Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

züge des Charakters mit strengerer Ausscheidung des Zufälligen und Ein-
zelnen eine Bahn zu öffnen. Das Stylbild stellt mit epischer Ruhe die
einzelne Gestalt in gediegener Objectivität hin, monumental, der Statue
verwandt. Sie erhält dadurch etwas Götter-artiges und es gilt auch hier,
was zu §. 646 bemerkt ist: "Die Geschichte ersetzt, so weit sie kann, den
Mythus, der geschichtliche Held den sagenhaften, die Fülle großer Menschen
den Gott, der seinen Geist über sie ausgegossen." Die einfachen, strengen,
unbewegten Bilder der älteren Italiener und Deutschen gemahnen wie
erzgegossene Büsten. Die reife Kunst hat in der Blüthezeit am Schluß
des fünfzehnten und Anfang des sechzehnten Jahrhunderts die ehernen
Züge malerisch belebt, aber die monumentale Großheit bewahrt. -- Daß
der plastisch auffassende Styl auch hier vorzüglich mit der Wandmalerei
sich verbindet, erhellt von selbst.

§. 709.

Die geschichtliche Malerei erfaßt als ihren Stoff das allgemein1.
Menschliche in der Concretion der entscheidenden, mit Namen, Ort und Zeit
in das Gedächtniß der Nachwelt eingeschriebenen Handlung und ist daher
im Wesentlichen dramatisch. Vor ihr liegt also das große Gebiet der ge-2.
schichtlichen Schönheit (§. 341--378) ausgebreitet und den ersten Eintheilungs-
grund bildet auch hier, wiewohl nicht in gebräuchlicher Anwendung, der Stoff:
zunächst der Unterschied der Zeiten, Völker, der geschichtlichen Idee. Das
Mittelalter und die folgenden Jahrhunderte sind malerischer, als das Alter-
thum, das aber dennoch einen reichen Schatz von Motiven enthält; die neuere
Geschichte bietet große Schwierigkeit durch die Ungunst der Culturformen.
Zum rein geschichtlichen Stoffe tritt die Heldensage, und daran schließt sich
als weitere Quelle die Dichtkunst.

1. Das Wesentliche des Grundbegriffs ist zum Zwecke richtiger Un-
terscheidung schon bei dem Sittenbilde zur Sprache gekommen. Die ge-
schichtliche Malerei behandelt dieselben allgemeinen Gattungskräfte wie die
Sitten-Malerei, aber in der bezeichneten Zusammenfassung und Anspan-
nung zu der in die Ueberlieferung sich eingrabenden That. Das Wesen
des Dramatischen ist in §. 684 noch nicht in seiner ganzen Schärfe be-
stimmt, sondern nur so weit angedeutet, als es dort nöthig war. Doch
ersieht man schon aus jenen ersten Strichen zur Bezeichnung desselben,
wie aus dem äußerlichen Momente, daß sich hier eine Handlung vor unsern
Augen gegenwärtig erzeugt, eine Darstellung hervorgeht, welche die
Geschichte auffaßt als eine Bewegung, deren Grundhebel im Innern liegt;
die Gegenwärtigkeit ist Erschließung des Innern vor unsern Augen, die

züge des Charakters mit ſtrengerer Ausſcheidung des Zufälligen und Ein-
zelnen eine Bahn zu öffnen. Das Stylbild ſtellt mit epiſcher Ruhe die
einzelne Geſtalt in gediegener Objectivität hin, monumental, der Statue
verwandt. Sie erhält dadurch etwas Götter-artiges und es gilt auch hier,
was zu §. 646 bemerkt iſt: „Die Geſchichte erſetzt, ſo weit ſie kann, den
Mythus, der geſchichtliche Held den ſagenhaften, die Fülle großer Menſchen
den Gott, der ſeinen Geiſt über ſie ausgegoſſen.“ Die einfachen, ſtrengen,
unbewegten Bilder der älteren Italiener und Deutſchen gemahnen wie
erzgegoſſene Büſten. Die reife Kunſt hat in der Blüthezeit am Schluß
des fünfzehnten und Anfang des ſechzehnten Jahrhunderts die ehernen
Züge maleriſch belebt, aber die monumentale Großheit bewahrt. — Daß
der plaſtiſch auffaſſende Styl auch hier vorzüglich mit der Wandmalerei
ſich verbindet, erhellt von ſelbſt.

§. 709.

Die geſchichtliche Malerei erfaßt als ihren Stoff das allgemein1.
Menſchliche in der Concretion der entſcheidenden, mit Namen, Ort und Zeit
in das Gedächtniß der Nachwelt eingeſchriebenen Handlung und iſt daher
im Weſentlichen dramatiſch. Vor ihr liegt alſo das große Gebiet der ge-2.
ſchichtlichen Schönheit (§. 341—378) ausgebreitet und den erſten Eintheilungs-
grund bildet auch hier, wiewohl nicht in gebräuchlicher Anwendung, der Stoff:
zunächſt der Unterſchied der Zeiten, Völker, der geſchichtlichen Idee. Das
Mittelalter und die folgenden Jahrhunderte ſind maleriſcher, als das Alter-
thum, das aber dennoch einen reichen Schatz von Motiven enthält; die neuere
Geſchichte bietet große Schwierigkeit durch die Ungunſt der Culturformen.
Zum rein geſchichtlichen Stoffe tritt die Heldenſage, und daran ſchließt ſich
als weitere Quelle die Dichtkunſt.

