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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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für die Malerei irgendwie immer ein symmetrisches Gegenüber bei Ungleichheit
der Seiten begründet, entweder für das Ganze oder für die einzelne Gruppe
oder für beide zugleich. Dieß gilt zunächst von der Richtung in die Breite
und Höhe; die Richtung in die Tiefe erweitert mannigfach dieses Gesetz nach
einer neuen Seite, bereitet Verwicklungen, dient aber auch zur erschöpfenden
Entfaltung aller, nun in doppelter Art des Abstoßes sich darstellenden Verhält-
nisse der Vielheit.

Es ist sogleich von Vielheit und von Gruppen die Rede, denn erst
im reiferen Stoffe offenbart sich die Kraft eines Gesetzes, das sich aller-
dings auch bei nur zwei Figuren irgendwie geltend machen muß. Die
Dreizahl wird bei einfacheren Aufgaben in der Malerei wie in der Plastik
sich als besonders willkommene Form zur Entwicklung eines einleuchtenden
Rhythmus darbieten; diese Kunst eilt aber ihrer Natur gemäß zu um-
fassenderen Compositionen. Wir reden zuerst von der Vertheilung, Schei-
dung, Disposition; das Verhältniß der Ueberordnung, Unter- und Neben-
Ordnung, das in der allgemeinen Compositions-Lehre vorher aufgeführt
ist (§. 497), fassen wir hier besser erst im Folgenden, bei dem Momente
der Einheit, auf. Die bindende Kunst der Einheit setzt die Vielheit vor-
aus, die Einheit soll nicht wirken, ehe die Vielheit zu ihrem Rechte ge-
kommen ist. Es sollen also die Gegenstände auseinandertreten, ausein-
andergehalten sein. Die einzelne Gruppe bunt zu verschlingen, wie es ihm
gutdünkt, hindert den Maler keine Schwierigkeit des gegenseitigen sich-
Deckens der Theile, er stellt ja nur eine Seite dar und bestimmt den
Gesichtspunct; aber durchsichtig sind ja doch seine Gestalten nicht (vergl.
649 Anm. 2), er muß dafür sorgen, daß der Theil oder das Glied eines
Körpers, der theilweise von einem andern verdeckt ist, leicht erkannt werde
als Fortsetzung einer hinter dem verdeckenden Körper fortlaufenden Form,
damit das Einzelne auch in der Verbindung vieler Einzelner zu einem
Ganzen doch zugleich als Ganzes für sich erkannt werde; er darf die
Vielheit nicht in einen Brei zusammenkneten. Auch Körper, die mehr
vereinzelt stehen, sollen nicht mit Umgebendem haltungslos verwachsen
erscheinen: dem soll nicht nur die Technik der Modellirung und Farbe
vorbeugen, sondern eben die Composition, indem sie berechnet, was einer
Gestalt zum Hintergrund zu geben oder in der Nachbarschaft beizugesellen
ist. Ebenso wie die einzelnen Körper in der Gruppe voneinander, soll sich
ferner Gruppe von Gruppe einleuchtend trennen und abheben. Grup-
penknäuel z. B. wie in Rubens jüngstem Gerichte zu München, sind zu wild,
sind unruhig. Selbst im Getümmel der Schlacht müssen sich deutliche
Gruppen sondern, Rubens hat in der Amazonenschlacht, Raphael in der
Constantinsschlacht meisterhaft dafür gesorgt. Gehen wir nun tiefer, so

für die Malerei irgendwie immer ein ſymmetriſches Gegenüber bei Ungleichheit
der Seiten begründet, entweder für das Ganze oder für die einzelne Gruppe
oder für beide zugleich. Dieß gilt zunächſt von der Richtung in die Breite
und Höhe; die Richtung in die Tiefe erweitert mannigfach dieſes Geſetz nach
einer neuen Seite, bereitet Verwicklungen, dient aber auch zur erſchöpfenden
Entfaltung aller, nun in doppelter Art des Abſtoßes ſich darſtellenden Verhält-
niſſe der Vielheit.

