Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Die italienische Kunst hat eine solche Stärke normaler Lebenskraft,
daß sie an der Schwelle des eigentlich Modernen, am Ende des sechzehn-
ten und Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, noch einen bedeutenden
Sprossen treibt und vorbildlich das Thema hinstellt, das von nun an
auf höheren Stufen, in verschiedenen Formen durchgespielt wird. Der
plastische Styl nämlich, an und für sich schon der Träger der Disciplin
für den malerischen, muß sich jetzt mit einem neuen Momente verbinden:
er muß sich aus dem Verfalle, der Willkühr, der Manier -- die wir
nicht weiter schildern -- aufraffen und daher auf ein förmlich geregeltes
Kunstbewußtsein, auf Methode im Unterricht gründen: er wird akademisch
(vergl. §. 522). Das Akademische mit seinem Guten und seinem Uebeln
(dem Formalismus und Mechanismus) ist bereits durch und durch mo-
dern. Dem Inhalte nach sind die Begründer dieser neuen Form, die
Caracci in Bologna, Eklektiker. Freilich ist dieß nicht abstract zu
nehmen: ein Auszug der Vorzüge aus den verschiedensten Meistern und
Schulen wird zwar als Ideal hingestellt und daraus muß eigentlich ein
todtgebornes, schattenhaftes Product entstehen, aber das Leben läßt sich
nicht zerschneiden: auch diese formalistischen Idealisten haben Theil an
dem kräftigen Naturalismus, der gleichzeitig in Italien auflebt und sich
ihnen entgegenwirft; es fehlt den Restauratoren, die nicht nur in Bologna,
sondern in mehreren Städten Italiens auftreten, neben der marklosen
Sentimentalität, die aus den correcten Formen spricht, doch in vielen
ihrer Werke keineswegs an Fülle und Wärme des Lebens. Trotzdem
müssen die Gegensätze für den Begriff klar geschieden werden. Dem
Stoffe nach ist der Eklekticismus wesentlich noch mythisch und allegorisch,
nur in der Landschaft zerfließt auch nach dieser Seite der Gegensatz der
Richtungen: Annibale Caracci und Dominichino ergreifen diesen
Zweig, auf den wir jedoch erst bei der entgegengesetzten Gruppe eingehen.
Diese wirft denn gegen die Kälte und Abstraction der Eklektiker den Na-
turalismus
als Prinzip auf. Mit diesem Worte verbindet sich nun
ein neuer Begriff. Bis jetzt haben wir unter demselben zunächst eine
berechtigte Seite des ächt malerischen Styls, dann aber auch eine Verir-
rung desselben, ein wahlloses Aufgreifen gemeiner empirischer Formen ver-
standen. In diesen italienischen Naturalisten tritt nun allerdings das
Malerische mit einer Gewalt und Ausdrücklichkeit auf, wie bis dahin in
Italien noch nie; aber es tritt nicht rein auf, der Naturalismus greift nach
gemeinen Formen. Das Neue jedoch besteht darin, daß dieses Aufgreifen
nicht in naiver Weise geschieht, wie wir es bei den Deutschen fanden,
sondern prinzipiell als Losungswort in der Oppositionsstellung gegen eine
frostige Stylregel und ihren Schulzwang. Es ist ein grundsätzlich stylloses
Verfahren, das die rohe, die wilde, gemeine Natur mit kecker Faust dem

Die italieniſche Kunſt hat eine ſolche Stärke normaler Lebenskraft,
daß ſie an der Schwelle des eigentlich Modernen, am Ende des ſechzehn-
ten und Anfang des ſiebzehnten Jahrhunderts, noch einen bedeutenden
Sproſſen treibt und vorbildlich das Thema hinſtellt, das von nun an
