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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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§. 696.

Die Eintheilung, wie sie sich rein aus der Natur der Sache ergibt, grün-
det sich auch hier auf die Stoff-Unterschiede der Phantasie (vergl. §. 403).
Diese ordnen sich nun so, daß einfach drei Gebiete sich gegenübertreten: das
der Landschaft, der Sitte und der Geschichte. Die Einheit der drei
Hauptzweige, die hienach entstehen, liegt darin, daß das Sittenbild den Men-
schen unter dem Standpunct auffaßt, welcher der Landschaftmalerei zu Grunde
liegt. Diese drei Zweige verbinden sich mannigfach, sollen sich aber nicht unklar
vermischen.

Das durchgreifende Prinzip für die Eintheilung liegt hier wie bei
der Sculptur im Stoffe, also nach Abzug der zweiten, mythischen, in der
ursprünglichen Stoffwelt nach ihren Hauptgebieten, oder vielmehr in den
Unterschieden der Phantasie, wie solche auf das eine oder andere dieser
Gebiete gewiesen und bezogen ist. Es ist der trennende, ausschließende
Charakter des Räumlichen, das die Grundform aller bildenden Kunst ist,
welcher diese Eintheilung begründet: da kann nicht die Auffassung, son-
dern muß die Erfassung (des einen oder andern Stoffes) das Entschei-
dende für den Unterschied der Zweige sein. Daß die Genre- und die
Historien-Malerei gemeinschaftlich den Menschen zum Gegenstand haben,
dieß verändert nichts an der Sache, denn es ist in beiden eine ganz andere
Seite des menschlichen Lebens, die den Inhalt bildet, und daher auch die
Ausdehnung, in welcher eine gewisse Sphäre von Stoffen (Geräthe und
dergl., überhaupt Gegenstände aus dem Gebiete der äußeren Culturformen)
in die Darstellung aufgenommen werden, eine sehr verschiedene. Man
kann sogar sagen, in allen Hauptzweigen sei es doch auch in der Ma-
lerei nur der Mensch, der zur Darstellung komme, denn die Landschaft-
malerei zeigt uns in der äußern Natur einen Widerschein menschlicher
Stimmung und das Thierstück schließt sich an das Genre wie eine Art
analoger Vorbildung menschlicher Zustände. Alles Schöne ist ja in ge-
wissem Sinn Erscheinung der Persönlichkeit (vergl. §. 19, 2.). Allein
auch diese Wahrheit stößt jenen Eintheilungsgrund nicht um, denn man
würde alle Begriffe verwirren, wenn man den tiefsten Beziehungen aller
Dinge, welche zuletzt überall zur höchsten Einheit führen, die Folge gäbe,
daß dadurch die Strenge der Unterscheidung zerworfen würde. Erst in
der Poesie, wo in jedem Gebiete wirklich und eigentlich vom Menschen
ausgegangen wird, hört die Unterscheidung, die auf dem Stoffe ruht, auf
die maaßgebende zu sein und macht sich dafür eine andere geltend.

Wir nehmen nur drei Hauptzweige an: Landschaftbild, Sittenbild
(diesen Namen für Genre behalten wir bei und rechtfertigen ihn an seinem

§. 696.

Die Eintheilung, wie ſie ſich rein aus der Natur der Sache ergibt, grün-
det ſich auch hier auf die Stoff-Unterſchiede der Phantaſie (vergl. §. 403).
Dieſe ordnen ſich nun ſo, daß einfach drei Gebiete ſich gegenübertreten: das
der Landſchaft, der Sitte und der Geſchichte. Die Einheit der drei
Hauptzweige, die hienach entſtehen, liegt darin, daß das Sittenbild den Men-
ſchen unter dem Standpunct auffaßt, welcher der Landſchaftmalerei zu Grunde
liegt. Dieſe drei Zweige verbinden ſich mannigfach, ſollen ſich aber nicht unklar
vermiſchen.

