Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Wir nehmen die andern Völker diesseits der Alpen erst an den Puncten
auf, wo sie für sich bedeutend werden; germanisch hätten wir zu sagen
statt: deutsch, da wir in diesem Zeitraum die Niederlande mit dem eigent-
lichen Deutschland zusammenfassen, aber wir vermeiden dieß, weil es in
eine Verwirrung mit derselben Beziehung führen würde, wie sie für eine
besondere, historische Entwicklungsstufe des Styls aufgenommen ist, und
behalten dabei im Auge, daß die ursprünglich Einem Volke gehörenden
Stämme früher nicht getrennt waren, wie jetzt. Wo dagegen der eine
dieser Stämme wieder besondere Wege gehen wird, werden wir ihn auch
durch seinen besondern Namen unterscheiden.

Daß der deutsche Geist vorzüglich berufen war, das rein Malerische
auszubilden, daß er aber große Lücken in der Lösung seiner Kunstaufgabe
lassen mußte, ehe er das classische Formgefühl in einer Weise, wie dieß
durch die Einflüsse aus dem Süden und Byzanz im früheren Mittelalter
noch keineswegs möglich war, sich angeeignet hatte: dieß ist durch die
§§. 354 und 463 hinreichend begründet. Der ästhetische Bruch zwischen
Ausdruck und Form, der im Malerischen berechtigt, ja gefordert ist, mußte
zuerst als ein Bruch auftreten, der überhaupt nicht ästhetisch ist. Der
malerische Ueberschuß des Ausdrucks über die Form begründet eine gewisse
Härte der letzteren, insbesondere im Sinn bedeutungsvoll unregelmäßiger
Eigenheit der Individualität; aber nicht soll diese Härte das Maaß über-
schreiten, das wir ihr deutlich und bestimmt gesetzt haben, und nicht soll
die Härte hart dargestellt werden. Zu dieser Unterscheidung vergl.
auch §. 456 und 718; der erstere spricht von der ascetischen Formhärte
des Mittelalters überhaupt, der letztere von einer Ueberwindung derselben,
die allerdings eintrat: das war eben bei den Italienern, aber nicht bei
den Deutschen.

Jene besondere Form, in welcher alle mittelalterliche Malerei als
spezifisch religiöse das Gesetz des überwiegenden Ausdrucks erfüllt: die
unendliche Innigkeit einer frommen Seele, mußte es vor Allem sein, was
in der Auffassung, die von Hause aus streng malerisch war, sich noch
mehr vertiefte, und zwar gerade durch die Wirkung eines Gegenwurfs,
indem das Aeußere die schärfere Zusammenfassung der Natur und Eigen-
willigkeit kund gab, welche, wenn sie überwunden werden soll, einen noch
gesammelteren inneren Schatz der Liebe und Ehrfurcht voraussetzt. Dieß
ist die bestimmte Art der Idealität, welche in diesem Styl als Gesetz
herrscht, danach werden die Formen künstlerisch gewählt und es ist ganz
unrichtig, als bezeichnendes Merkmal desselben den Naturalismus in dem
tadelnden Sinne wahllosen Aufgreifens empirischer Formen hinzustellen.
Hiemit haben wir bereits das andere Extrem ausgesprochen: der deutsche
Styl als ächt malerischer ist unendlich individueller, als der italienische.

Wir nehmen die andern Völker dieſſeits der Alpen erſt an den Puncten
auf, wo ſie für ſich bedeutend werden; germaniſch hätten wir zu ſagen
ſtatt: deutſch, da wir in dieſem Zeitraum die Niederlande mit dem eigent-
lichen Deutſchland zuſammenfaſſen, aber wir vermeiden dieß, weil es in
eine Verwirrung mit derſelben Beziehung führen würde, wie ſie für eine
beſondere, hiſtoriſche Entwicklungsſtufe des Styls aufgenommen iſt, und
behalten dabei im Auge, daß die urſprünglich Einem Volke gehörenden
Stämme früher nicht getrennt waren, wie jetzt. Wo dagegen der eine
dieſer Stämme wieder beſondere Wege gehen wird, werden wir ihn auch
durch ſeinen beſondern Namen unterſcheiden.

