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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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worin die Durchbrechung der Naturgesetze gegen menschliches Thun, Em-
pfinden, Leiden mehr oder weniger zurücktritt, endlich der Uebergang des
vorher in Einer Person verkörperten Geistes in die gewaltigen Organe,
die Apostel, und in die Gemeinde: hier hat die mythische Malerei ihren
lebenstüchtigsten Stoff und arbeitet wahrhaft der rein geschichtlichen vor,
stellt ihr ein mächtiges Prototyp hin. Ein solcher Stoff ist insbesondere
die Apostelgeschichte und man darf sagen, daß, wie diese an sich die Ent-
faltung der neuen Religion zur Weltdurchdringenden Macht in der
Großheit des Anfangs zeigt, so in Raphaels Behandlung dieser Stoffe
mit Urkraft das geschichtliche Gemälde beginnt. Uebrigens versteht sich,
daß dieß Verhältniß von dem ersten nicht schlechthin verschieden ist, denn
hier öffnet sich zwar der mythische Kern vermöge eines in ihm selbst
liegenden Motivs zu einer naturgemäßen, menschlichen Handlung, aber in
dem so gebildeten Ganzen stellt er doch immer sich selbst und seine Wunder
neben das natürlich Reale hin und der Widerspruch, der dadurch entsteht,
ist gerade in künstlerischer Beziehung ein sehr fühlbarer, weil er sich in
der Composition offenbart. In Raphaels Leo und Attila ist entweder
jener oder sind die zwei Apostel in der Luft überflüßig; weicht Attila
diesen, so braucht es Leo's Beredtsamkeit nicht, und umgekehrt. In der
Constantinsschlacht ist die Idee des Kampfs nicht in den Streitern selbst, --
was ganz wohl möglich war, -- ausgedrückt, weil die Engel in der Luft
für diesen Ausdruck Stellvertretend angebracht sind, und so manchem
Märtyrer auf andern Bildern sieht man keine Spur von innerer Erholung
an, weil sie ihm von Engeln mit Palmzweigen von außen zugefächelt
wird.

Von der Aufschließung der Welt innerhalb der mythischen Stoffe
selbst ist wiederum wohl zu unterscheiden eine rationelle Auffassung der-
selben. Das Alttestamentliche, Jesus und sein Leben, die Apostel und
ihre Thaten können rein menschlich als wunderlose, gewaltige Erscheinungen
und Organe ewiger Wahrheit aufgefaßt und dargestellt werden: das ist
dann einfach ein Zweig der rein geschichtlichen Malerei und gehört gar
nicht hieher. So wie Titian seinen Christus im "Zinsgroschen" dargestellt
hat, als einen durchaus klaren, in seiner reinen Klarheit schlechtin unbe-
fangenen Menschen, vor dem die ausforschende Gemeinheit in Schmach
abfährt, oder so wie in Raphaels Predigt Pauli in Athen das göttliche
Feuer der Beredtsamkeit flammt und eine Welt ergreift: hätten wir nur
mehr solche Bilder, würden nur deren recht viele gemalt! Der große
Lehrer an den idyllischen Seen Palästina's, der große Leidende, ohne
Nimbus und Mirakel: wer bestreitet solche Stoffe?

Ein weiterer Punct betrifft das Verhältniß zu den näheren Unter-
schieden der Zweige. Das Mythenbild in seiner strengen Selbständigkeit

worin die Durchbrechung der Naturgeſetze gegen menſchliches Thun, Em-
pfinden, Leiden mehr oder weniger zurücktritt, endlich der Uebergang des
vorher in Einer Perſon verkörperten Geiſtes in die gewaltigen Organe,
die Apoſtel, und in die Gemeinde: hier hat die mythiſche Malerei ihren
lebenstüchtigſten Stoff und arbeitet wahrhaft der rein geſchichtlichen vor,
ſtellt ihr ein mächtiges Prototyp hin. Ein ſolcher Stoff iſt insbeſondere
die Apoſtelgeſchichte und man darf ſagen, daß, wie dieſe an ſich die Ent-
faltung der neuen Religion zur Weltdurchdringenden Macht in der
Großheit des Anfangs zeigt, ſo in Raphaels Behandlung dieſer Stoffe
mit Urkraft das geſchichtliche Gemälde beginnt. Uebrigens verſteht ſich,
daß dieß Verhältniß von dem erſten nicht ſchlechthin verſchieden iſt, denn
hier öffnet ſich zwar der mythiſche Kern vermöge eines in ihm ſelbſt
liegenden Motivs zu einer naturgemäßen, menſchlichen Handlung, aber in
dem ſo gebildeten Ganzen ſtellt er doch immer ſich ſelbſt und ſeine Wunder
neben das natürlich Reale hin und der Widerſpruch, der dadurch entſteht,
iſt gerade in künſtleriſcher Beziehung ein ſehr fühlbarer, weil er ſich in
der Compoſition offenbart. In Raphaels Leo und Attila iſt entweder
jener oder ſind die zwei Apoſtel in der Luft überflüßig; weicht Attila
dieſen, ſo braucht es Leo’s Beredtſamkeit nicht, und umgekehrt. In der
Conſtantinsſchlacht iſt die Idee des Kampfs nicht in den Streitern ſelbſt, —
was ganz wohl möglich war, — ausgedrückt, weil die Engel in der Luft
für dieſen Ausdruck Stellvertretend angebracht ſind, und ſo manchem
Märtyrer auf andern Bildern ſieht man keine Spur von innerer Erholung
an, weil ſie ihm von Engeln mit Palmzweigen von außen zugefächelt
wird.

