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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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unendliche. Auch das gemessene Pathos des mehr plastischen Styls entfernt sich
weit von jener Einfachheit und Sparsamkeit.

Wir haben gesehen, daß die Kunst der Malerei durch ihr innerstes
Wesen zur Handlung, zum Dramatischen geführt wird; damit ist bereits
vorausgesetzt, daß die Welt des Ausdrucks, der Affecte zu ihrem Kern
und Mittelpunct den Charakter habe, denn nur dieser handelt. Es ist
nun, wie alle andern, so auch dieses Moment aus der allgemeinen Er-
örterung (§. 654) noch einmal ausdrücklich aufzunehmen und als fester
Schlußpunct um so mehr an die Spitze zu stellen, weil uns die ethische
Einheit in dem unendlichen Reichthum von Formen, Arten der Bewegung
und des innern Ausdrucks scheinen kann verloren gegangen zu sein.
In der That gibt es für die Malerei eine Versuchung, charakterlos zu
werden, Eigenschaften, Kräfte, Neigungen, Stimmungen, Leidenschaften
darzustellen, aber keinen Charakter. Man warnt sonst die Malerei vor
dem Uebermaaße des Charakteristischen. Dieß hat im vorliegenden Zu-
sammenhang dieselbe Bedeutung mit dem Begriffe des Charakterlosen;
denn wenn Charakter das Stetige intensiver persönlicher Willens-Einheit
bedeutet, so steht dem Ausdrucke derselben gegenüber die Uebertreibung
oder Alleinherrschaft aller der Züge, welche wir bisher unter dem Natu-
ralistischen und Individualisirenden befaßt haben. Der Begriff des Cha-
rakteristischen wickelt sich jetzt bis zur völligen Klarheit ab. In §. 625
Anm. 2 hieß es: wer sich gegen dasselbe erklärt, fühlt plastisch; jetzt:
wer sich dafür erklärt, fühlt malerisch. Allein nur die ungleich bunter
gebrochene Peripherie, noch nicht den Kern dieser Peripherie hat man
erfaßt, wenn man das Charakteristische im gewöhnlichen Sinne als
Grundzug der Malerei geltend macht. Das Charakteristische umfaßt
die Charakterzüge im untergeordneten, nicht im intensiv ethischen Sinne
des Worts. Es sind die Naturbedingungen: das Gepräge des Volks,
Stamms, Alters, Geschlechts, Zustands; die Bedingungen der ein-
gewöhnten Thätigkeit: der Stempel des Standes, der Culturformen u. s. w.;
es sind die Züge der besonderen Kraft, Empfindung, Neigung, Leiden-
schaft, momentan oder eingewurzelt; es ist die unendlich eigene Mischung
der Kräfte im Individuum, wie sie angeboren ist und wie sie sich vor
der Zeit der eigentlichen Charakterbildung zu jenen irrationalen Ein-
heiten bis zur Grille und Absonderlichkeit ausbildet, die wir in §. 625,
Anm. 2 vom plastischen Charakter fern gehalten haben. Das Alles ist,
wie wir uns hinreichend überzeugt haben, in der Malerei zur ästhetischen
Geltung erhoben; aber es ist, wie sich also nunmehr ergibt, nicht der
Charakter, sondern nur das Polygon, dessen Axe er sein soll, das Farben-
prisma, zu dem er sich als die Einheit des bedingenden Lichtes verhält.

unendliche. Auch das gemeſſene Pathos des mehr plaſtiſchen Styls entfernt ſich
weit von jener Einfachheit und Sparſamkeit.

Wir haben geſehen, daß die Kunſt der Malerei durch ihr innerſtes
Weſen zur Handlung, zum Dramatiſchen geführt wird; damit iſt bereits
vorausgeſetzt, daß die Welt des Ausdrucks, der Affecte zu ihrem Kern
und Mittelpunct den Charakter habe, denn nur dieſer handelt. Es iſt
nun, wie alle andern, ſo auch dieſes Moment aus der allgemeinen Er-
örterung (§. 654) noch einmal ausdrücklich aufzunehmen und als feſter
Schlußpunct um ſo mehr an die Spitze zu ſtellen, weil uns die ethiſche
Einheit in dem unendlichen Reichthum von Formen, Arten der Bewegung
und des innern Ausdrucks ſcheinen kann verloren gegangen zu ſein.
In der That gibt es für die Malerei eine Verſuchung, charakterlos zu
werden, Eigenſchaften, Kräfte, Neigungen, Stimmungen, Leidenſchaften
darzuſtellen, aber keinen Charakter. Man warnt ſonſt die Malerei vor
dem Uebermaaße des Charakteriſtiſchen. Dieß hat im vorliegenden Zu-
ſammenhang dieſelbe Bedeutung mit dem Begriffe des Charakterloſen;
denn wenn Charakter das Stetige intenſiver perſönlicher Willens-Einheit
bedeutet, ſo ſteht dem Ausdrucke derſelben gegenüber die Uebertreibung
oder Alleinherrſchaft aller der Züge, welche wir bisher unter dem Natu-
raliſtiſchen und Individualiſirenden befaßt haben. Der Begriff des Cha-
rakteriſtiſchen wickelt ſich jetzt bis zur völligen Klarheit ab. In §. 625
Anm. 2 hieß es: wer ſich gegen daſſelbe erklärt, fühlt plaſtiſch; jetzt:
wer ſich dafür erklärt, fühlt maleriſch. Allein nur die ungleich bunter
gebrochene Peripherie, noch nicht den Kern dieſer Peripherie hat man
erfaßt, wenn man das Charakteriſtiſche im gewöhnlichen Sinne als
Grundzug der Malerei geltend macht. Das Charakteriſtiſche umfaßt
die Charakterzüge im untergeordneten, nicht im intenſiv ethiſchen Sinne
des Worts. Es ſind die Naturbedingungen: das Gepräge des Volks,
Stamms, Alters, Geſchlechts, Zuſtands; die Bedingungen der ein-
gewöhnten Thätigkeit: der Stempel des Standes, der Culturformen u. ſ. w.;
es ſind die Züge der beſonderen Kraft, Empfindung, Neigung, Leiden-
ſchaft, momentan oder eingewurzelt; es iſt die unendlich eigene Miſchung
der Kräfte im Individuum, wie ſie angeboren iſt und wie ſie ſich vor
der Zeit der eigentlichen Charakterbildung zu jenen irrationalen Ein-
heiten bis zur Grille und Abſonderlichkeit ausbildet, die wir in §. 625,
Anm. 2 vom plaſtiſchen Charakter fern gehalten haben. Das Alles iſt,
wie wir uns hinreichend überzeugt haben, in der Malerei zur äſthetiſchen
Geltung erhoben; aber es iſt, wie ſich alſo nunmehr ergibt, nicht der
Charakter, ſondern nur das Polygon, deſſen Axe er ſein ſoll, das Farben-
priſma, zu dem er ſich als die Einheit des bedingenden Lichtes verhält.

