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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Verstopfung einer reichen Stoffquelle beziehen soll, nur zu antworten, daß
nicht zu viel, sondern zu wenig reformirt worden ist. Der Theil des
Mythus, der stehen blieb, war zu arm für die Kunst. Rationale Auf-
fassung desselben, wie wir solche bei den Venetianern erwähnt haben,
dringt im Einzelnen gewaltig durch, wie in A. Dürers vier Aposteln,
allein von keiner andern, reicheren Stoffquelle getragen, kann sie aus
diesem Gebiete nur vereinzelte, geringe Nahrung ziehen. Und doch
reicht der Rest von Mythus hin, noch immer die ursprüngliche Stoffwelt
zu versperren. Es ist mehr, als einmal, ausgesprochen, daß die deutsche
Malerei noch ungleich stärker, als die zur Reife gelangte italienische, zu
dieser Welt hindrängte; wir heben nur noch ausdrücklich den Geist der
schlichten Wahrheit heraus, der ihren innersten Kern, wie überhaupt den
Kern des deutschen Geistes, bildet. Die deutsche Natur ließ sich nicht
länger von dem ästhetischen Pathos der romanischen Kirche blenden, sondern
zerriß mit gesund grober Täuschungslosigkeit den prachtvollen Schleier.
Diese Täuschungslosigkeit, Scheinlosigkeit war an sich nichts weniger, als
Feindschaft gegen den freien Schein der Kunst, wohl aber widerstrebte sie
mit vollem Rechte der mythischen Kunst und mit halbem Rechte dem idea-
len Pathos des plastischen Kunststyls. Sie spricht mit einer kerngesunden,
tief lauteren Ehrlichkeit, einer rührenden Treue aus den Werken der großen
Meister. Sie führte insbesondere zu einer Komik, die wohl von jenem
phantastischen Schößling zu unterscheiden ist, zu einer Komik, wo sie hin-
gehört, einer gemüthvollen, behaglichen Darstellung der lieben, derben
Natur, die dem Schnürbande, der geistlichen und weltlichen Aristokratie
des Mittelalters entwachsen ist und gelegentlich mit cynischem Bauern-
Lärm sich's wohl sein läßt, vergl. §. 369. 471. Da war denn namentlich
das gröbere, das gemüthliche, das komische Sittenbild gegeben, und doch
kann es noch immer nicht zum Dasein als selbständiger Zweig gelangen.
Es tritt nur vereinzelt in Handzeichnung, Kupferstich, Holzschnitt als
ungetheiltes Ganzes auf, im Allgemeinen schließt es sich auch jetzt noch an
den mythischen Stoff und vernürnbergert die Studirstube des h. Hierony-
mus, die Werkstätte Josephs. Auch die geschichtliche Malerei ringt ebenso
vergeblich zum Dasein, alle Versuche bleiben vereinzelt. Ein L. Kranach
mit seiner tiefwahren Charakter-Zeichnung findet keinen Stoff, sie zur
dramatischen Handlung zu entfalten, und begnügt sich mit Gruppen-
Zusammenstellungen der Reformatoren: das Historienbild tritt theologisch
auf, wie die Reformation sich in das Theologische verengte. -- Gilt aber
jener Vorwurf der Reformation als einer Bewegung der Geister über-
haupt, so enthält er ein richtiges Urtheil, das kein Vorwurf ist. Der
Bruch mit dem Mittelalter forderte eine Energie des sittlichen Geistes,
neben welcher das interesselose Form-Interesse des Schönen nicht blühen,

Verſtopfung einer reichen Stoffquelle beziehen ſoll, nur zu antworten, daß
nicht zu viel, ſondern zu wenig reformirt worden iſt. Der Theil des
Mythus, der ſtehen blieb, war zu arm für die Kunſt. Rationale Auf-
faſſung deſſelben, wie wir ſolche bei den Venetianern erwähnt haben,
dringt im Einzelnen gewaltig durch, wie in A. Dürers vier Apoſteln,
allein von keiner andern, reicheren Stoffquelle getragen, kann ſie aus
dieſem Gebiete nur vereinzelte, geringe Nahrung ziehen. Und doch
reicht der Reſt von Mythus hin, noch immer die urſprüngliche Stoffwelt
zu verſperren. Es iſt mehr, als einmal, ausgeſprochen, daß die deutſche
Malerei noch ungleich ſtärker, als die zur Reife gelangte italieniſche, zu
dieſer Welt hindrängte; wir heben nur noch ausdrücklich den Geiſt der
ſchlichten Wahrheit heraus, der ihren innerſten Kern, wie überhaupt den
Kern des deutſchen Geiſtes, bildet. Die deutſche Natur ließ ſich nicht
länger von dem äſthetiſchen Pathos der romaniſchen Kirche blenden, ſondern
zerriß mit geſund grober Täuſchungsloſigkeit den prachtvollen Schleier.
Dieſe Täuſchungsloſigkeit, Scheinloſigkeit war an ſich nichts weniger, als
Feindſchaft gegen den freien Schein der Kunſt, wohl aber widerſtrebte ſie
mit vollem Rechte der mythiſchen Kunſt und mit halbem Rechte dem idea-
len Pathos des plaſtiſchen Kunſtſtyls. Sie ſpricht mit einer kerngeſunden,
tief lauteren Ehrlichkeit, einer rührenden Treue aus den Werken der großen
Meiſter. Sie führte insbeſondere zu einer Komik, die wohl von jenem
phantaſtiſchen Schößling zu unterſcheiden iſt, zu einer Komik, wo ſie hin-
gehört, einer gemüthvollen, behaglichen Darſtellung der lieben, derben
Natur, die dem Schnürbande, der geiſtlichen und weltlichen Ariſtokratie
des Mittelalters entwachſen iſt und gelegentlich mit cyniſchem Bauern-
Lärm ſich’s wohl ſein läßt, vergl. §. 369. 471. Da war denn namentlich
das gröbere, das gemüthliche, das komiſche Sittenbild gegeben, und doch
kann es noch immer nicht zum Daſein als ſelbſtändiger Zweig gelangen.
