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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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wir gesehen, wie diese Uebertritte der Phantasie von dem Boden der einen
Art auf den der andern nicht nur die große Theilung der bildenden Kunst
in ihre drei selbständigen Gebiete begründen, sondern zugleich eines der
Hauptmomente bilden, wodurch sich die einzelne Kunst in ihre Zweige
spaltet. Diese Spaltung ist in der Poesie so stark, daß die Formen, die
daraus entstehen, ebenso selbständig sich unterscheiden würden, wie Bau-
kunst, Plastik und Malerei, wenn nicht die geistige Natur dieser Kunst
als einigendes Band ihr Vorrecht behaupten würde. Innerhalb der Ge-
biete der bildenden Kunst kann sie als Motiv für die Unter-Eintheilung
nur erst schwach hervortreten; denn wo die Lippen noch geschlossen sind
und die wirkliche Bewegung fehlt, wird begreiflich der Unterschied des
Epischen, Lyrischen, Dramatischen noch keine Kraft haben. Ganz entfernt
klingt derselbe in den Zweigen der Baukunst an (vergl. §. 574, 3.), etwas
deutlicher, unmittelbarer in der Sculptur (vergl. §. 635, 1.), ungleich
voller und stärker nun aber, wiewohl immer noch nur erst secundär, in
der subjectiv bewegtesten unter den bildenden Künsten, der Malerei. Die
Landschaft ist lyrisch oder musikalisch, das Sittenbild episch, das geschicht-
liche Bild dramatisch. Diese Unterscheidung zieht sich ohne logischen Wi-
derspruch neben dem Satze des vorh. §. hin, wonach der Landschaftmalerei
der Standpunct des Seins zu Grunde liegt u. s. w.; denn es ist ja
gesagt, daß das subjective Moment der Auffassung hier noch nicht als
entscheidendes Theilungsprinzip auftritt, sondern die Erfassung des Stoffs,
und auf die Natur dieses Stoffs ist dort die durchgreifende Eintheilung ge-
gründet; nun aber, in zweiter Linie, tritt dieß Subjective hinzu, wonach,
um die unbeseelte, an sich objectiv bestimmte Natur zum Kunststoffe zu
erheben, die ganze Innigkeit der musikalischen, lyrischen Empfindung nöthig
ist; im Sittenbilde verfestigt sich diese, obwohl nun das menschliche Sub-
ject der Gegenstand ist, wieder zum sächlichen Charakter der epischen
Stimmung, und im geschichtlichen Bilde färbt sich das Epische mit dem
dramatischen Feuer.

2. Welche Momente die weitere Theilung der also getheilten Zweige
selbst begründen, ist in §. 540 gesagt. Es wird sich nun zeigen, wie
namentlich dasjenige, von welchem so eben die Rede gewesen, in dieser
Richtung noch einmal und hier allerdings als das entscheidende auftritt,
und wie sich daneben die übrigen Momente geltend machen. Neu aber
ist die Stärke, welche der Unterschied der Style erlangt hat; hiedurch tritt
ein weiteres Moment hinzu, das sich mit dem Unterschiede des Lyrischen,
Epischen, Dramatischen und mit dem des Materials und der Technik in
Verbindung setzen wird.


wir geſehen, wie dieſe Uebertritte der Phantaſie von dem Boden der einen
Art auf den der andern nicht nur die große Theilung der bildenden Kunſt
in ihre drei ſelbſtändigen Gebiete begründen, ſondern zugleich eines der
Hauptmomente bilden, wodurch ſich die einzelne Kunſt in ihre Zweige
ſpaltet. Dieſe Spaltung iſt in der Poeſie ſo ſtark, daß die Formen, die
daraus entſtehen, ebenſo ſelbſtändig ſich unterſcheiden würden, wie Bau-
kunſt, Plaſtik und Malerei, wenn nicht die geiſtige Natur dieſer Kunſt
als einigendes Band ihr Vorrecht behaupten würde. Innerhalb der Ge-
biete der bildenden Kunſt kann ſie als Motiv für die Unter-Eintheilung
nur erſt ſchwach hervortreten; denn wo die Lippen noch geſchloſſen ſind
und die wirkliche Bewegung fehlt, wird begreiflich der Unterſchied des
Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen noch keine Kraft haben. Ganz entfernt
klingt derſelbe in den Zweigen der Baukunſt an (vergl. §. 574, 3.), etwas
deutlicher, unmittelbarer in der Sculptur (vergl. §. 635, 1.), ungleich
voller und ſtärker nun aber, wiewohl immer noch nur erſt ſecundär, in
der ſubjectiv bewegteſten unter den bildenden Künſten, der Malerei. Die
Landſchaft iſt lyriſch oder muſikaliſch, das Sittenbild epiſch, das geſchicht-
liche Bild dramatiſch. Dieſe Unterſcheidung zieht ſich ohne logiſchen Wi-
derſpruch neben dem Satze des vorh. §. hin, wonach der Landſchaftmalerei
der Standpunct des Seins zu Grunde liegt u. ſ. w.; denn es iſt ja
geſagt, daß das ſubjective Moment der Auffaſſung hier noch nicht als
entſcheidendes Theilungsprinzip auftritt, ſondern die Erfaſſung des Stoffs,
und auf die Natur dieſes Stoffs iſt dort die durchgreifende Eintheilung ge-
gründet; nun aber, in zweiter Linie, tritt dieß Subjective hinzu, wonach,
um die unbeſeelte, an ſich objectiv beſtimmte Natur zum Kunſtſtoffe zu
erheben, die ganze Innigkeit der muſikaliſchen, lyriſchen Empfindung nöthig
iſt; im Sittenbilde verfeſtigt ſich dieſe, obwohl nun das menſchliche Sub-
ject der Gegenſtand iſt, wieder zum ſächlichen Charakter der epiſchen
Stimmung, und im geſchichtlichen Bilde färbt ſich das Epiſche mit dem
dramatiſchen Feuer.

