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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Sinne, wie bei den Orientalen, daß sie als technisches Moment die
andern Momente des Verfahrens nicht zur Ausbildung gelangen läßt,
sondern, daß einzig die Schönheit, wie die Zeichnung sie herstellt, d. h.
die Schönheit der festen Form und der Welle der Bewegung gesucht wird
und die Farbe sie nur unterstützt. Die einzelne Gestalt ist hier schön wie
in der Bildnerkunst; Alles, was plastisch ist, wird mit staunenswerthem
Schönheitssinn entwickelt: das reizend Hingegossene und doch Gemessene
jeder Stellung und Lage, der edel nachläßige Schwung der Körper, der
reine Fluß der Falten. Daß der Maler in der Kühnheit der Bewegungen,
Tanz, Schweben, Flug über die eigentliche Sculptur weit hinausgeht,
widerspricht natürlich diesem sculptorischen Geiste nicht. Die Modellirung
bleibt daher nicht unausgebildet wie in Aegypten, sondern gedeiht zur
größten Vollkommenheit; die Farbe aber, obwohl sie die Marmorkälte der
Form mit dem fluthenden Geheimnisse ihres auf die Oberfläche wirkenden
warmen Innenlebens übergießt, obwohl sie darüber sogar hinausgeht, die
Reize der einfacheren physikalischen Accorde mit sicherem Gefühl erkennt
und so ihren Zauber mit der Welt seiner zarten Berechnungen nach diesem
allgemeinen Gesetze der Farbenharmonie auch für sich spielen läßt, ist
doch keineswegs zu der Tiefe fortgebildet, daß sie die Form zum bloßen
Moment herabsetzte. Die Form trägt die Farbe, nicht die Farbe die
Form. Ferne von jener Verarbeitung, welche der vollen Vertiefung der
Physiognomik und der unendlichen Mischung der Temperamente, Stimmun-
gen ihren ganzen Ausdruck gibt, bleibt insbesondere das Incarnet,
obwohl es über einen Umkreis von Unterschieden gebietet, einfach, kindlich
blühend. Die weiteren Mängel des Colorits ergeben sich, wenn man den
beschränkenden Einfluß des plastischen Prinzips auf die Composition in's
Auge faßt. Diese ist relief-artig: sie verwickelt die Figuren so wenig, als
möglich, damit sie sich nicht störend decken, nicht einmal beschatten, sie stellt
sie auf einen wenig vertieften Plan. Die Linerarperspective fehlt nicht,
kühne Verkürzungen erwerben sich Ruhm, allein in größerer Anwendung
kann sie sich bei der Herrschaft jenes Prinzips nicht ausbilden; Composi-
tionen von reicherer Verwicklung und einiger Tiefe des Grundes, wie die
Schlacht bei Issus, dürfen gewiß als selten auch in der späteren Zeit
angesehen werden. Es fällt also die Poesie der Ferne, es fällt das
Ahnungsvolle des Zugs in die Tiefe weg, hiemit der volle Zauber des
Helldunkels und der Luftperspective. Ein gleichmäßig ergossenes Licht rückt
Alles in vertraute, klare, sonnige Nähe, die Gestalten sind nicht umspielt
von den tieferen und feineren Verhältnissen, Durchkreuzungen von Licht
und Farbe, nicht getaucht in die geheimnißvolle Welt jener reichen Ver-
mittlungen und Brechungen einer geistig verkochten Farbenwelt; das
Dunkel überhaupt hat seine Rolle noch nicht angetreten als der unendliche

Sinne, wie bei den Orientalen, daß ſie als techniſches Moment die
andern Momente des Verfahrens nicht zur Ausbildung gelangen läßt,
ſondern, daß einzig die Schönheit, wie die Zeichnung ſie herſtellt, d. h.
die Schönheit der feſten Form und der Welle der Bewegung geſucht wird
und die Farbe ſie nur unterſtützt. Die einzelne Geſtalt iſt hier ſchön wie
in der Bildnerkunſt; Alles, was plaſtiſch iſt, wird mit ſtaunenswerthem
Schönheitsſinn entwickelt: das reizend Hingegoſſene und doch Gemeſſene
jeder Stellung und Lage, der edel nachläßige Schwung der Körper, der
reine Fluß der Falten. Daß der Maler in der Kühnheit der Bewegungen,
Tanz, Schweben, Flug über die eigentliche Sculptur weit hinausgeht,
widerſpricht natürlich dieſem ſculptoriſchen Geiſte nicht. Die Modellirung
bleibt daher nicht unausgebildet wie in Aegypten, ſondern gedeiht zur
größten Vollkommenheit; die Farbe aber, obwohl ſie die Marmorkälte der
Form mit dem fluthenden Geheimniſſe ihres auf die Oberfläche wirkenden
warmen Innenlebens übergießt, obwohl ſie darüber ſogar hinausgeht, die
Reize der einfacheren phyſikaliſchen Accorde mit ſicherem Gefühl erkennt
und ſo ihren Zauber mit der Welt ſeiner zarten Berechnungen nach dieſem
allgemeinen Geſetze der Farbenharmonie auch für ſich ſpielen läßt, iſt
doch keineswegs zu der Tiefe fortgebildet, daß ſie die Form zum bloßen
Moment herabſetzte. Die Form trägt die Farbe, nicht die Farbe die
Form. Ferne von jener Verarbeitung, welche der vollen Vertiefung der
Phyſiognomik und der unendlichen Miſchung der Temperamente, Stimmun-
gen ihren ganzen Ausdruck gibt, bleibt insbeſondere das Incarnet,
obwohl es über einen Umkreis von Unterſchieden gebietet, einfach, kindlich
blühend. Die weiteren Mängel des Colorits ergeben ſich, wenn man den
beſchränkenden Einfluß des plaſtiſchen Prinzips auf die Compoſition in’s
Auge faßt. Dieſe iſt relief-artig: ſie verwickelt die Figuren ſo wenig, als
möglich, damit ſie ſich nicht ſtörend decken, nicht einmal beſchatten, ſie ſtellt
ſie auf einen wenig vertieften Plan. Die Linerarperſpective fehlt nicht,
kühne Verkürzungen erwerben ſich Ruhm, allein in größerer Anwendung
kann ſie ſich bei der Herrſchaft jenes Prinzips nicht ausbilden; Compoſi-
tionen von reicherer Verwicklung und einiger Tiefe des Grundes, wie die
Schlacht bei Iſſus, dürfen gewiß als ſelten auch in der ſpäteren Zeit
angeſehen werden. Es fällt alſo die Poeſie der Ferne, es fällt das
Ahnungsvolle des Zugs in die Tiefe weg, hiemit der volle Zauber des
Helldunkels und der Luftperſpective. Ein gleichmäßig ergoſſenes Licht rückt
Alles in vertraute, klare, ſonnige Nähe, die Geſtalten ſind nicht umſpielt
von den tieferen und feineren Verhältniſſen, Durchkreuzungen von Licht
und Farbe, nicht getaucht in die geheimnißvolle Welt jener reichen Ver-
mittlungen und Brechungen einer geiſtig verkochten Farbenwelt; das
Dunkel überhaupt hat ſeine Rolle noch nicht angetreten als der unendliche