auf höheren Stufen, in verſchiedenen Formen durchgeſpielt wird. Der
plaſtiſche Styl nämlich, an und für ſich ſchon der Träger der Diſciplin
für den maleriſchen, muß ſich jetzt mit einem neuen Momente verbinden:
er muß ſich aus dem Verfalle, der Willkühr, der Manier — die wir
nicht weiter ſchildern — aufraffen und daher auf ein förmlich geregeltes
Kunſtbewußtſein, auf Methode im Unterricht gründen: er wird akademiſch
(vergl. §. 522). Das Akademiſche mit ſeinem Guten und ſeinem Uebeln
(dem Formaliſmus und Mechaniſmus) iſt bereits durch und durch mo-
dern. Dem Inhalte nach ſind die Begründer dieſer neuen Form, die
Caracci in Bologna, Eklektiker. Freilich iſt dieß nicht abſtract zu
nehmen: ein Auszug der Vorzüge aus den verſchiedenſten Meiſtern und
Schulen wird zwar als Ideal hingeſtellt und daraus muß eigentlich ein
todtgebornes, ſchattenhaftes Product entſtehen, aber das Leben läßt ſich
nicht zerſchneiden: auch dieſe formaliſtiſchen Idealiſten haben Theil an
dem kräftigen Naturaliſmus, der gleichzeitig in Italien auflebt und ſich
ihnen entgegenwirft; es fehlt den Reſtauratoren, die nicht nur in Bologna,
ſondern in mehreren Städten Italiens auftreten, neben der markloſen
Sentimentalität, die aus den correcten Formen ſpricht, doch in vielen
ihrer Werke keineswegs an Fülle und Wärme des Lebens. Trotzdem
müſſen die Gegenſätze für den Begriff klar geſchieden werden. Dem
Stoffe nach iſt der Eklekticiſmus weſentlich noch mythiſch und allegoriſch,
nur in der Landſchaft zerfließt auch nach dieſer Seite der Gegenſatz der
Richtungen: Annibale Caracci und Dominichino ergreifen dieſen
Zweig, auf den wir jedoch erſt bei der entgegengeſetzten Gruppe eingehen.
Dieſe wirft denn gegen die Kälte und Abſtraction der Eklektiker den Na-
turaliſmus
als Prinzip auf. Mit dieſem Worte verbindet ſich nun
ein neuer Begriff. Bis jetzt haben wir unter demſelben zunächſt eine
berechtigte Seite des ächt maleriſchen Styls, dann aber auch eine Verir-
rung deſſelben, ein wahlloſes Aufgreifen gemeiner empiriſcher Formen ver-
ſtanden. In dieſen italieniſchen Naturaliſten tritt nun allerdings das
Maleriſche mit einer Gewalt und Ausdrücklichkeit auf, wie bis dahin in
Italien noch nie; aber es tritt nicht rein auf, der Naturaliſmus greift nach
gemeinen Formen. Das Neue jedoch beſteht darin, daß dieſes Aufgreifen
nicht in naiver Weiſe geſchieht, wie wir es bei den Deutſchen fanden,
ſondern prinzipiell als Loſungswort in der Oppoſitionsſtellung gegen eine
froſtige Stylregel und ihren Schulzwang. Es iſt ein grundſätzlich ſtylloſes
Verfahren, das die rohe, die wilde, gemeine Natur mit kecker Fauſt dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0248" n="740"/>
              <p> <hi rendition="#et">Die italieni&#x017F;che Kun&#x017F;t hat eine &#x017F;olche Stärke normaler Lebenskraft,<lb/>
daß &#x017F;ie an der Schwelle des eigentlich Modernen, am Ende des &#x017F;echzehn-<lb/>
ten und Anfang des &#x017F;iebzehnten Jahrhunderts, noch einen bedeutenden<lb/>
Spro&#x017F;&#x017F;en treibt und vorbildlich das Thema hin&#x017F;tellt, das von nun an<lb/>
auf höheren Stufen, in ver&#x017F;chiedenen Formen durchge&#x017F;pielt wird. Der<lb/>
pla&#x017F;ti&#x017F;che Styl nämlich, an und für &#x017F;ich &#x017F;chon der Träger der Di&#x017F;ciplin<lb/>