Es iſt ſogleich von Vielheit und von Gruppen die Rede, denn erſt
im reiferen Stoffe offenbart ſich die Kraft eines Geſetzes, das ſich aller-
dings auch bei nur zwei Figuren irgendwie geltend machen muß. Die
Dreizahl wird bei einfacheren Aufgaben in der Malerei wie in der Plaſtik
ſich als beſonders willkommene Form zur Entwicklung eines einleuchtenden
Rhythmus darbieten; dieſe Kunſt eilt aber ihrer Natur gemäß zu um-
faſſenderen Compoſitionen. Wir reden zuerſt von der Vertheilung, Schei-
dung, Diſpoſition; das Verhältniß der Ueberordnung, Unter- und Neben-
Ordnung, das in der allgemeinen Compoſitions-Lehre vorher aufgeführt
iſt (§. 497), faſſen wir hier beſſer erſt im Folgenden, bei dem Momente
der Einheit, auf. Die bindende Kunſt der Einheit ſetzt die Vielheit vor-
aus, die Einheit ſoll nicht wirken, ehe die Vielheit zu ihrem Rechte ge-
kommen iſt. Es ſollen alſo die Gegenſtände auseinandertreten, ausein-
andergehalten ſein. Die einzelne Gruppe bunt zu verſchlingen, wie es ihm
gutdünkt, hindert den Maler keine Schwierigkeit des gegenſeitigen ſich-
Deckens der Theile, er ſtellt ja nur eine Seite dar und beſtimmt den
Geſichtspunct; aber durchſichtig ſind ja doch ſeine Geſtalten nicht (vergl.
649 Anm. 2), er muß dafür ſorgen, daß der Theil oder das Glied eines
Körpers, der theilweiſe von einem andern verdeckt iſt, leicht erkannt werde
als Fortſetzung einer hinter dem verdeckenden Körper fortlaufenden Form,
damit das Einzelne auch in der Verbindung vieler Einzelner zu einem
Ganzen doch zugleich als Ganzes für ſich erkannt werde; er darf die
Vielheit nicht in einen Brei zuſammenkneten. Auch Körper, die mehr
vereinzelt ſtehen, ſollen nicht mit Umgebendem haltungslos verwachſen
erſcheinen: dem ſoll nicht nur die Technik der Modellirung und Farbe
vorbeugen, ſondern eben die Compoſition, indem ſie berechnet, was einer
Geſtalt zum Hintergrund zu geben oder in der Nachbarſchaft beizugeſellen
iſt. Ebenſo wie die einzelnen Körper in der Gruppe voneinander, ſoll ſich
ferner Gruppe von Gruppe einleuchtend trennen und abheben. Grup-
penknäuel z. B. wie in Rubens jüngſtem Gerichte zu München, ſind zu wild,
ſind unruhig. Selbſt im Getümmel der Schlacht müſſen ſich deutliche
Gruppen ſondern, Rubens hat in der Amazonenſchlacht, Raphael in der
Conſtantinsſchlacht meiſterhaft dafür geſorgt. Gehen wir nun tiefer, ſo

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[622/0130] für die Malerei irgendwie immer ein ſymmetriſches Gegenüber bei Ungleichheit der Seiten begründet, entweder für das Ganze oder für die einzelne Gruppe oder für beide zugleich. Dieß gilt zunächſt von der Richtung in die Breite und Höhe; die Richtung in die Tiefe erweitert mannigfach dieſes Geſetz nach einer neuen Seite, bereitet Verwicklungen, dient aber auch zur erſchöpfenden Entfaltung aller, nun in doppelter Art des Abſtoßes ſich darſtellenden Verhält- niſſe der Vielheit. Es iſt ſogleich von Vielheit und von Gruppen die Rede, denn erſt im reiferen Stoffe offenbart ſich die Kraft eines Geſetzes, das ſich aller- dings auch bei nur zwei Figuren irgendwie geltend machen muß. Die Dreizahl wird bei einfacheren Aufgaben in der Malerei wie in der Plaſtik ſich als beſonders willkommene Form zur Entwicklung eines einleuchtenden Rhythmus darbieten; dieſe Kunſt eilt aber ihrer Natur gemäß zu um- faſſenderen Compoſitionen. Wir reden zuerſt von der Vertheilung, Schei- dung, Diſpoſition; das Verhältniß der Ueberordnung, Unter- und Neben- Ordnung, das in der allgemeinen Compoſitions-Lehre vorher aufgeführt iſt (§. 497), faſſen wir hier beſſer erſt im Folgenden, bei dem Momente der Einheit, auf. Die bindende Kunſt der Einheit ſetzt die Vielheit vor- aus, die Einheit ſoll nicht wirken, ehe die Vielheit zu ihrem Rechte ge- kommen iſt. Es ſollen alſo die Gegenſtände auseinandertreten, ausein- andergehalten ſein. Die einzelne Gruppe bunt zu verſchlingen, wie es ihm gutdünkt, hindert den Maler keine Schwierigkeit des gegenſeitigen ſich- Deckens der Theile, er ſtellt ja nur eine Seite dar und beſtimmt den Geſichtspunct; aber durchſichtig ſind ja doch ſeine Geſtalten nicht (vergl. 649 Anm. 2), er muß dafür ſorgen, daß der Theil oder das Glied eines Körpers, der theilweiſe von einem andern verdeckt iſt, leicht erkannt werde als Fortſetzung einer hinter dem verdeckenden Körper fortlaufenden Form, damit das Einzelne auch in der Verbindung vieler Einzelner zu einem Ganzen doch zugleich als Ganzes für ſich erkannt werde; er darf die Vielheit nicht in einen Brei zuſammenkneten. Auch Körper, die mehr vereinzelt ſtehen, ſollen nicht mit Umgebendem haltungslos verwachſen erſcheinen: dem ſoll nicht nur die Technik der Modellirung und Farbe vorbeugen, ſondern eben die Compoſition, indem ſie berechnet, was einer Geſtalt zum Hintergrund zu geben oder in der Nachbarſchaft beizugeſellen iſt. Ebenſo wie die einzelnen Körper in der Gruppe voneinander, ſoll ſich ferner Gruppe von Gruppe einleuchtend trennen und abheben. Grup- penknäuel z. B. wie in Rubens jüngſtem Gerichte zu München, ſind zu wild, ſind unruhig. Selbſt im Getümmel der Schlacht müſſen ſich deutliche Gruppen ſondern, Rubens hat in der Amazonenſchlacht, Raphael in der Conſtantinsſchlacht meiſterhaft dafür geſorgt. Gehen wir nun tiefer, ſo

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 622. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/130>, abgerufen am 20.04.2024.