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[696/0204] Sinne, wie bei den Orientalen, daß ſie als techniſches Moment die andern Momente des Verfahrens nicht zur Ausbildung gelangen läßt, ſondern, daß einzig die Schönheit, wie die Zeichnung ſie herſtellt, d. h. die Schönheit der feſten Form und der Welle der Bewegung geſucht wird und die Farbe ſie nur unterſtützt. Die einzelne Geſtalt iſt hier ſchön wie in der Bildnerkunſt; Alles, was plaſtiſch iſt, wird mit ſtaunenswerthem Schönheitsſinn entwickelt: das reizend Hingegoſſene und doch Gemeſſene jeder Stellung und Lage, der edel nachläßige Schwung der Körper, der reine Fluß der Falten. Daß der Maler in der Kühnheit der Bewegungen, Tanz, Schweben, Flug über die eigentliche Sculptur weit hinausgeht, widerſpricht natürlich dieſem ſculptoriſchen Geiſte nicht. Die Modellirung bleibt daher nicht unausgebildet wie in Aegypten, ſondern gedeiht zur größten Vollkommenheit; die Farbe aber, obwohl ſie die Marmorkälte der Form mit dem fluthenden Geheimniſſe ihres auf die Oberfläche wirkenden warmen Innenlebens übergießt, obwohl ſie darüber ſogar hinausgeht, die Reize der einfacheren phyſikaliſchen Accorde mit ſicherem Gefühl erkennt und ſo ihren Zauber mit der Welt ſeiner zarten Berechnungen nach dieſem allgemeinen Geſetze der Farbenharmonie auch für ſich ſpielen läßt, iſt doch keineswegs zu der Tiefe fortgebildet, daß ſie die Form zum bloßen Moment herabſetzte. Die Form trägt die Farbe, nicht die Farbe die Form. Ferne von jener Verarbeitung, welche der vollen Vertiefung der Phyſiognomik und der unendlichen Miſchung der Temperamente, Stimmun- gen ihren ganzen Ausdruck gibt, bleibt insbeſondere das Incarnet, obwohl es über einen Umkreis von Unterſchieden gebietet, einfach, kindlich blühend. Die weiteren Mängel des Colorits ergeben ſich, wenn man den beſchränkenden Einfluß des plaſtiſchen Prinzips auf die Compoſition in’s Auge faßt. Dieſe iſt relief-artig: ſie verwickelt die Figuren ſo wenig, als möglich, damit ſie ſich nicht ſtörend decken, nicht einmal beſchatten, ſie ſtellt ſie auf einen wenig vertieften Plan. Die Linerarperſpective fehlt nicht, kühne Verkürzungen erwerben ſich Ruhm, allein in größerer Anwendung kann ſie ſich bei der Herrſchaft jenes Prinzips nicht ausbilden; Compoſi- tionen von reicherer Verwicklung und einiger Tiefe des Grundes, wie die Schlacht bei Iſſus, dürfen gewiß als ſelten auch in der ſpäteren Zeit angeſehen werden. Es fällt alſo die Poeſie der Ferne, es fällt das Ahnungsvolle des Zugs in die Tiefe weg, hiemit der volle Zauber des Helldunkels und der Luftperſpective. Ein gleichmäßig ergoſſenes Licht rückt Alles in vertraute, klare, ſonnige Nähe, die Geſtalten ſind nicht umſpielt von den tieferen und feineren Verhältniſſen, Durchkreuzungen von Licht und Farbe, nicht getaucht in die geheimnißvolle Welt jener reichen Ver- mittlungen und Brechungen einer geiſtig verkochten Farbenwelt; das Dunkel überhaupt hat ſeine Rolle noch nicht angetreten als der unendliche

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 696. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/204>, abgerufen am 23.04.2024.