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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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gespannt, vielmehr meist als Nachklang einer vorhergegangenen Handlung und
tiefe Empfindung des Schicksals erscheinen. Das Situationsbild im engeren
Sinne dagegen stellt sich zwar auf den Schauplatz der Handlung, ergreift aber
Arten des Thuns oder Lagen aus einer Reihe von Thaten und Schicksalen,
die ihrer Natur nach eine zur Beobachtung des Seelenlebens einladende Dauer
zeigen, wozu figurenreiche Ausdehnung häufig noch eine Verwandtschaft mit dem
Epischen bringt, während das rein Lyrische seiner Natur gemäß sich in beschränk-
ter Figurenzahl darstellt.

Es ist ein feiner und doch nicht zu übersehender Unterschied, der die
zwei Formen trennt, welche der §. unterscheidet. Rein lyrisch ist, um
auch Beispiele aus dem mythischen Kreise zu nehmen, soweit er, wunder-
los aufgefaßt, bleibende, rein menschliche Stoffe darbietet, -- ein Ecce
homo,
eine mater dolorosa, eine reuige Magdalena, trauernde Gestalten,
wie z. B. jenes tief wehmüthige Bild: Johannes und Maria zum Grabe
Christi in der Nacht wandelnd, von Zurbaran, Betende, Andächtige, welche
die heilige Sage nennt. Als Zustand des Gemüthes, "psychologisch
als Glaube, nicht als Geglaubtes" (§. 466), gehört ja jedenfalls die
Religion unter die ästhetischen Stoffe und zwar unter die geschichtlichen,
wenn die Personen benannt sind. Es handelt sich aber von jedem Mo-
ment überhaupt, wo das innerste Wesen des Menschen sich in einer Be-
wegung des Gemüths zusammenfaßt, aus Blick und Geberde spricht, ohne
in spannender Weise eine reale Veränderung, eine Handlung vorzube-
reiten. Julie, die neben Romeo den Dolch zückt, ist nicht ein lyrischer,
sondern ein dramatischer Stoff, aber Julie in unschuldvoll heißer Erwar-
tung vor der Brautnacht, oder Romeo und Julie scheidend nach der
Brautnacht: dieß ist lyrischer Stoff. Es leuchtet übrigens ein, daß, da
Empfindungszustände, welche entscheidenden Thaten und Schicksalen un-
mittelbar vorhergehen, meist schon auf dramatische Spannung führen, vor-
züglich die Momente nach solchen Entscheidungen es sind, die in dieses rein
psychologisch subjective Gebiet gehören: so Bendemanns trauernde Juden,
Jeremias, Eberh. Wächters Jul. Cäsar am Grabe Hektors in Betrachtung
über Heldengröße und Menschenloos verloren, oder ein Scipio bei dem
Brande Karthago's in die bekannten Worte ausbrechend. Die rein lyri-
schen Stoffe sind übrigens im streng geschichtlichen Gebiete selten. Das
Lyrische gehört weit mehr dem Sittenbilde an, das seine Figuren nicht in
die heiße Atmosphäre der Geschichte hereinstellt. Diese zeigt immer zu
fühlbar auf Thatsächliches hin, ihr Boden ist zu sehr mit Keimen oder
Nachwirkungen realer Entscheidung geschwängert, als daß sie uns gestat-
tete, lange bei Empfindungszuständen zu verweilen. Auch Empfindungsmo-
mente nach bedeutenden Schicksalen weisen doch meist mit zwingender

geſpannt, vielmehr meiſt als Nachklang einer vorhergegangenen Handlung und
tiefe Empfindung des Schickſals erſcheinen. Das Situationsbild im engeren
Sinne dagegen ſtellt ſich zwar auf den Schauplatz der Handlung, ergreift aber
Arten des Thuns oder Lagen aus einer Reihe von Thaten und Schickſalen,
die ihrer Natur nach eine zur Beobachtung des Seelenlebens einladende Dauer
zeigen, wozu figurenreiche Ausdehnung häufig noch eine Verwandtſchaft mit dem
Epiſchen bringt, während das rein Lyriſche ſeiner Natur gemäß ſich in beſchränk-
ter Figurenzahl darſtellt.