1. Das Weſentliche des Grundbegriffs iſt zum Zwecke richtiger Un-
terſcheidung ſchon bei dem Sittenbilde zur Sprache gekommen. Die ge-
ſchichtliche Malerei behandelt dieſelben allgemeinen Gattungskräfte wie die
Sitten-Malerei, aber in der bezeichneten Zuſammenfaſſung und Anſpan-
nung zu der in die Ueberlieferung ſich eingrabenden That. Das Weſen
des Dramatiſchen iſt in §. 684 noch nicht in ſeiner ganzen Schärfe be-
ſtimmt, ſondern nur ſo weit angedeutet, als es dort nöthig war. Doch
erſieht man ſchon aus jenen erſten Strichen zur Bezeichnung deſſelben,
wie aus dem äußerlichen Momente, daß ſich hier eine Handlung vor unſern
Augen gegenwärtig erzeugt, eine Darſtellung hervorgeht, welche die
Geſchichte auffaßt als eine Bewegung, deren Grundhebel im Innern liegt;
die Gegenwärtigkeit iſt Erſchließung des Innern vor unſern Augen, die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0187" n="679"/>
züge des Charakters mit &#x017F;trengerer Aus&#x017F;cheidung des Zufälligen und Ein-<lb/>
zelnen eine Bahn zu öffnen. Das Stylbild &#x017F;tellt mit epi&#x017F;cher Ruhe die<lb/>
einzelne Ge&#x017F;talt in gediegener Objectivität hin, monumental, der Statue<lb/>
verwandt. Sie erhält dadurch etwas Götter-artiges und es gilt auch hier,<lb/>
was zu §. 646 bemerkt i&#x017F;t: &#x201E;Die Ge&#x017F;chichte er&#x017F;etzt, &#x017F;o weit &#x017F;ie kann, den<lb/>
Mythus, der ge&#x017F;chichtliche Held den &#x017F;agenhaften, die Fülle großer Men&#x017F;chen<lb/>
den Gott, der &#x017F;einen Gei&#x017F;t über &#x017F;ie ausgego&#x017F;&#x017F;en.&#x201C; Die einfachen, &#x017F;trengen,<lb/>
unbewegten Bilder der älteren Italiener und Deut&#x017F;chen gemahnen wie<lb/>
erzgego&#x017F;&#x017F;ene Bü&#x017F;ten. Die reife Kun&#x017F;t hat in der Blüthezeit am Schluß<lb/>
des fünfzehnten und Anfang des &#x017F;echzehnten Jahrhunderts die ehernen<lb/>
Züge maleri&#x017F;ch belebt, aber die monumentale Großheit bewahrt. &#x2014; Daß<lb/>
der pla&#x017F;ti&#x017F;ch auffa&#x017F;&#x017F;ende Styl auch hier vorzüglich mit der Wandmalerei<lb/>
&#x017F;ich verbindet, erhellt von &#x017F;elb&#x017F;t.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 709.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Die <hi rendition="#g">ge&#x017F;chichtliche Malerei</hi> erfaßt als ihren Stoff das allgemein<note place="right">1.</note><lb/>
Men&#x017F;chliche in der Concretion der ent&#x017F;cheidenden, mit Namen, Ort und Zeit<lb/>
in das Gedächtniß der Nachwelt einge&#x017F;chriebenen <hi rendition="#g">Handlung</hi> und i&#x017F;t daher<lb/>
im We&#x017F;entlichen <hi rendition="#g">dramati&#x017F;ch</hi>. Vor ihr liegt al&#x017F;o das große Gebiet der ge-<note place="right">2.</note><lb/>
&#x017F;chichtlichen Schönheit (§. 341&#x2014;378) ausgebreitet und den er&#x017F;ten Eintheilungs-<lb/>
grund bildet auch hier, wiewohl nicht in gebräuchlicher Anwendung, der <hi rendition="#g">Stoff</hi>:<lb/>
zunäch&#x017F;t der Unter&#x017F;chied der Zeiten, Völker, der ge&#x017F;chichtlichen Idee. Das<lb/>
Mittelalter und die folgenden Jahrhunderte &#x017F;ind maleri&#x017F;cher, als das Alter-<lb/>
thum, das aber dennoch einen reichen Schatz von Motiven enthält; die neuere<lb/>
Ge&#x017F;chichte bietet große Schwierigkeit durch die Ungun&#x017F;t der Culturformen.<lb/>
Zum rein ge&#x017F;chichtlichen Stoffe tritt die <hi rendition="#g">Helden&#x017F;age</hi>, und daran &#x017F;chließt &#x017F;ich<lb/>
als weitere Quelle die Dichtkun&#x017F;t.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">1. Das We&#x017F;entliche des Grundbegriffs i&#x017F;t zum Zwecke richtiger Un-<lb/>
ter&#x017F;cheidung &#x017F;chon bei dem Sittenbilde zur Sprache gekommen. Die ge-<lb/>
&#x017F;chichtliche Malerei behandelt die&#x017F;elben allgemeinen Gattungskräfte wie die<lb/>