2. Welche Momente die weitere Theilung der alſo getheilten Zweige
ſelbſt begründen, iſt in §. 540 geſagt. Es wird ſich nun zeigen, wie
namentlich dasjenige, von welchem ſo eben die Rede geweſen, in dieſer
Richtung noch einmal und hier allerdings als das entſcheidende auftritt,
und wie ſich daneben die übrigen Momente geltend machen. Neu aber
iſt die Stärke, welche der Unterſchied der Style erlangt hat; hiedurch tritt
ein weiteres Moment hinzu, das ſich mit dem Unterſchiede des Lyriſchen,
Epiſchen, Dramatiſchen und mit dem des Materials und der Technik in
Verbindung ſetzen wird.


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[647/0155] wir geſehen, wie dieſe Uebertritte der Phantaſie von dem Boden der einen Art auf den der andern nicht nur die große Theilung der bildenden Kunſt in ihre drei ſelbſtändigen Gebiete begründen, ſondern zugleich eines der Hauptmomente bilden, wodurch ſich die einzelne Kunſt in ihre Zweige ſpaltet. Dieſe Spaltung iſt in der Poeſie ſo ſtark, daß die Formen, die daraus entſtehen, ebenſo ſelbſtändig ſich unterſcheiden würden, wie Bau- kunſt, Plaſtik und Malerei, wenn nicht die geiſtige Natur dieſer Kunſt als einigendes Band ihr Vorrecht behaupten würde. Innerhalb der Ge- biete der bildenden Kunſt kann ſie als Motiv für die Unter-Eintheilung nur erſt ſchwach hervortreten; denn wo die Lippen noch geſchloſſen ſind und die wirkliche Bewegung fehlt, wird begreiflich der Unterſchied des Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen noch keine Kraft haben. Ganz entfernt klingt derſelbe in den Zweigen der Baukunſt an (vergl. §. 574, 3.), etwas deutlicher, unmittelbarer in der Sculptur (vergl. §. 635, 1.), ungleich voller und ſtärker nun aber, wiewohl immer noch nur erſt ſecundär, in der ſubjectiv bewegteſten unter den bildenden Künſten, der Malerei. Die Landſchaft iſt lyriſch oder muſikaliſch, das Sittenbild epiſch, das geſchicht- liche Bild dramatiſch. Dieſe Unterſcheidung zieht ſich ohne logiſchen Wi- derſpruch neben dem Satze des vorh. §. hin, wonach der Landſchaftmalerei der Standpunct des Seins zu Grunde liegt u. ſ. w.; denn es iſt ja geſagt, daß das ſubjective Moment der Auffaſſung hier noch nicht als entſcheidendes Theilungsprinzip auftritt, ſondern die Erfaſſung des Stoffs, und auf die Natur dieſes Stoffs iſt dort die durchgreifende Eintheilung ge- gründet; nun aber, in zweiter Linie, tritt dieß Subjective hinzu, wonach, um die unbeſeelte, an ſich objectiv beſtimmte Natur zum Kunſtſtoffe zu erheben, die ganze Innigkeit der muſikaliſchen, lyriſchen Empfindung nöthig iſt; im Sittenbilde verfeſtigt ſich dieſe, obwohl nun das menſchliche Sub- ject der Gegenſtand iſt, wieder zum ſächlichen Charakter der epiſchen Stimmung, und im geſchichtlichen Bilde färbt ſich das Epiſche mit dem dramatiſchen Feuer. 2. Welche Momente die weitere Theilung der alſo getheilten Zweige ſelbſt begründen, iſt in §. 540 geſagt. Es wird ſich nun zeigen, wie namentlich dasjenige, von welchem ſo eben die Rede geweſen, in dieſer Richtung noch einmal und hier allerdings als das entſcheidende auftritt, und wie ſich daneben die übrigen Momente geltend machen. Neu aber iſt die Stärke, welche der Unterſchied der Style erlangt hat; hiedurch tritt ein weiteres Moment hinzu, das ſich mit dem Unterſchiede des Lyriſchen, Epiſchen, Dramatiſchen und mit dem des Materials und der Technik in Verbindung ſetzen wird.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 647. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/155>, abgerufen am 25.04.2024.