für den maleri&#x017F;chen, muß &#x017F;ich jetzt mit einem neuen Momente verbinden:<lb/>
er muß &#x017F;ich aus dem Verfalle, der Willkühr, der Manier &#x2014; die wir<lb/>
nicht weiter &#x017F;childern &#x2014; aufraffen und daher auf ein förmlich geregeltes<lb/>
Kun&#x017F;tbewußt&#x017F;ein, auf Methode im Unterricht gründen: er wird <hi rendition="#g">akademi&#x017F;ch</hi><lb/>
(vergl. §. 522). Das Akademi&#x017F;che mit &#x017F;einem Guten und &#x017F;einem Uebeln<lb/>
(dem Formali&#x017F;mus und Mechani&#x017F;mus) i&#x017F;t bereits durch und durch mo-<lb/>
dern. Dem Inhalte nach &#x017F;ind die Begründer die&#x017F;er neuen Form, die<lb/><hi rendition="#g">Caracci</hi> in Bologna, <hi rendition="#g">Eklektiker</hi>. Freilich i&#x017F;t dieß nicht ab&#x017F;tract zu<lb/>
nehmen: ein Auszug der Vorzüge aus den ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Mei&#x017F;tern und<lb/>
Schulen wird zwar als Ideal hinge&#x017F;tellt und daraus muß eigentlich ein<lb/>
todtgebornes, &#x017F;chattenhaftes Product ent&#x017F;tehen, aber das Leben läßt &#x017F;ich<lb/>
nicht zer&#x017F;chneiden: auch die&#x017F;e formali&#x017F;ti&#x017F;chen Ideali&#x017F;ten haben Theil an<lb/>
dem kräftigen Naturali&#x017F;mus, der gleichzeitig in Italien auflebt und &#x017F;ich<lb/>
ihnen entgegenwirft; es fehlt den Re&#x017F;tauratoren, die nicht nur in Bologna,<lb/>
&#x017F;ondern in mehreren Städten Italiens auftreten, neben der marklo&#x017F;en<lb/>
Sentimentalität, die aus den correcten Formen &#x017F;pricht, doch in vielen<lb/>
ihrer Werke keineswegs an Fülle und Wärme des Lebens. Trotzdem<lb/>&#x017F;&#x017F;en die Gegen&#x017F;ätze für den Begriff klar ge&#x017F;chieden werden. Dem<lb/>
Stoffe nach i&#x017F;t der Eklektici&#x017F;mus we&#x017F;entlich noch mythi&#x017F;ch und allegori&#x017F;ch,<lb/>
nur in der Land&#x017F;chaft zerfließt auch nach die&#x017F;er Seite der Gegen&#x017F;atz der<lb/>
Richtungen: <hi rendition="#g">Annibale Caracci</hi> und <hi rendition="#g">Dominichino</hi> ergreifen die&#x017F;en<lb/>
Zweig, auf den wir jedoch er&#x017F;t bei der entgegenge&#x017F;etzten Gruppe eingehen.<lb/>
Die&#x017F;e wirft denn gegen die Kälte und Ab&#x017F;traction der Eklektiker den <hi rendition="#g">Na-<lb/>
turali&#x017F;mus</hi> als Prinzip auf. Mit die&#x017F;em Worte verbindet &#x017F;ich nun<lb/>
ein neuer Begriff. Bis jetzt haben wir unter dem&#x017F;elben zunäch&#x017F;t eine<lb/>
berechtigte Seite des ächt maleri&#x017F;chen Styls, dann aber auch eine Verir-<lb/>
rung de&#x017F;&#x017F;elben, ein wahllo&#x017F;es Aufgreifen gemeiner empiri&#x017F;cher Formen ver-<lb/>
&#x017F;tanden. In die&#x017F;en italieni&#x017F;chen Naturali&#x017F;ten tritt nun allerdings das<lb/>
Maleri&#x017F;che mit einer Gewalt und Ausdrücklichkeit auf, wie bis dahin in<lb/>
Italien noch nie; aber es tritt nicht rein auf, der Naturali&#x017F;mus greift nach<lb/>
gemeinen Formen. Das Neue jedoch be&#x017F;teht darin, daß die&#x017F;es Aufgreifen<lb/>
nicht in naiver Wei&#x017F;e ge&#x017F;chieht, wie wir es bei den Deut&#x017F;chen fanden,<lb/>
&#x017F;ondern prinzipiell als Lo&#x017F;ungswort in der Oppo&#x017F;itions&#x017F;tellung gegen eine<lb/>
fro&#x017F;tige Stylregel und ihren Schulzwang. Es i&#x017F;t ein grund&#x017F;ätzlich &#x017F;tyllo&#x017F;es<lb/>
