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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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räumlich ausgedrückter Contrast in die Composition eingetreten, das Prinzip
der Auseinanderhaltung des Vielen erweitert sich nach einer andern Seite.
Es entsteht daraus eine Durchkreuzung der Richtungen, die aber darum
jenes Gesetz der Gegenüberstellung nicht aufhebt, sondern neben ihm be-
stehend dem Künstler nur auflegt, in seinem räumlich vertheilenden Denken
eine größere Summe von Fäden gleichzeitig zu regieren. So kann nun
eine Figur ihren Gegensatz ebenso gut hinter sich, als sich gegenüber haben,
der Contrast als nächster oder entfernterer Hintergrund wirken, aber auch
zugleich in einem Gegenüber sich entfalten. Z. B. Delaroche's Marie
Antoinette hat unmittelbar hinter sich die Wache der Nationalgarde, ihr
Kopf hebt sich in scharfem Contrast von den stumpfen Zügen eines dieser
Soldaten ab; die eigentlichen Feinde, die Richter, sind im ferneren Hinter-
grund, aber durch düstere Beleuchtung gehoben; daneben aber wirkt die
Symmetrie der Breite nach, denn rechts der Königin gegenüber, unter sich
selbst wieder contrastirend, theils fanatisch, theils mitleidig, befindet sich das
zuschauende Volk, neben einem fanatischen Nationalgardisten und Offizier
jener apathisch gleichgültige. Man sieht an diesem Beispiel zugleich, wie
Licht und Farbe vermittelnd eintritt, so daß, wenn eine von zwei gegen-
überstehenden oder der Höhe nach in Gegensatz gestellten Seiten entfernter
steht, als die andern, oder der Gegensatz überhaupt mehr nur in der
Richtung der Tiefe sich ausspricht, das Gleichgewicht durch kräftigeren
Beleuchtungs-Gegensatz sich herstellen kann; auch wird ein Theil der
entfernteren Gruppe doch zugleich mehr auf den Vordergrund sich herein-
ziehen und hier wieder ein Gegenüber bewirken. Die Tiefe hat zugleich
eine bestimmte Beziehung auf die Zeit, genauer auf das Verhältniß der
Ursache und Wirkung. Geht die Handlung im Vordergrunde vor sich,
so wird das nächste Object mit wenig Unterschied der Entfernung in die
Tiefe sich dem Handelnden gegenüber befinden, die unbestimmteren Nach-
wirkungen aber, z. B. die Flucht von Massen in einem Schlachtbilde,
werden sich nach dem Hintergrunde ziehen; in diesem kann aber, wie das
eben erwähnte Bild zeigt, auch das Vergangene, was sich zu dem Vor-
dergrund als Ursache und Voraussetzung verhält, ohne Verletzung des
Grundgesetzes der bildenden Kunst in deutlicher Sprache ausgedrückt
sein. -- Das Ganze bewirkt so im gleichzeitigen Gegenschlag nach der
Breite und Höhe und nach der Tiefe das befriedigende Gefühl einer
gründlichen Erschöpfung und Ausathmung des dargestellten Lebens-Acts.

Diese Bemerkungen haben vorzüglich die historische Composition im
Auge gehabt und zwar vor Allem den mehr plastischen Styl, denn dahin
gehört Raphael. Je weniger nun der Charakter in seiner heroischen
Größe und der Einfachheit seiner idealen Motive den Inhalt eines Ge-
mäldes bildet, je mehr der Accent auf das Zufällige, Einzelne, Anhängende

räumlich ausgedrückter Contraſt in die Compoſition eingetreten, das Prinzip
der Auseinanderhaltung des Vielen erweitert ſich nach einer andern Seite.
Es entſteht daraus eine Durchkreuzung der Richtungen, die aber darum
jenes Geſetz der Gegenüberſtellung nicht aufhebt, ſondern neben ihm be-
ſtehend dem Künſtler nur auflegt, in ſeinem räumlich vertheilenden Denken
eine größere Summe von Fäden gleichzeitig zu regieren. So kann nun
eine Figur ihren Gegenſatz ebenſo gut hinter ſich, als ſich gegenüber haben,
der Contraſt als nächſter oder entfernterer Hintergrund wirken, aber auch
zugleich in einem Gegenüber ſich entfalten. Z. B. Delaroche’s Marie
Antoinette hat unmittelbar hinter ſich die Wache der Nationalgarde, ihr
Kopf hebt ſich in ſcharfem Contraſt von den ſtumpfen Zügen eines dieſer
Soldaten ab; die eigentlichen Feinde, die Richter, ſind im ferneren Hinter-
grund, aber durch düſtere Beleuchtung gehoben; daneben aber wirkt die
Symmetrie der Breite nach, denn rechts der Königin gegenüber, unter ſich
ſelbſt wieder contraſtirend, theils fanatiſch, theils mitleidig, befindet ſich das
zuſchauende Volk, neben einem fanatiſchen Nationalgardiſten und Offizier
jener apathiſch gleichgültige. Man ſieht an dieſem Beiſpiel zugleich, wie
Licht und Farbe vermittelnd eintritt, ſo daß, wenn eine von zwei gegen-
überſtehenden oder der Höhe nach in Gegenſatz geſtellten Seiten entfernter
ſteht, als die andern, oder der Gegenſatz überhaupt mehr nur in der
Richtung der Tiefe ſich ausſpricht, das Gleichgewicht durch kräftigeren
Beleuchtungs-Gegenſatz ſich herſtellen kann; auch wird ein Theil der
entfernteren Gruppe doch zugleich mehr auf den Vordergrund ſich herein-
ziehen und hier wieder ein Gegenüber bewirken. Die Tiefe hat zugleich
eine beſtimmte Beziehung auf die Zeit, genauer auf das Verhältniß der
Urſache und Wirkung. Geht die Handlung im Vordergrunde vor ſich,
ſo wird das nächſte Object mit wenig Unterſchied der Entfernung in die
Tiefe ſich dem Handelnden gegenüber befinden, die unbeſtimmteren Nach-
wirkungen aber, z. B. die Flucht von Maſſen in einem Schlachtbilde,
werden ſich nach dem Hintergrunde ziehen; in dieſem kann aber, wie das
eben erwähnte Bild zeigt, auch das Vergangene, was ſich zu dem Vor-
dergrund als Urſache und Vorausſetzung verhält, ohne Verletzung des
Grundgeſetzes der bildenden Kunſt in deutlicher Sprache ausgedrückt
ſein. — Das Ganze bewirkt ſo im gleichzeitigen Gegenſchlag nach der
Breite und Höhe und nach der Tiefe das befriedigende Gefühl einer
gründlichen Erſchöpfung und Ausathmung des dargeſtellten Lebens-Acts.