Daß der deutſche Geiſt vorzüglich berufen war, das rein Maleriſche
auszubilden, daß er aber große Lücken in der Löſung ſeiner Kunſtaufgabe
laſſen mußte, ehe er das claſſiſche Formgefühl in einer Weiſe, wie dieß
durch die Einflüſſe aus dem Süden und Byzanz im früheren Mittelalter
noch keineswegs möglich war, ſich angeeignet hatte: dieß iſt durch die
§§. 354 und 463 hinreichend begründet. Der äſthetiſche Bruch zwiſchen
Ausdruck und Form, der im Maleriſchen berechtigt, ja gefordert iſt, mußte
zuerſt als ein Bruch auftreten, der überhaupt nicht äſthetiſch iſt. Der
maleriſche Ueberſchuß des Ausdrucks über die Form begründet eine gewiſſe
Härte der letzteren, insbeſondere im Sinn bedeutungsvoll unregelmäßiger
Eigenheit der Individualität; aber nicht ſoll dieſe Härte das Maaß über-
ſchreiten, das wir ihr deutlich und beſtimmt geſetzt haben, und nicht ſoll
die Härte hart dargeſtellt werden. Zu dieſer Unterſcheidung vergl.
auch §. 456 und 718; der erſtere ſpricht von der aſcetiſchen Formhärte
des Mittelalters überhaupt, der letztere von einer Ueberwindung derſelben,
die allerdings eintrat: das war eben bei den Italienern, aber nicht bei
den Deutſchen.

Jene beſondere Form, in welcher alle mittelalterliche Malerei als
ſpezifiſch religiöſe das Geſetz des überwiegenden Ausdrucks erfüllt: die
unendliche Innigkeit einer frommen Seele, mußte es vor Allem ſein, was
in der Auffaſſung, die von Hauſe aus ſtreng maleriſch war, ſich noch
mehr vertiefte, und zwar gerade durch die Wirkung eines Gegenwurfs,
indem das Aeußere die ſchärfere Zuſammenfaſſung der Natur und Eigen-
willigkeit kund gab, welche, wenn ſie überwunden werden ſoll, einen noch
geſammelteren inneren Schatz der Liebe und Ehrfurcht vorausſetzt. Dieß
iſt die beſtimmte Art der Idealität, welche in dieſem Styl als Geſetz
herrſcht, danach werden die Formen künſtleriſch gewählt und es iſt ganz
unrichtig, als bezeichnendes Merkmal deſſelben den Naturaliſmus in dem
tadelnden Sinne wahlloſen Aufgreifens empiriſcher Formen hinzuſtellen.