Sitten-Malerei, aber in der bezeichneten Zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;ung und An&#x017F;pan-<lb/>
nung zu der in die Ueberlieferung &#x017F;ich eingrabenden That. Das We&#x017F;en<lb/>
des Dramati&#x017F;chen i&#x017F;t in §. 684 noch nicht in &#x017F;einer ganzen Schärfe be-<lb/>
&#x017F;timmt, &#x017F;ondern nur &#x017F;o weit angedeutet, als es dort nöthig war. Doch<lb/>
er&#x017F;ieht man &#x017F;chon aus jenen er&#x017F;ten Strichen zur Bezeichnung de&#x017F;&#x017F;elben,<lb/>
wie aus dem äußerlichen Momente, daß &#x017F;ich hier eine Handlung vor un&#x017F;ern<lb/>
Augen <hi rendition="#g">gegenwärtig</hi> erzeugt, eine Dar&#x017F;tellung hervorgeht, welche die<lb/>
Ge&#x017F;chichte auffaßt als eine Bewegung, deren Grundhebel im Innern liegt;<lb/>
die Gegenwärtigkeit i&#x017F;t Er&#x017F;chließung des Innern vor un&#x017F;ern Augen, die<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[679/0187] züge des Charakters mit ſtrengerer Ausſcheidung des Zufälligen und Ein- zelnen eine Bahn zu öffnen. Das Stylbild ſtellt mit epiſcher Ruhe die einzelne Geſtalt in gediegener Objectivität hin, monumental, der Statue verwandt. Sie erhält dadurch etwas Götter-artiges und es gilt auch hier, was zu §. 646 bemerkt iſt: „Die Geſchichte erſetzt, ſo weit ſie kann, den Mythus, der geſchichtliche Held den ſagenhaften, die Fülle großer Menſchen den Gott, der ſeinen Geiſt über ſie ausgegoſſen.“ Die einfachen, ſtrengen, unbewegten Bilder der älteren Italiener und Deutſchen gemahnen wie erzgegoſſene Büſten. Die reife Kunſt hat in der Blüthezeit am Schluß des fünfzehnten und Anfang des ſechzehnten Jahrhunderts die ehernen Züge maleriſch belebt, aber die monumentale Großheit bewahrt. — Daß der plaſtiſch auffaſſende Styl auch hier vorzüglich mit der Wandmalerei ſich verbindet, erhellt von ſelbſt. §. 709. Die geſchichtliche Malerei erfaßt als ihren Stoff das allgemein Menſchliche in der Concretion der entſcheidenden, mit Namen, Ort und Zeit in das Gedächtniß der Nachwelt eingeſchriebenen Handlung und iſt daher im Weſentlichen dramatiſch. Vor ihr liegt alſo das große Gebiet der ge- ſchichtlichen Schönheit (§. 341—378) ausgebreitet und den erſten Eintheilungs- grund bildet auch hier, wiewohl nicht in gebräuchlicher Anwendung, der Stoff: zunächſt der Unterſchied der Zeiten, Völker, der geſchichtlichen Idee. Das Mittelalter und die folgenden Jahrhunderte ſind maleriſcher, als das Alter- thum, das aber dennoch einen reichen Schatz von Motiven enthält; die neuere Geſchichte bietet große Schwierigkeit durch die Ungunſt der Culturformen. Zum rein geſchichtlichen Stoffe tritt die Heldenſage, und daran ſchließt ſich als weitere Quelle die Dichtkunſt. 1. Das Weſentliche des Grundbegriffs iſt zum Zwecke richtiger Un- terſcheidung ſchon bei dem Sittenbilde zur Sprache gekommen. Die ge- ſchichtliche Malerei behandelt dieſelben allgemeinen Gattungskräfte wie die Sitten-Malerei, aber in der bezeichneten Zuſammenfaſſung und Anſpan- nung zu der in die Ueberlieferung ſich eingrabenden That. Das Weſen des Dramatiſchen iſt in §. 684 noch nicht in ſeiner ganzen Schärfe be- ſtimmt, ſondern nur ſo weit angedeutet, als es dort nöthig war. Doch erſieht man ſchon aus jenen erſten Strichen zur Bezeichnung deſſelben, wie aus dem äußerlichen Momente, daß ſich hier eine Handlung vor unſern Augen gegenwärtig erzeugt, eine Darſtellung hervorgeht, welche die Geſchichte auffaßt als eine Bewegung, deren Grundhebel im Innern liegt; die Gegenwärtigkeit iſt Erſchließung des Innern vor unſern Augen, die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/187
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 679. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/187>, abgerufen am 23.04.2024.