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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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doch Rembrandt der Gruppe der Kabinetsmaler wieder so gegenüber, wie
Rubens den Holländern insgesammt. Jener "plebejische Trotz", jene
"verhaltene Leidenschaft", die "der finstere Republikaner" in die bäurisch
rohen Formen legt, zusammenwirkend mit der geisterhaften Aufregung,
die in seinem Colorit liegt, erscheint als ein Pathos, das bei vollendetem
Gegensatz gegen alles Classische doch der hohen Erregung, die seine reinen
Formen mit sich führen, indirect auf ähnliche Weise verwandt ist wie
Shakespeare, der nichts von den Alten wußte und auf der Höhe der
tragischen Bewegung doch so tief an sie erinnert. Die Leidenschaftlichkeit und
Wildheit der Zeit, von der wir öfters gesprochen, hat in Rubens, seinen
historischen Stücken und blutigen Jagden, und in Rembrandt den vollsten
Ausdruck, dort in Form schwunghaften Ausbruchs, hier still und gespenstisch
aufdämmernder Drohung, erhalten; es liegt aber in diesem wilden Wurfe
noch immer etwas von der Großheit des Styls im emphatischen Sinne des
Worts, der sich auch äußerlich im größeren Maaßstab ausspricht. Es
wird nun endlich voller Ernst daraus, daß die Malerei demokratisch ist
(vergl. §. 655), aber Rembrandt ist noch großartig drohender, die Kabi-
netsmaler
sind beruhigter Volksgeist, welcher der besiegten Grandezza des
Romanismus das breite Gelächter nachschickt und zugleich schon wieder Zeit
hat, feinere, behagliche, gebildete Sitte zu gründen. Zieht sich nun hier
jene Größe zur zierlichen camera obscura der Welt zusammen, so ist dafür
auch mit voller Folgerichtigkeit die malerische Richtung als ein in's Schärfste
und Feinste ausgebildeter Naturalismus und Individualismus in ihre
wahre Sphäre eingetreten. Jetzt endlich hat der flandrische Styl seinen
wahren Ort gefunden: er ist sittenbildlicher und Landschafts-Styl, er hängt
sich nicht mehr an die großen Stoffe des Mythus und drängt die handeln-
den Figuren aus dem Alleinbesitze des Interesses, das ihnen gehört, er
zieht sie nicht mehr aus der Idealität, die ihnen als absoluten Gestalten
gebührt, in die Bedingtheit des bürgerlichen Lebens herein, er verschont
sie damit, indem er sie aufgibt. Jenes Ganze wird vertheilt: die Theile
suchen den Zweig, wo sie als Ganzes sich ausbreiten dürfen und sollen.
Aber Ein Stück findet keine Stelle, es geht leer aus: das ist eben der
Inhalt, der jenen absoluten Gestalten zu Grunde liegt, der hohe Gegen-
stand. Da der Mythus gefallen ist, so mußte freilich dieser Gegenstand
ein anderer werden; an seine Stelle mußte dem Stoffe nach die geschicht-
liche Malerei, dem Geiste der Behandlung nach der höhere Styl treten,
der plastischen Schwung in sich aufzunehmen hatte, aber darum doch
malerisch bleiben konnte, und dieser Styl hätte zugleich das grandiosere
Sittenbild und die großartigere Landschaft hervorbringen müssen. Dazu
hatten diese Holländer die Stimmung nicht und, weil ihnen diese fehlte, die
Formen nicht. Sie konnten sie nicht haben, denn alles reine Pathos, aller

doch Rembrandt der Gruppe der Kabinetsmaler wieder ſo gegenüber, wie
Rubens den Holländern insgeſammt. Jener „plebejiſche Trotz“, jene
„verhaltene Leidenſchaft“, die „der finſtere Republikaner“ in die bäuriſch
rohen Formen legt, zuſammenwirkend mit der geiſterhaften Aufregung,
die in ſeinem Colorit liegt, erſcheint als ein Pathos, das bei vollendetem
Gegenſatz gegen alles Claſſiſche doch der hohen Erregung, die ſeine reinen
Formen mit ſich führen, indirect auf ähnliche Weiſe verwandt iſt wie
Shakespeare, der nichts von den Alten wußte und auf der Höhe der
tragiſchen Bewegung doch ſo tief an ſie erinnert. Die Leidenſchaftlichkeit und
Wildheit der Zeit, von der wir öfters geſprochen, hat in Rubens, ſeinen
hiſtoriſchen Stücken und blutigen Jagden, und in Rembrandt den vollſten
Ausdruck, dort in Form ſchwunghaften Ausbruchs, hier ſtill und geſpenſtiſch
aufdämmernder Drohung, erhalten; es liegt aber in dieſem wilden Wurfe
noch immer etwas von der Großheit des Styls im emphatiſchen Sinne des
Worts, der ſich auch äußerlich im größeren Maaßſtab ausſpricht. Es
wird nun endlich voller Ernſt daraus, daß die Malerei demokratiſch iſt
(vergl. §. 655), aber Rembrandt iſt noch großartig drohender, die Kabi-
netsmaler
ſind beruhigter Volksgeiſt, welcher der beſiegten Grandezza des
Romaniſmus das breite Gelächter nachſchickt und zugleich ſchon wieder Zeit
hat, feinere, behagliche, gebildete Sitte zu gründen. Zieht ſich nun hier
jene Größe zur zierlichen camera obscura der Welt zuſammen, ſo iſt dafür
auch mit voller Folgerichtigkeit die maleriſche Richtung als ein in’s Schärfſte
und Feinſte ausgebildeter Naturaliſmus und Individualiſmus in ihre
wahre Sphäre eingetreten. Jetzt endlich hat der flandriſche Styl ſeinen
wahren Ort gefunden: er iſt ſittenbildlicher und Landſchafts-Styl, er hängt
ſich nicht mehr an die großen Stoffe des Mythus und drängt die handeln-
den Figuren aus dem Alleinbeſitze des Intereſſes, das ihnen gehört, er
zieht ſie nicht mehr aus der Idealität, die ihnen als abſoluten Geſtalten
gebührt, in die Bedingtheit des bürgerlichen Lebens herein, er verſchont
ſie damit, indem er ſie aufgibt. Jenes Ganze wird vertheilt: die Theile
ſuchen den Zweig, wo ſie als Ganzes ſich ausbreiten dürfen und ſollen.
Aber Ein Stück findet keine Stelle, es geht leer aus: das iſt eben der
Inhalt, der jenen abſoluten Geſtalten zu Grunde liegt, der hohe Gegen-
ſtand. Da der Mythus gefallen iſt, ſo mußte freilich dieſer Gegenſtand
ein anderer werden; an ſeine Stelle mußte dem Stoffe nach die geſchicht-
liche Malerei, dem Geiſte der Behandlung nach der höhere Styl treten,
der plaſtiſchen Schwung in ſich aufzunehmen hatte, aber darum doch
maleriſch bleiben konnte, und dieſer Styl hätte zugleich das grandioſere
Sittenbild und die großartigere Landſchaft hervorbringen müſſen. Dazu
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Formen nicht. Sie konnten ſie nicht haben, denn alles reine Pathos, aller