Hiemit haben wir bereits das andere Extrem ausgeſprochen: der deutſche
Styl als ächt maleriſcher iſt unendlich individueller, als der italieniſche.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <pb facs="#f0232" n="724"/>
                <p> <hi rendition="#et">Wir nehmen die andern Völker die&#x017F;&#x017F;eits der Alpen er&#x017F;t an den Puncten<lb/>
auf, wo &#x017F;ie für &#x017F;ich bedeutend werden; germani&#x017F;ch hätten wir zu &#x017F;agen<lb/>
&#x017F;tatt: deut&#x017F;ch, da wir in die&#x017F;em Zeitraum die Niederlande mit dem eigent-<lb/>
lichen Deut&#x017F;chland zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;en, aber wir vermeiden dieß, weil es in<lb/>
eine Verwirrung mit der&#x017F;elben Beziehung führen würde, wie &#x017F;ie für eine<lb/>
be&#x017F;ondere, hi&#x017F;tori&#x017F;che Entwicklungs&#x017F;tufe des Styls aufgenommen i&#x017F;t, und<lb/>
behalten dabei im Auge, daß die ur&#x017F;prünglich Einem Volke gehörenden<lb/>
Stämme früher nicht getrennt waren, wie jetzt. Wo dagegen der eine<lb/>
die&#x017F;er Stämme wieder be&#x017F;ondere Wege gehen wird, werden wir ihn auch<lb/>
durch &#x017F;einen be&#x017F;ondern Namen unter&#x017F;cheiden.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Daß der deut&#x017F;che Gei&#x017F;t vorzüglich berufen war, das rein Maleri&#x017F;che<lb/>
auszubilden, daß er aber große Lücken in der Lö&#x017F;ung &#x017F;einer Kun&#x017F;taufgabe<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en mußte, ehe er das cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Formgefühl in einer Wei&#x017F;e, wie dieß<lb/>
durch die Einflü&#x017F;&#x017F;e aus dem Süden und Byzanz im früheren Mittelalter<lb/>
noch keineswegs möglich war, &#x017F;ich angeeignet hatte: dieß i&#x017F;t durch die<lb/>
§§. 354 und 463 hinreichend begründet. Der ä&#x017F;theti&#x017F;che Bruch zwi&#x017F;chen<lb/>
Ausdruck und Form, der im Maleri&#x017F;chen berechtigt, ja gefordert i&#x017F;t, mußte<lb/>
zuer&#x017F;t als ein Bruch auftreten, der überhaupt nicht ä&#x017F;theti&#x017F;ch i&#x017F;t. Der<lb/>
maleri&#x017F;che Ueber&#x017F;chuß des Ausdrucks über die Form begründet eine gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Härte der letzteren, insbe&#x017F;ondere im Sinn bedeutungsvoll unregelmäßiger<lb/>
Eigenheit der Individualität; aber nicht &#x017F;oll die&#x017F;e Härte das Maaß über-<lb/>
&#x017F;chreiten, das wir ihr deutlich und be&#x017F;timmt ge&#x017F;etzt haben, und nicht &#x017F;oll<lb/>
die Härte <hi rendition="#g">hart darge&#x017F;tellt</hi> werden. Zu die&#x017F;er Unter&#x017F;cheidung vergl.<lb/>
auch §. 456 und 718; der er&#x017F;tere &#x017F;pricht von der a&#x017F;ceti&#x017F;chen Formhärte<lb/>
des Mittelalters überhaupt, der letztere von einer Ueberwindung der&#x017F;elben,<lb/>
die allerdings eintrat: das war eben bei den Italienern, aber nicht bei<lb/>
den Deut&#x017F;chen.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Jene be&#x017F;ondere Form, in welcher alle mittelalterliche Malerei als<lb/>
&#x017F;pezifi&#x017F;ch religiö&#x017F;e das Ge&#x017F;etz des überwiegenden Ausdrucks erfüllt: die<lb/>
unendliche Innigkeit einer frommen Seele, mußte es vor Allem &#x017F;ein, was<lb/>
in der Auffa&#x017F;&#x017F;ung, die von Hau&#x017F;e aus &#x017F;treng maleri&#x017F;ch war, &#x017F;ich noch<lb/>
mehr vertiefte, und zwar gerade durch die Wirkung eines Gegenwurfs,<lb/>
indem das Aeußere die &#x017F;chärfere Zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;ung der Natur und Eigen-<lb/>
willigkeit kund gab, welche, wenn &#x017F;ie überwunden werden &#x017F;oll, einen noch<lb/>