Dieſe Bemerkungen haben vorzüglich die hiſtoriſche Compoſition im
Auge gehabt und zwar vor Allem den mehr plaſtiſchen Styl, denn dahin
gehört Raphael. Je weniger nun der Charakter in ſeiner heroiſchen
Größe und der Einfachheit ſeiner idealen Motive den Inhalt eines Ge-
mäldes bildet, je mehr der Accent auf das Zufällige, Einzelne, Anhängende

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[625/0133] räumlich ausgedrückter Contraſt in die Compoſition eingetreten, das Prinzip der Auseinanderhaltung des Vielen erweitert ſich nach einer andern Seite. Es entſteht daraus eine Durchkreuzung der Richtungen, die aber darum jenes Geſetz der Gegenüberſtellung nicht aufhebt, ſondern neben ihm be- ſtehend dem Künſtler nur auflegt, in ſeinem räumlich vertheilenden Denken eine größere Summe von Fäden gleichzeitig zu regieren. So kann nun eine Figur ihren Gegenſatz ebenſo gut hinter ſich, als ſich gegenüber haben, der Contraſt als nächſter oder entfernterer Hintergrund wirken, aber auch zugleich in einem Gegenüber ſich entfalten. Z. B. Delaroche’s Marie Antoinette hat unmittelbar hinter ſich die Wache der Nationalgarde, ihr Kopf hebt ſich in ſcharfem Contraſt von den ſtumpfen Zügen eines dieſer Soldaten ab; die eigentlichen Feinde, die Richter, ſind im ferneren Hinter- grund, aber durch düſtere Beleuchtung gehoben; daneben aber wirkt die Symmetrie der Breite nach, denn rechts der Königin gegenüber, unter ſich ſelbſt wieder contraſtirend, theils fanatiſch, theils mitleidig, befindet ſich das zuſchauende Volk, neben einem fanatiſchen Nationalgardiſten und Offizier jener apathiſch gleichgültige. Man ſieht an dieſem Beiſpiel zugleich, wie Licht und Farbe vermittelnd eintritt, ſo daß, wenn eine von zwei gegen- überſtehenden oder der Höhe nach in Gegenſatz geſtellten Seiten entfernter ſteht, als die andern, oder der Gegenſatz überhaupt mehr nur in der Richtung der Tiefe ſich ausſpricht, das Gleichgewicht durch kräftigeren Beleuchtungs-Gegenſatz ſich herſtellen kann; auch wird ein Theil der entfernteren Gruppe doch zugleich mehr auf den Vordergrund ſich herein- ziehen und hier wieder ein Gegenüber bewirken. Die Tiefe hat zugleich eine beſtimmte Beziehung auf die Zeit, genauer auf das Verhältniß der Urſache und Wirkung. Geht die Handlung im Vordergrunde vor ſich, ſo wird das nächſte Object mit wenig Unterſchied der Entfernung in die Tiefe ſich dem Handelnden gegenüber befinden, die unbeſtimmteren Nach- wirkungen aber, z. B. die Flucht von Maſſen in einem Schlachtbilde, werden ſich nach dem Hintergrunde ziehen; in dieſem kann aber, wie das eben erwähnte Bild zeigt, auch das Vergangene, was ſich zu dem Vor- dergrund als Urſache und Vorausſetzung verhält, ohne Verletzung des Grundgeſetzes der bildenden Kunſt in deutlicher Sprache ausgedrückt ſein. — Das Ganze bewirkt ſo im gleichzeitigen Gegenſchlag nach der Breite und Höhe und nach der Tiefe das befriedigende Gefühl einer gründlichen Erſchöpfung und Ausathmung des dargeſtellten Lebens-Acts. Dieſe Bemerkungen haben vorzüglich die hiſtoriſche Compoſition im Auge gehabt und zwar vor Allem den mehr plaſtiſchen Styl, denn dahin gehört Raphael. Je weniger nun der Charakter in ſeiner heroiſchen Größe und der Einfachheit ſeiner idealen Motive den Inhalt eines Ge- mäldes bildet, je mehr der Accent auf das Zufällige, Einzelne, Anhängende

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 625. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/133>, abgerufen am 19.04.2024.