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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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uns, die Charakteristik Dürers und L. Kranachs, die der §. gibt, weiter
auszuführen; nur bei Hans Holbein (dem Jüngsten) müssen wir verweilen,
weil seine Erscheinung für den ganzen Grundgedanken dieses Abrisses der
Geschichte der Malerei von der tiefsten Wichtigkeit ist. In ihm war etwas
von Raphaels, von Göthe's Geist und in ihm zugleich die ganze Schärfe,
täuschungslose Wahrheit, unbestechliche Belauschung des Wirklichen in den
sprechenden Zügen seiner unerbittlichen Realität, in ihm warmer Farbensinn
und harmonischer Formensinn; in ihm konnte der Nation ein Shakes-
peare der Malerei, geläutert an Sophokles, erstehen. Er hat schon in
seinen frühen Werken Figuren von einer Reinheit, einem gelösten, freien,
entschlossenen Wurf, welche ganz modern gemahnen, als gehörten sie einer
Zeit, wo die nordische Kunst durch die Alten und die Italiener sich von
ihrer Gebundenheit befreit hat. Er kannte die Italiener, Mantegna, Leonardo
da Vinci, Raphael. Nun aber erwäge man bestimmter, was wir schon zu
§. 728 berührt haben: ein dem innersten Wesen nach entgegengesetzter
Styl ist in Deutschland ohne alle Rücksicht auf den plastischen, italienischen
vollkommen reif geworden, hat nicht in organischem Fortgange schrittweise
von diesem sich angeeignet, was noth that; nun, ganz für sich erstarkt,
öffnet er das Auge und findet den entgegengesetzten Styl, das Erzeug-
niß eines grundverschiedenen Naturells, ebenfalls völlig erstarkt und reif.
Da wird er sich im Gefühle der unendlichen Schwierigkeit einer Ver-
schmelzung entweder spröde gegen ihn abschließen, und so that Dürer, oder
er wird in eine Schwankung gerathen, worin er bald ein Stück des andern
Styls äußerlich in ein Ganzes der eigenen Auffassung hineinstellt, bald
mit vollen Händen und gänzlicher Selbstentäußerung in jenen hineingreift,
bald ihn wieder wegstößt und ganz den eigenen, aller plastischen Schön-
heit fremden Wegen nachgeht, kaum ein einzigesmal aber ihn organisch
im Ganzen eines Kunstwerks mit den Formen des eigenen Styls verschmelzt.
So verhält es sich mit Hans Holbein. Das eine Mal findet man bei
ihm zwischen hart und scharf naturalisirten und individualisirten, ächt
deutschen Figuren einzelne in der generalisirenden Schönheitsnorm der
Italiener gehalten; man fühlt, daß diese neben jenen flach, abstract ideal
erscheinen, man fühlt, wie schwer es war, abzuwägen, wie viel denn nun
von dem einen, wie viel von dem andern Styl zur richtigen Mischung
eines neuen, dritten sollte gezogen werden; das andre Mal erscheint er
in allegorischer Composition ganz wie ein Giulio Romano; jetzt wirft er
die plastisch geläuterte Form wieder ganz über Bord und tritt als haar-
scharf eckiger deutscher Physiognomiker an uns; einmal aber weiß er
ein Ganzes, und zudem aus lauter Bildnissen componirt, in der wunder-
vollsten Verschmelzung der gegensätzlichen Style durchzuführen und erwärmt
zugleich das innerste Herz, den Menschen im Menschen, durch die reine

uns, die Charakteriſtik Dürers und L. Kranachs, die der §. gibt, weiter
auszuführen; nur bei Hans Holbein (dem Jüngſten) müſſen wir verweilen,
weil ſeine Erſcheinung für den ganzen Grundgedanken dieſes Abriſſes der
Geſchichte der Malerei von der tiefſten Wichtigkeit iſt. In ihm war etwas
von Raphaels, von Göthe’s Geiſt und in ihm zugleich die ganze Schärfe,
täuſchungsloſe Wahrheit, unbeſtechliche Belauſchung des Wirklichen in den
ſprechenden Zügen ſeiner unerbittlichen Realität, in ihm warmer Farbenſinn
und harmoniſcher Formenſinn; in ihm konnte der Nation ein Shakes-
peare der Malerei, geläutert an Sophokles, erſtehen. Er hat ſchon in
ſeinen frühen Werken Figuren von einer Reinheit, einem gelösten, freien,
entſchloſſenen Wurf, welche ganz modern gemahnen, als gehörten ſie einer
Zeit, wo die nordiſche Kunſt durch die Alten und die Italiener ſich von
ihrer Gebundenheit befreit hat. Er kannte die Italiener, Mantegna, Leonardo
da Vinci, Raphael. Nun aber erwäge man beſtimmter, was wir ſchon zu
§. 728 berührt haben: ein dem innerſten Weſen nach entgegengeſetzter
Styl iſt in Deutſchland ohne alle Rückſicht auf den plaſtiſchen, italieniſchen
vollkommen reif geworden, hat nicht in organiſchem Fortgange ſchrittweiſe
von dieſem ſich angeeignet, was noth that; nun, ganz für ſich erſtarkt,
öffnet er das Auge und findet den entgegengeſetzten Styl, das Erzeug-
niß eines grundverſchiedenen Naturells, ebenfalls völlig erſtarkt und reif.
Da wird er ſich im Gefühle der unendlichen Schwierigkeit einer Ver-
ſchmelzung entweder ſpröde gegen ihn abſchließen, und ſo that Dürer, oder
er wird in eine Schwankung gerathen, worin er bald ein Stück des andern
Styls äußerlich in ein Ganzes der eigenen Auffaſſung hineinſtellt, bald
mit vollen Händen und gänzlicher Selbſtentäußerung in jenen hineingreift,
bald ihn wieder wegſtößt und ganz den eigenen, aller plaſtiſchen Schön-
heit fremden Wegen nachgeht, kaum ein einzigesmal aber ihn organiſch
im Ganzen eines Kunſtwerks mit den Formen des eigenen Styls verſchmelzt.
So verhält es ſich mit Hans Holbein. Das eine Mal findet man bei
ihm zwiſchen hart und ſcharf naturaliſirten und individualiſirten, ächt
deutſchen Figuren einzelne in der generaliſirenden Schönheitsnorm der
Italiener gehalten; man fühlt, daß dieſe neben jenen flach, abſtract ideal
erſcheinen, man fühlt, wie ſchwer es war, abzuwägen, wie viel denn nun
von dem einen, wie viel von dem andern Styl zur richtigen Miſchung
eines neuen, dritten ſollte gezogen werden; das andre Mal erſcheint er
in allegoriſcher Compoſition ganz wie ein Giulio Romano; jetzt wirft er
die plaſtiſch geläuterte Form wieder ganz über Bord und tritt als haar-
ſcharf eckiger deutſcher Phyſiognomiker an uns; einmal aber weiß er
ein Ganzes, und zudem aus lauter Bildniſſen componirt, in der wunder-
vollſten Verſchmelzung der gegenſätzlichen Style durchzuführen und erwärmt
zugleich das innerſte Herz, den Menſchen im Menſchen, durch die reine