ge&#x017F;ammelteren inneren Schatz der Liebe und Ehrfurcht voraus&#x017F;etzt. Dieß<lb/>
i&#x017F;t die be&#x017F;timmte Art der Idealität, welche in die&#x017F;em Styl als Ge&#x017F;etz<lb/>
herr&#x017F;cht, danach werden die Formen kün&#x017F;tleri&#x017F;ch gewählt und es i&#x017F;t ganz<lb/>
unrichtig, als bezeichnendes Merkmal de&#x017F;&#x017F;elben den Naturali&#x017F;mus in dem<lb/>
tadelnden Sinne wahllo&#x017F;en Aufgreifens empiri&#x017F;cher Formen hinzu&#x017F;tellen.<lb/>
Hiemit haben wir bereits das andere Extrem ausge&#x017F;prochen: der deut&#x017F;che<lb/>
Styl als ächt maleri&#x017F;cher i&#x017F;t unendlich individueller, als der italieni&#x017F;che.<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[724/0232] Wir nehmen die andern Völker dieſſeits der Alpen erſt an den Puncten auf, wo ſie für ſich bedeutend werden; germaniſch hätten wir zu ſagen ſtatt: deutſch, da wir in dieſem Zeitraum die Niederlande mit dem eigent- lichen Deutſchland zuſammenfaſſen, aber wir vermeiden dieß, weil es in eine Verwirrung mit derſelben Beziehung führen würde, wie ſie für eine beſondere, hiſtoriſche Entwicklungsſtufe des Styls aufgenommen iſt, und behalten dabei im Auge, daß die urſprünglich Einem Volke gehörenden Stämme früher nicht getrennt waren, wie jetzt. Wo dagegen der eine dieſer Stämme wieder beſondere Wege gehen wird, werden wir ihn auch durch ſeinen beſondern Namen unterſcheiden. Daß der deutſche Geiſt vorzüglich berufen war, das rein Maleriſche auszubilden, daß er aber große Lücken in der Löſung ſeiner Kunſtaufgabe laſſen mußte, ehe er das claſſiſche Formgefühl in einer Weiſe, wie dieß durch die Einflüſſe aus dem Süden und Byzanz im früheren Mittelalter noch keineswegs möglich war, ſich angeeignet hatte: dieß iſt durch die §§. 354 und 463 hinreichend begründet. Der äſthetiſche Bruch zwiſchen Ausdruck und Form, der im Maleriſchen berechtigt, ja gefordert iſt, mußte zuerſt als ein Bruch auftreten, der überhaupt nicht äſthetiſch iſt. Der maleriſche Ueberſchuß des Ausdrucks über die Form begründet eine gewiſſe Härte der letzteren, insbeſondere im Sinn bedeutungsvoll unregelmäßiger Eigenheit der Individualität; aber nicht ſoll dieſe Härte das Maaß über- ſchreiten, das wir ihr deutlich und beſtimmt geſetzt haben, und nicht ſoll die Härte hart dargeſtellt werden. Zu dieſer Unterſcheidung vergl. auch §. 456 und 718; der erſtere ſpricht von der aſcetiſchen Formhärte des Mittelalters überhaupt, der letztere von einer Ueberwindung derſelben, die allerdings eintrat: das war eben bei den Italienern, aber nicht bei den Deutſchen. Jene beſondere Form, in welcher alle mittelalterliche Malerei als ſpezifiſch religiöſe das Geſetz des überwiegenden Ausdrucks erfüllt: die unendliche Innigkeit einer frommen Seele, mußte es vor Allem ſein, was in der Auffaſſung, die von Hauſe aus ſtreng maleriſch war, ſich noch mehr vertiefte, und zwar gerade durch die Wirkung eines Gegenwurfs, indem das Aeußere die ſchärfere Zuſammenfaſſung der Natur und Eigen- willigkeit kund gab, welche, wenn ſie überwunden werden ſoll, einen noch geſammelteren inneren Schatz der Liebe und Ehrfurcht vorausſetzt. Dieß iſt die beſtimmte Art der Idealität, welche in dieſem Styl als Geſetz herrſcht, danach werden die Formen künſtleriſch gewählt und es iſt ganz unrichtig, als bezeichnendes Merkmal deſſelben den Naturaliſmus in dem tadelnden Sinne wahlloſen Aufgreifens empiriſcher Formen hinzuſtellen. Hiemit haben wir bereits das andere Extrem ausgeſprochen: der deutſche Styl als ächt maleriſcher iſt unendlich individueller, als der italieniſche.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/232
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/232>, abgerufen am 29.03.2024.