Von der Aufſchließung der Welt innerhalb der mythiſchen Stoffe
ſelbſt iſt wiederum wohl zu unterſcheiden eine rationelle Auffaſſung der-
ſelben. Das Altteſtamentliche, Jeſus und ſein Leben, die Apoſtel und
ihre Thaten können rein menſchlich als wunderloſe, gewaltige Erſcheinungen
und Organe ewiger Wahrheit aufgefaßt und dargeſtellt werden: das iſt
dann einfach ein Zweig der rein geſchichtlichen Malerei und gehört gar
nicht hieher. So wie Titian ſeinen Chriſtus im „Zinsgroſchen“ dargeſtellt
hat, als einen durchaus klaren, in ſeiner reinen Klarheit ſchlechtin unbe-
fangenen Menſchen, vor dem die ausforſchende Gemeinheit in Schmach
abfährt, oder ſo wie in Raphaels Predigt Pauli in Athen das göttliche
Feuer der Beredtſamkeit flammt und eine Welt ergreift: hätten wir nur
mehr ſolche Bilder, würden nur deren recht viele gemalt! Der große
Lehrer an den idylliſchen Seen Paläſtina’s, der große Leidende, ohne
Nimbus und Mirakel: wer beſtreitet ſolche Stoffe?

Ein weiterer Punct betrifft das Verhältniß zu den näheren Unter-
ſchieden der Zweige. Das Mythenbild in ſeiner ſtrengen Selbſtändigkeit

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[641/0149] worin die Durchbrechung der Naturgeſetze gegen menſchliches Thun, Em- pfinden, Leiden mehr oder weniger zurücktritt, endlich der Uebergang des vorher in Einer Perſon verkörperten Geiſtes in die gewaltigen Organe, die Apoſtel, und in die Gemeinde: hier hat die mythiſche Malerei ihren lebenstüchtigſten Stoff und arbeitet wahrhaft der rein geſchichtlichen vor, ſtellt ihr ein mächtiges Prototyp hin. Ein ſolcher Stoff iſt insbeſondere die Apoſtelgeſchichte und man darf ſagen, daß, wie dieſe an ſich die Ent- faltung der neuen Religion zur Weltdurchdringenden Macht in der Großheit des Anfangs zeigt, ſo in Raphaels Behandlung dieſer Stoffe mit Urkraft das geſchichtliche Gemälde beginnt. Uebrigens verſteht ſich, daß dieß Verhältniß von dem erſten nicht ſchlechthin verſchieden iſt, denn hier öffnet ſich zwar der mythiſche Kern vermöge eines in ihm ſelbſt liegenden Motivs zu einer naturgemäßen, menſchlichen Handlung, aber in dem ſo gebildeten Ganzen ſtellt er doch immer ſich ſelbſt und ſeine Wunder neben das natürlich Reale hin und der Widerſpruch, der dadurch entſteht, iſt gerade in künſtleriſcher Beziehung ein ſehr fühlbarer, weil er ſich in der Compoſition offenbart. In Raphaels Leo und Attila iſt entweder jener oder ſind die zwei Apoſtel in der Luft überflüßig; weicht Attila dieſen, ſo braucht es Leo’s Beredtſamkeit nicht, und umgekehrt. In der Conſtantinsſchlacht iſt die Idee des Kampfs nicht in den Streitern ſelbſt, — was ganz wohl möglich war, — ausgedrückt, weil die Engel in der Luft für dieſen Ausdruck Stellvertretend angebracht ſind, und ſo manchem Märtyrer auf andern Bildern ſieht man keine Spur von innerer Erholung an, weil ſie ihm von Engeln mit Palmzweigen von außen zugefächelt wird. Von der Aufſchließung der Welt innerhalb der mythiſchen Stoffe ſelbſt iſt wiederum wohl zu unterſcheiden eine rationelle Auffaſſung der- ſelben. Das Altteſtamentliche, Jeſus und ſein Leben, die Apoſtel und ihre Thaten können rein menſchlich als wunderloſe, gewaltige Erſcheinungen und Organe ewiger Wahrheit aufgefaßt und dargeſtellt werden: das iſt dann einfach ein Zweig der rein geſchichtlichen Malerei und gehört gar nicht hieher. So wie Titian ſeinen Chriſtus im „Zinsgroſchen“ dargeſtellt hat, als einen durchaus klaren, in ſeiner reinen Klarheit ſchlechtin unbe- fangenen Menſchen, vor dem die ausforſchende Gemeinheit in Schmach abfährt, oder ſo wie in Raphaels Predigt Pauli in Athen das göttliche Feuer der Beredtſamkeit flammt und eine Welt ergreift: hätten wir nur mehr ſolche Bilder, würden nur deren recht viele gemalt! Der große Lehrer an den idylliſchen Seen Paläſtina’s, der große Leidende, ohne Nimbus und Mirakel: wer beſtreitet ſolche Stoffe? Ein weiterer Punct betrifft das Verhältniß zu den näheren Unter- ſchieden der Zweige. Das Mythenbild in ſeiner ſtrengen Selbſtändigkeit

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 641. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/149>, abgerufen am 29.03.2024.