Es iſt ein feiner und doch nicht zu überſehender Unterſchied, der die
zwei Formen trennt, welche der §. unterſcheidet. Rein lyriſch iſt, um
auch Beiſpiele aus dem mythiſchen Kreiſe zu nehmen, ſoweit er, wunder-
los aufgefaßt, bleibende, rein menſchliche Stoffe darbietet, — ein Ecce
homo,
eine mater dolorosa, eine reuige Magdalena, trauernde Geſtalten,
wie z. B. jenes tief wehmüthige Bild: Johannes und Maria zum Grabe
Chriſti in der Nacht wandelnd, von Zurbaran, Betende, Andächtige, welche
die heilige Sage nennt. Als Zuſtand des Gemüthes, „pſychologiſch
als Glaube, nicht als Geglaubtes“ (§. 466), gehört ja jedenfalls die
Religion unter die äſthetiſchen Stoffe und zwar unter die geſchichtlichen,
wenn die Perſonen benannt ſind. Es handelt ſich aber von jedem Mo-
ment überhaupt, wo das innerſte Weſen des Menſchen ſich in einer Be-
wegung des Gemüths zuſammenfaßt, aus Blick und Geberde ſpricht, ohne
in ſpannender Weiſe eine reale Veränderung, eine Handlung vorzube-
reiten. Julie, die neben Romeo den Dolch zückt, iſt nicht ein lyriſcher,
ſondern ein dramatiſcher Stoff, aber Julie in unſchuldvoll heißer Erwar-
tung vor der Brautnacht, oder Romeo und Julie ſcheidend nach der
Brautnacht: dieß iſt lyriſcher Stoff. Es leuchtet übrigens ein, daß, da
Empfindungszuſtände, welche entſcheidenden Thaten und Schickſalen un-
mittelbar vorhergehen, meiſt ſchon auf dramatiſche Spannung führen, vor-
züglich die Momente nach ſolchen Entſcheidungen es ſind, die in dieſes rein
pſychologiſch ſubjective Gebiet gehören: ſo Bendemanns trauernde Juden,
Jeremias, Eberh. Wächters Jul. Cäſar am Grabe Hektors in Betrachtung
über Heldengröße und Menſchenloos verloren, oder ein Scipio bei dem
Brande Karthago’s in die bekannten Worte ausbrechend. Die rein lyri-
ſchen Stoffe ſind übrigens im ſtreng geſchichtlichen Gebiete ſelten. Das
Lyriſche gehört weit mehr dem Sittenbilde an, das ſeine Figuren nicht in
die heiße Atmoſphäre der Geſchichte hereinſtellt. Dieſe zeigt immer zu
fühlbar auf Thatſächliches hin, ihr Boden iſt zu ſehr mit Keimen oder
Nachwirkungen realer Entſcheidung geſchwängert, als daß ſie uns geſtat-
tete, lange bei Empfindungszuſtänden zu verweilen. Auch Empfindungsmo-
mente nach bedeutenden Schickſalen weiſen doch meiſt mit zwingender

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[686/0194] geſpannt, vielmehr meiſt als Nachklang einer vorhergegangenen Handlung und tiefe Empfindung des Schickſals erſcheinen. Das Situationsbild im engeren Sinne dagegen ſtellt ſich zwar auf den Schauplatz der Handlung, ergreift aber Arten des Thuns oder Lagen aus einer Reihe von Thaten und Schickſalen, die ihrer Natur nach eine zur Beobachtung des Seelenlebens einladende Dauer zeigen, wozu figurenreiche Ausdehnung häufig noch eine Verwandtſchaft mit dem Epiſchen bringt, während das rein Lyriſche ſeiner Natur gemäß ſich in beſchränk- ter Figurenzahl darſtellt. Es iſt ein feiner und doch nicht zu überſehender Unterſchied, der die zwei Formen trennt, welche der §. unterſcheidet. Rein lyriſch iſt, um auch Beiſpiele aus dem mythiſchen Kreiſe zu nehmen, ſoweit er, wunder- los aufgefaßt, bleibende, rein menſchliche Stoffe darbietet, — ein Ecce homo, eine mater dolorosa, eine reuige Magdalena, trauernde Geſtalten, wie z. B. jenes tief wehmüthige Bild: Johannes und Maria zum Grabe Chriſti in der Nacht wandelnd, von Zurbaran, Betende, Andächtige, welche die heilige Sage nennt. Als Zuſtand des Gemüthes, „pſychologiſch als Glaube, nicht als Geglaubtes“ (§. 466), gehört ja jedenfalls die Religion unter die äſthetiſchen Stoffe und zwar unter die geſchichtlichen, wenn die Perſonen benannt ſind. Es handelt ſich aber von jedem Mo- ment überhaupt, wo das innerſte Weſen des Menſchen ſich in einer Be- wegung des Gemüths zuſammenfaßt, aus Blick und Geberde ſpricht, ohne in ſpannender Weiſe eine reale Veränderung, eine Handlung vorzube- reiten. Julie, die neben Romeo den Dolch zückt, iſt nicht ein lyriſcher, ſondern ein dramatiſcher Stoff, aber Julie in unſchuldvoll heißer Erwar- tung vor der Brautnacht, oder Romeo und Julie ſcheidend nach der Brautnacht: dieß iſt lyriſcher Stoff. Es leuchtet übrigens ein, daß, da Empfindungszuſtände, welche entſcheidenden Thaten und Schickſalen un- mittelbar vorhergehen, meiſt ſchon auf dramatiſche Spannung führen, vor- züglich die Momente nach ſolchen Entſcheidungen es ſind, die in dieſes rein pſychologiſch ſubjective Gebiet gehören: ſo Bendemanns trauernde Juden, Jeremias, Eberh. Wächters Jul. Cäſar am Grabe Hektors in Betrachtung über Heldengröße und Menſchenloos verloren, oder ein Scipio bei dem Brande Karthago’s in die bekannten Worte ausbrechend. Die rein lyri- ſchen Stoffe ſind übrigens im ſtreng geſchichtlichen Gebiete ſelten. Das Lyriſche gehört weit mehr dem Sittenbilde an, das ſeine Figuren nicht in die heiße Atmoſphäre der Geſchichte hereinſtellt. Dieſe zeigt immer zu fühlbar auf Thatſächliches hin, ihr Boden iſt zu ſehr mit Keimen oder Nachwirkungen realer Entſcheidung geſchwängert, als daß ſie uns geſtat- tete, lange bei Empfindungszuſtänden zu verweilen. Auch Empfindungsmo- mente nach bedeutenden Schickſalen weiſen doch meiſt mit zwingender

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 686. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/194>, abgerufen am 19.04.2024.