Das durchgreifende Prinzip für die Eintheilung liegt hier wie bei
der Sculptur im Stoffe, alſo nach Abzug der zweiten, mythiſchen, in der
urſprünglichen Stoffwelt nach ihren Hauptgebieten, oder vielmehr in den
Unterſchieden der Phantaſie, wie ſolche auf das eine oder andere dieſer
Gebiete gewieſen und bezogen iſt. Es iſt der trennende, ausſchließende
Charakter des Räumlichen, das die Grundform aller bildenden Kunſt iſt,
welcher dieſe Eintheilung begründet: da kann nicht die Auffaſſung, ſon-
dern muß die Erfaſſung (des einen oder andern Stoffes) das Entſchei-
dende für den Unterſchied der Zweige ſein. Daß die Genre- und die
Hiſtorien-Malerei gemeinſchaftlich den Menſchen zum Gegenſtand haben,
dieß verändert nichts an der Sache, denn es iſt in beiden eine ganz andere
Seite des menſchlichen Lebens, die den Inhalt bildet, und daher auch die
Ausdehnung, in welcher eine gewiſſe Sphäre von Stoffen (Geräthe und
dergl., überhaupt Gegenſtände aus dem Gebiete der äußeren Culturformen)
in die Darſtellung aufgenommen werden, eine ſehr verſchiedene. Man
kann ſogar ſagen, in allen Hauptzweigen ſei es doch auch in der Ma-
lerei nur der Menſch, der zur Darſtellung komme, denn die Landſchaft-
malerei zeigt uns in der äußern Natur einen Widerſchein menſchlicher
Stimmung und das Thierſtück ſchließt ſich an das Genre wie eine Art
analoger Vorbildung menſchlicher Zuſtände. Alles Schöne iſt ja in ge-
wiſſem Sinn Erſcheinung der Perſönlichkeit (vergl. §. 19, 2.). Allein
auch dieſe Wahrheit ſtößt jenen Eintheilungsgrund nicht um, denn man
würde alle Begriffe verwirren, wenn man den tiefſten Beziehungen aller
Dinge, welche zuletzt überall zur höchſten Einheit führen, die Folge gäbe,
daß dadurch die Strenge der Unterſcheidung zerworfen würde. Erſt in
der Poeſie, wo in jedem Gebiete wirklich und eigentlich vom Menſchen
ausgegangen wird, hört die Unterſcheidung, die auf dem Stoffe ruht, auf
die maaßgebende zu ſein und macht ſich dafür eine andere geltend.

Wir nehmen nur drei Hauptzweige an: Landſchaftbild, Sittenbild
(dieſen Namen für Genre behalten wir bei und rechtfertigen ihn an ſeinem

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[645/0153] §. 696. Die Eintheilung, wie ſie ſich rein aus der Natur der Sache ergibt, grün- det ſich auch hier auf die Stoff-Unterſchiede der Phantaſie (vergl. §. 403). Dieſe ordnen ſich nun ſo, daß einfach drei Gebiete ſich gegenübertreten: das der Landſchaft, der Sitte und der Geſchichte. Die Einheit der drei Hauptzweige, die hienach entſtehen, liegt darin, daß das Sittenbild den Men- ſchen unter dem Standpunct auffaßt, welcher der Landſchaftmalerei zu Grunde liegt. Dieſe drei Zweige verbinden ſich mannigfach, ſollen ſich aber nicht unklar vermiſchen. Das durchgreifende Prinzip für die Eintheilung liegt hier wie bei der Sculptur im Stoffe, alſo nach Abzug der zweiten, mythiſchen, in der urſprünglichen Stoffwelt nach ihren Hauptgebieten, oder vielmehr in den Unterſchieden der Phantaſie, wie ſolche auf das eine oder andere dieſer Gebiete gewieſen und bezogen iſt. Es iſt der trennende, ausſchließende Charakter des Räumlichen, das die Grundform aller bildenden Kunſt iſt, welcher dieſe Eintheilung begründet: da kann nicht die Auffaſſung, ſon- dern muß die Erfaſſung (des einen oder andern Stoffes) das Entſchei- dende für den Unterſchied der Zweige ſein. Daß die Genre- und die Hiſtorien-Malerei gemeinſchaftlich den Menſchen zum Gegenſtand haben, dieß verändert nichts an der Sache, denn es iſt in beiden eine ganz andere Seite des menſchlichen Lebens, die den Inhalt bildet, und daher auch die Ausdehnung, in welcher eine gewiſſe Sphäre von Stoffen (Geräthe und dergl., überhaupt Gegenſtände aus dem Gebiete der äußeren Culturformen) in die Darſtellung aufgenommen werden, eine ſehr verſchiedene. Man kann ſogar ſagen, in allen Hauptzweigen ſei es doch auch in der Ma- lerei nur der Menſch, der zur Darſtellung komme, denn die Landſchaft- malerei zeigt uns in der äußern Natur einen Widerſchein menſchlicher Stimmung und das Thierſtück ſchließt ſich an das Genre wie eine Art analoger Vorbildung menſchlicher Zuſtände. Alles Schöne iſt ja in ge- wiſſem Sinn Erſcheinung der Perſönlichkeit (vergl. §. 19, 2.). Allein auch dieſe Wahrheit ſtößt jenen Eintheilungsgrund nicht um, denn man würde alle Begriffe verwirren, wenn man den tiefſten Beziehungen aller Dinge, welche zuletzt überall zur höchſten Einheit führen, die Folge gäbe, daß dadurch die Strenge der Unterſcheidung zerworfen würde. Erſt in der Poeſie, wo in jedem Gebiete wirklich und eigentlich vom Menſchen ausgegangen wird, hört die Unterſcheidung, die auf dem Stoffe ruht, auf die maaßgebende zu ſein und macht ſich dafür eine andere geltend. Wir nehmen nur drei Hauptzweige an: Landſchaftbild, Sittenbild (dieſen Namen für Genre behalten wir bei und rechtfertigen ihn an ſeinem

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/153>, abgerufen am 28.03.2024.