe aus der alten Geschichte und Mißkenner
der unendlich mehr malerischen Natur der Stoffe des Mittelalters und
der neueren Zeiten.

§. 739.

Im Kampfe gegen diese neue Einseitigkeit verkehrt die romantische Schule
ein ästhetisches Prinzip zu einem dogmatischen, behauptet, statt für den Drang
zum ächt Malerischen die geeigneteren Stoffe in der Geschichte des Mittelalters
zu suchen, dessen Mythenkreis als allein wahren Stoff und demgemäß seinen
unreifen Styl als Formgesetz.


In der Geſchichte des Ideals berückſichtigt §. 477 und 478 zunächſt
die Revolution in der Poeſie, welche ungleich ſpäter zum ächten Claſſiciſ-
mus fortſchritt; für die Malerei iſt daher, was in §. 479 geſagt iſt, zurück-
zudatiren: ſie ergriff zuerſt die reine antike Form, die tiefere Erwärmung
derſelben mit der Fülle des deutſchen Geiſtes folgte, wie wir ſehen werden,
nach; die Poeſie begann umgekehrt mit dem Sturm der Empfindung und
lernte erſt dann von den Alten die reine Form. Die genialen Männer,
welche, von Winkelmann zum ächten Quellwaſſer geführt, mit dem
conventionellen Afterbilde des Claſſiſchen brechen und ſeine hohe Einfalt,
die beſcheidene Grazie ſeiner wahren Schönheit, ſeine Formenbildende
Seele ſelbſt in ſich aufnehmen, dieſe Männer, die jetzt erſt endlich der
deutſchen Nation jenes wahre Mittel der Löſung von dem anhängenden
Reſte der Form-Barbarei bringen, das wir ſeit dem fünfzehnten Jahr-
hundert ſuchen, die Karſtens, Eberh. Wächter, Koch, Schick treten
— den Letzteren ausgenommen, der ſich mehr an Raphael anſchließt und
leider von ſeiner herrlichen Laufbahn früh abgerufen wird — ſelbſt wieder
auf die eine Seite des Gegenſatzes, deſſen Kampf das Triebrad der Kunſt-
geſchichte iſt. Von nun an, im Tageslichte der nahen Vergangenheit und
Gegenwart, zeigt ſich uns immer ſchärfer und deutlicher die Natur dieſer
und aller Geſchichte: ihre Nadel oſcillirt um das abſolute, nie
erreichte Endziel ſo, daß jede erreichte Einheit und Ver-
ſöhnung der Gegenſätze ſelbſt wieder zu einem derſelben
hinüberfällt
(vergl. §. 676 Anm. 2). Statt dem Prinzip des ächt
maleriſchen Styls, zu dem die deutſche Kunſt durch den innerſten Geiſt der
Nation berufen iſt, das richtige Maaß des Plaſtiſchen beizumiſchen, werden
ſie, die allerdings den falſch ſculptoriſchen Regel-Zwang der Franzoſen
niedergekämpft haben, nun ſelbſt Plaſtiker der Malerei, lebendig und
ſeelenvoll, aber ohne Individualität, ſtylvolle Zeichner, aber ſchwache
Coloriſten, edle Anordner geiſtreicher Erfindung, aber mangelhafte Execu-
toren, Ausbeuter des alten Mythus und der alten Allegorie, Erdichter
von neuen, Freunde der Stoffe aus der alten Geſchichte und Mißkenner
der unendlich mehr maleriſchen Natur der Stoffe des Mittelalters und
der neueren Zeiten.

§. 739.

Im Kampfe gegen dieſe neue Einſeitigkeit verkehrt die romantiſche Schule
ein äſthetiſches Prinzip zu einem dogmatiſchen, behauptet, ſtatt für den Drang
zum ächt Maleriſchen die geeigneteren Stoffe in der Geſchichte des Mittelalters
zu ſuchen, deſſen Mythenkreis als allein wahren Stoff und demgemäß ſeinen
unreifen Styl als Formgeſetz.


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[750/0258] In der Geſchichte des Ideals berückſichtigt §. 477 und 478 zunächſt die Revolution in der Poeſie, welche ungleich ſpäter zum ächten Claſſiciſ- mus fortſchritt; für die Malerei iſt daher, was in §. 479 geſagt iſt, zurück- zudatiren: ſie ergriff zuerſt die reine antike Form, die tiefere Erwärmung derſelben mit der Fülle des deutſchen Geiſtes folgte, wie wir ſehen werden, nach; die Poeſie begann umgekehrt mit dem Sturm der Empfindung und lernte erſt dann von den Alten die reine Form. Die genialen Männer, welche, von Winkelmann zum ächten Quellwaſſer geführt, mit dem conventionellen Afterbilde des Claſſiſchen brechen und ſeine hohe Einfalt, die beſcheidene Grazie ſeiner wahren Schönheit, ſeine Formenbildende Seele ſelbſt in ſich aufnehmen, dieſe Männer, die jetzt erſt endlich der deutſchen Nation jenes wahre Mittel der Löſung von dem anhängenden Reſte der Form-Barbarei bringen, das wir ſeit dem fünfzehnten Jahr- hundert ſuchen, die Karſtens, Eberh. Wächter, Koch, Schick treten — den Letzteren ausgenommen, der ſich mehr an Raphael anſchließt und leider von ſeiner herrlichen Laufbahn früh abgerufen wird — ſelbſt wieder auf die eine Seite des Gegenſatzes, deſſen Kampf das Triebrad der Kunſt- geſchichte iſt. Von nun an, im Tageslichte der nahen Vergangenheit und Gegenwart, zeigt ſich uns immer ſchärfer und deutlicher die Natur dieſer und aller Geſchichte: ihre Nadel oſcillirt um das abſolute, nie erreichte Endziel ſo, daß jede erreichte Einheit und Ver- ſöhnung der Gegenſätze ſelbſt wieder zu einem derſelben hinüberfällt (vergl. §. 676 Anm. 2). Statt dem Prinzip des ächt maleriſchen Styls, zu dem die deutſche Kunſt durch den innerſten Geiſt der Nation berufen iſt, das richtige Maaß des Plaſtiſchen beizumiſchen, werden ſie, die allerdings den falſch ſculptoriſchen Regel-Zwang der Franzoſen niedergekämpft haben, nun ſelbſt Plaſtiker der Malerei, lebendig und ſeelenvoll, aber ohne Individualität, ſtylvolle Zeichner, aber ſchwache Coloriſten, edle Anordner geiſtreicher Erfindung, aber mangelhafte Execu- toren, Ausbeuter des alten Mythus und der alten Allegorie, Erdichter von neuen, Freunde der Stoffe aus der alten Geſchichte und Mißkenner der unendlich mehr maleriſchen Natur der Stoffe des Mittelalters und der neueren Zeiten. §. 739. Im Kampfe gegen dieſe neue Einſeitigkeit verkehrt die romantiſche Schule ein äſthetiſches Prinzip zu einem dogmatiſchen, behauptet, ſtatt für den Drang zum ächt Maleriſchen die geeigneteren Stoffe in der Geſchichte des Mittelalters zu ſuchen, deſſen Mythenkreis als allein wahren Stoff und demgemäß ſeinen unreifen Styl als Formgeſetz.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 750. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/258>, abgerufen am 29.03.2024.