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[737/0245] uns, die Charakteriſtik Dürers und L. Kranachs, die der §. gibt, weiter auszuführen; nur bei Hans Holbein (dem Jüngſten) müſſen wir verweilen, weil ſeine Erſcheinung für den ganzen Grundgedanken dieſes Abriſſes der Geſchichte der Malerei von der tiefſten Wichtigkeit iſt. In ihm war etwas von Raphaels, von Göthe’s Geiſt und in ihm zugleich die ganze Schärfe, täuſchungsloſe Wahrheit, unbeſtechliche Belauſchung des Wirklichen in den ſprechenden Zügen ſeiner unerbittlichen Realität, in ihm warmer Farbenſinn und harmoniſcher Formenſinn; in ihm konnte der Nation ein Shakes- peare der Malerei, geläutert an Sophokles, erſtehen. Er hat ſchon in ſeinen frühen Werken Figuren von einer Reinheit, einem gelösten, freien, entſchloſſenen Wurf, welche ganz modern gemahnen, als gehörten ſie einer Zeit, wo die nordiſche Kunſt durch die Alten und die Italiener ſich von ihrer Gebundenheit befreit hat. Er kannte die Italiener, Mantegna, Leonardo da Vinci, Raphael. Nun aber erwäge man beſtimmter, was wir ſchon zu §. 728 berührt haben: ein dem innerſten Weſen nach entgegengeſetzter Styl iſt in Deutſchland ohne alle Rückſicht auf den plaſtiſchen, italieniſchen vollkommen reif geworden, hat nicht in organiſchem Fortgange ſchrittweiſe von dieſem ſich angeeignet, was noth that; nun, ganz für ſich erſtarkt, öffnet er das Auge und findet den entgegengeſetzten Styl, das Erzeug- niß eines grundverſchiedenen Naturells, ebenfalls völlig erſtarkt und reif. Da wird er ſich im Gefühle der unendlichen Schwierigkeit einer Ver- ſchmelzung entweder ſpröde gegen ihn abſchließen, und ſo that Dürer, oder er wird in eine Schwankung gerathen, worin er bald ein Stück des andern Styls äußerlich in ein Ganzes der eigenen Auffaſſung hineinſtellt, bald mit vollen Händen und gänzlicher Selbſtentäußerung in jenen hineingreift, bald ihn wieder wegſtößt und ganz den eigenen, aller plaſtiſchen Schön- heit fremden Wegen nachgeht, kaum ein einzigesmal aber ihn organiſch im Ganzen eines Kunſtwerks mit den Formen des eigenen Styls verſchmelzt. So verhält es ſich mit Hans Holbein. Das eine Mal findet man bei ihm zwiſchen hart und ſcharf naturaliſirten und individualiſirten, ächt deutſchen Figuren einzelne in der generaliſirenden Schönheitsnorm der Italiener gehalten; man fühlt, daß dieſe neben jenen flach, abſtract ideal erſcheinen, man fühlt, wie ſchwer es war, abzuwägen, wie viel denn nun von dem einen, wie viel von dem andern Styl zur richtigen Miſchung eines neuen, dritten ſollte gezogen werden; das andre Mal erſcheint er in allegoriſcher Compoſition ganz wie ein Giulio Romano; jetzt wirft er die plaſtiſch geläuterte Form wieder ganz über Bord und tritt als haar- ſcharf eckiger deutſcher Phyſiognomiker an uns; einmal aber weiß er ein Ganzes, und zudem aus lauter Bildniſſen componirt, in der wunder- vollſten Verſchmelzung der gegenſätzlichen Style durchzuführen und erwärmt zugleich das innerſte Herz, den Menſchen im Menſchen, durch die reine

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 737. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/245>, abgerufen am 25.04.2024.