Es tritt nur vereinzelt in Handzeichnung, Kupferſtich, Holzſchnitt als
ungetheiltes Ganzes auf, im Allgemeinen ſchließt es ſich auch jetzt noch an
den mythiſchen Stoff und vernürnbergert die Studirſtube des h. Hierony-
mus, die Werkſtätte Joſephs. Auch die geſchichtliche Malerei ringt ebenſo
vergeblich zum Daſein, alle Verſuche bleiben vereinzelt. Ein L. Kranach
mit ſeiner tiefwahren Charakter-Zeichnung findet keinen Stoff, ſie zur
dramatiſchen Handlung zu entfalten, und begnügt ſich mit Gruppen-
Zuſammenſtellungen der Reformatoren: das Hiſtorienbild tritt theologiſch
auf, wie die Reformation ſich in das Theologiſche verengte. — Gilt aber
jener Vorwurf der Reformation als einer Bewegung der Geiſter über-
haupt, ſo enthält er ein richtiges Urtheil, das kein Vorwurf iſt. Der
Bruch mit dem Mittelalter forderte eine Energie des ſittlichen Geiſtes,
neben welcher das intereſſeloſe Form-Intereſſe des Schönen nicht blühen,

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[735/0243] Verſtopfung einer reichen Stoffquelle beziehen ſoll, nur zu antworten, daß nicht zu viel, ſondern zu wenig reformirt worden iſt. Der Theil des Mythus, der ſtehen blieb, war zu arm für die Kunſt. Rationale Auf- faſſung deſſelben, wie wir ſolche bei den Venetianern erwähnt haben, dringt im Einzelnen gewaltig durch, wie in A. Dürers vier Apoſteln, allein von keiner andern, reicheren Stoffquelle getragen, kann ſie aus dieſem Gebiete nur vereinzelte, geringe Nahrung ziehen. Und doch reicht der Reſt von Mythus hin, noch immer die urſprüngliche Stoffwelt zu verſperren. Es iſt mehr, als einmal, ausgeſprochen, daß die deutſche Malerei noch ungleich ſtärker, als die zur Reife gelangte italieniſche, zu dieſer Welt hindrängte; wir heben nur noch ausdrücklich den Geiſt der ſchlichten Wahrheit heraus, der ihren innerſten Kern, wie überhaupt den Kern des deutſchen Geiſtes, bildet. Die deutſche Natur ließ ſich nicht länger von dem äſthetiſchen Pathos der romaniſchen Kirche blenden, ſondern zerriß mit geſund grober Täuſchungsloſigkeit den prachtvollen Schleier. Dieſe Täuſchungsloſigkeit, Scheinloſigkeit war an ſich nichts weniger, als Feindſchaft gegen den freien Schein der Kunſt, wohl aber widerſtrebte ſie mit vollem Rechte der mythiſchen Kunſt und mit halbem Rechte dem idea- len Pathos des plaſtiſchen Kunſtſtyls. Sie ſpricht mit einer kerngeſunden, tief lauteren Ehrlichkeit, einer rührenden Treue aus den Werken der großen Meiſter. Sie führte insbeſondere zu einer Komik, die wohl von jenem phantaſtiſchen Schößling zu unterſcheiden iſt, zu einer Komik, wo ſie hin- gehört, einer gemüthvollen, behaglichen Darſtellung der lieben, derben Natur, die dem Schnürbande, der geiſtlichen und weltlichen Ariſtokratie des Mittelalters entwachſen iſt und gelegentlich mit cyniſchem Bauern- Lärm ſich’s wohl ſein läßt, vergl. §. 369. 471. Da war denn namentlich das gröbere, das gemüthliche, das komiſche Sittenbild gegeben, und doch kann es noch immer nicht zum Daſein als ſelbſtändiger Zweig gelangen. Es tritt nur vereinzelt in Handzeichnung, Kupferſtich, Holzſchnitt als ungetheiltes Ganzes auf, im Allgemeinen ſchließt es ſich auch jetzt noch an den mythiſchen Stoff und vernürnbergert die Studirſtube des h. Hierony- mus, die Werkſtätte Joſephs. Auch die geſchichtliche Malerei ringt ebenſo vergeblich zum Daſein, alle Verſuche bleiben vereinzelt. Ein L. Kranach mit ſeiner tiefwahren Charakter-Zeichnung findet keinen Stoff, ſie zur dramatiſchen Handlung zu entfalten, und begnügt ſich mit Gruppen- Zuſammenſtellungen der Reformatoren: das Hiſtorienbild tritt theologiſch auf, wie die Reformation ſich in das Theologiſche verengte. — Gilt aber jener Vorwurf der Reformation als einer Bewegung der Geiſter über- haupt, ſo enthält er ein richtiges Urtheil, das kein Vorwurf iſt. Der Bruch mit dem Mittelalter forderte eine Energie des ſittlichen Geiſtes, neben welcher das intereſſeloſe Form-Intereſſe des Schönen nicht blühen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 735. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/243>, abgerufen am 28.03.2024.