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[746/0254] doch Rembrandt der Gruppe der Kabinetsmaler wieder ſo gegenüber, wie Rubens den Holländern insgeſammt. Jener „plebejiſche Trotz“, jene „verhaltene Leidenſchaft“, die „der finſtere Republikaner“ in die bäuriſch rohen Formen legt, zuſammenwirkend mit der geiſterhaften Aufregung, die in ſeinem Colorit liegt, erſcheint als ein Pathos, das bei vollendetem Gegenſatz gegen alles Claſſiſche doch der hohen Erregung, die ſeine reinen Formen mit ſich führen, indirect auf ähnliche Weiſe verwandt iſt wie Shakespeare, der nichts von den Alten wußte und auf der Höhe der tragiſchen Bewegung doch ſo tief an ſie erinnert. Die Leidenſchaftlichkeit und Wildheit der Zeit, von der wir öfters geſprochen, hat in Rubens, ſeinen hiſtoriſchen Stücken und blutigen Jagden, und in Rembrandt den vollſten Ausdruck, dort in Form ſchwunghaften Ausbruchs, hier ſtill und geſpenſtiſch aufdämmernder Drohung, erhalten; es liegt aber in dieſem wilden Wurfe noch immer etwas von der Großheit des Styls im emphatiſchen Sinne des Worts, der ſich auch äußerlich im größeren Maaßſtab ausſpricht. Es wird nun endlich voller Ernſt daraus, daß die Malerei demokratiſch iſt (vergl. §. 655), aber Rembrandt iſt noch großartig drohender, die Kabi- netsmaler ſind beruhigter Volksgeiſt, welcher der beſiegten Grandezza des Romaniſmus das breite Gelächter nachſchickt und zugleich ſchon wieder Zeit hat, feinere, behagliche, gebildete Sitte zu gründen. Zieht ſich nun hier jene Größe zur zierlichen camera obscura der Welt zuſammen, ſo iſt dafür auch mit voller Folgerichtigkeit die maleriſche Richtung als ein in’s Schärfſte und Feinſte ausgebildeter Naturaliſmus und Individualiſmus in ihre wahre Sphäre eingetreten. Jetzt endlich hat der flandriſche Styl ſeinen wahren Ort gefunden: er iſt ſittenbildlicher und Landſchafts-Styl, er hängt ſich nicht mehr an die großen Stoffe des Mythus und drängt die handeln- den Figuren aus dem Alleinbeſitze des Intereſſes, das ihnen gehört, er zieht ſie nicht mehr aus der Idealität, die ihnen als abſoluten Geſtalten gebührt, in die Bedingtheit des bürgerlichen Lebens herein, er verſchont ſie damit, indem er ſie aufgibt. Jenes Ganze wird vertheilt: die Theile ſuchen den Zweig, wo ſie als Ganzes ſich ausbreiten dürfen und ſollen. Aber Ein Stück findet keine Stelle, es geht leer aus: das iſt eben der Inhalt, der jenen abſoluten Geſtalten zu Grunde liegt, der hohe Gegen- ſtand. Da der Mythus gefallen iſt, ſo mußte freilich dieſer Gegenſtand ein anderer werden; an ſeine Stelle mußte dem Stoffe nach die geſchicht- liche Malerei, dem Geiſte der Behandlung nach der höhere Styl treten, der plaſtiſchen Schwung in ſich aufzunehmen hatte, aber darum doch maleriſch bleiben konnte, und dieſer Styl hätte zugleich das grandioſere Sittenbild und die großartigere Landſchaft hervorbringen müſſen. Dazu hatten dieſe Holländer die Stimmung nicht und, weil ihnen dieſe fehlte, die Formen nicht. Sie konnten ſie nicht haben, denn alles reine Pathos, aller

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 746. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/254>, abgerufen am 28.03.2024.