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[606/0114] unendliche. Auch das gemeſſene Pathos des mehr plaſtiſchen Styls entfernt ſich weit von jener Einfachheit und Sparſamkeit. Wir haben geſehen, daß die Kunſt der Malerei durch ihr innerſtes Weſen zur Handlung, zum Dramatiſchen geführt wird; damit iſt bereits vorausgeſetzt, daß die Welt des Ausdrucks, der Affecte zu ihrem Kern und Mittelpunct den Charakter habe, denn nur dieſer handelt. Es iſt nun, wie alle andern, ſo auch dieſes Moment aus der allgemeinen Er- örterung (§. 654) noch einmal ausdrücklich aufzunehmen und als feſter Schlußpunct um ſo mehr an die Spitze zu ſtellen, weil uns die ethiſche Einheit in dem unendlichen Reichthum von Formen, Arten der Bewegung und des innern Ausdrucks ſcheinen kann verloren gegangen zu ſein. In der That gibt es für die Malerei eine Verſuchung, charakterlos zu werden, Eigenſchaften, Kräfte, Neigungen, Stimmungen, Leidenſchaften darzuſtellen, aber keinen Charakter. Man warnt ſonſt die Malerei vor dem Uebermaaße des Charakteriſtiſchen. Dieß hat im vorliegenden Zu- ſammenhang dieſelbe Bedeutung mit dem Begriffe des Charakterloſen; denn wenn Charakter das Stetige intenſiver perſönlicher Willens-Einheit bedeutet, ſo ſteht dem Ausdrucke derſelben gegenüber die Uebertreibung oder Alleinherrſchaft aller der Züge, welche wir bisher unter dem Natu- raliſtiſchen und Individualiſirenden befaßt haben. Der Begriff des Cha- rakteriſtiſchen wickelt ſich jetzt bis zur völligen Klarheit ab. In §. 625 Anm. 2 hieß es: wer ſich gegen daſſelbe erklärt, fühlt plaſtiſch; jetzt: wer ſich dafür erklärt, fühlt maleriſch. Allein nur die ungleich bunter gebrochene Peripherie, noch nicht den Kern dieſer Peripherie hat man erfaßt, wenn man das Charakteriſtiſche im gewöhnlichen Sinne als Grundzug der Malerei geltend macht. Das Charakteriſtiſche umfaßt die Charakterzüge im untergeordneten, nicht im intenſiv ethiſchen Sinne des Worts. Es ſind die Naturbedingungen: das Gepräge des Volks, Stamms, Alters, Geſchlechts, Zuſtands; die Bedingungen der ein- gewöhnten Thätigkeit: der Stempel des Standes, der Culturformen u. ſ. w.; es ſind die Züge der beſonderen Kraft, Empfindung, Neigung, Leiden- ſchaft, momentan oder eingewurzelt; es iſt die unendlich eigene Miſchung der Kräfte im Individuum, wie ſie angeboren iſt und wie ſie ſich vor der Zeit der eigentlichen Charakterbildung zu jenen irrationalen Ein- heiten bis zur Grille und Abſonderlichkeit ausbildet, die wir in §. 625, Anm. 2 vom plaſtiſchen Charakter fern gehalten haben. Das Alles iſt, wie wir uns hinreichend überzeugt haben, in der Malerei zur äſthetiſchen Geltung erhoben; aber es iſt, wie ſich alſo nunmehr ergibt, nicht der Charakter, ſondern nur das Polygon, deſſen Axe er ſein ſoll, das Farben- priſma, zu dem er ſich als die Einheit des bedingenden Lichtes verhält.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 606. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/114>, abgerufen am 19.04.2024.