Verfahren, das die rohe, die wilde, gemeine Natur mit kecker Fau&#x017F;t dem<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[740/0248] Die italieniſche Kunſt hat eine ſolche Stärke normaler Lebenskraft, daß ſie an der Schwelle des eigentlich Modernen, am Ende des ſechzehn- ten und Anfang des ſiebzehnten Jahrhunderts, noch einen bedeutenden Sproſſen treibt und vorbildlich das Thema hinſtellt, das von nun an auf höheren Stufen, in verſchiedenen Formen durchgeſpielt wird. Der plaſtiſche Styl nämlich, an und für ſich ſchon der Träger der Diſciplin für den maleriſchen, muß ſich jetzt mit einem neuen Momente verbinden: er muß ſich aus dem Verfalle, der Willkühr, der Manier — die wir nicht weiter ſchildern — aufraffen und daher auf ein förmlich geregeltes Kunſtbewußtſein, auf Methode im Unterricht gründen: er wird akademiſch (vergl. §. 522). Das Akademiſche mit ſeinem Guten und ſeinem Uebeln (dem Formaliſmus und Mechaniſmus) iſt bereits durch und durch mo- dern. Dem Inhalte nach ſind die Begründer dieſer neuen Form, die Caracci in Bologna, Eklektiker. Freilich iſt dieß nicht abſtract zu nehmen: ein Auszug der Vorzüge aus den verſchiedenſten Meiſtern und Schulen wird zwar als Ideal hingeſtellt und daraus muß eigentlich ein todtgebornes, ſchattenhaftes Product entſtehen, aber das Leben läßt ſich nicht zerſchneiden: auch dieſe formaliſtiſchen Idealiſten haben Theil an dem kräftigen Naturaliſmus, der gleichzeitig in Italien auflebt und ſich ihnen entgegenwirft; es fehlt den Reſtauratoren, die nicht nur in Bologna, ſondern in mehreren Städten Italiens auftreten, neben der markloſen Sentimentalität, die aus den correcten Formen ſpricht, doch in vielen ihrer Werke keineswegs an Fülle und Wärme des Lebens. Trotzdem müſſen die Gegenſätze für den Begriff klar geſchieden werden. Dem Stoffe nach iſt der Eklekticiſmus weſentlich noch mythiſch und allegoriſch, nur in der Landſchaft zerfließt auch nach dieſer Seite der Gegenſatz der Richtungen: Annibale Caracci und Dominichino ergreifen dieſen Zweig, auf den wir jedoch erſt bei der entgegengeſetzten Gruppe eingehen. Dieſe wirft denn gegen die Kälte und Abſtraction der Eklektiker den Na- turaliſmus als Prinzip auf. Mit dieſem Worte verbindet ſich nun ein neuer Begriff. Bis jetzt haben wir unter demſelben zunächſt eine berechtigte Seite des ächt maleriſchen Styls, dann aber auch eine Verir- rung deſſelben, ein wahlloſes Aufgreifen gemeiner empiriſcher Formen ver- ſtanden. In dieſen italieniſchen Naturaliſten tritt nun allerdings das Maleriſche mit einer Gewalt und Ausdrücklichkeit auf, wie bis dahin in Italien noch nie; aber es tritt nicht rein auf, der Naturaliſmus greift nach gemeinen Formen. Das Neue jedoch beſteht darin, daß dieſes Aufgreifen nicht in naiver Weiſe geſchieht, wie wir es bei den Deutſchen fanden, ſondern prinzipiell als Loſungswort in der Oppoſitionsſtellung gegen eine froſtige Stylregel und ihren Schulzwang. Es iſt ein grundſätzlich ſtylloſes Verfahren, das die rohe, die wilde, gemeine Natur mit kecker Fauſt dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/248
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 740. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/248>, abgerufen am 25.04.2024.