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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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bei manchen Neueren, z. B. den Engländern. Man kann nun überhaupt
von der Seite absehen, wonach es bei solcher Behandlung dem Künstler
hauptsächlich darum zu thun ist, die Formen in allen Wendungen zu zei-
gen; dann erscheint eine über die Bedingungen des Gegenstands hinaus-
greifende Vorliebe für das Bewegte im Ganzen als ein Uebertritt in das
innere Leben der Phantasie, wo alle Gestalten schwanken und schweben,
und da dieß Leben ohne eigentlichen materiellen Niederschlag sich in Musik
und Poesie darstellt, so stehen wir unmittelbar vor den bestimmteren Ueber-
griffen in diese Gebiete. Ein negativer Uebergriff in die Dichtkunst ist
es, wenn der äußerste Krampf leidender oder handelnder Bewegung dar-
gestellt wird, wie er einen Grad der Häßlichkeit bedingt, welcher nur
einer Kunst erlaubt sein kann, die uns das Bild blos innerlich vor-
überführt, die Vorstellung des furchtbaren Tons dazu gibt, in welchem
das häßlich Furchtbare, was dem Gesichte geboten wird, eine auflösende
Ableitung findet, und welche endlich das Bild überhaupt in einer Succes-
sion fortführt. Wie der Laokoon des Bildners nicht mit weitgeöffnetem
Munde schreien dürfte, auch wenn ihm sein Leiden mehr, als ein gepreß-
tes Stöhnen, erlaubte, so dürfte es auch ein gemalter nicht und der vor
Schmerz brüllende Petrus von Rubens in Köln ist eine künstlerische
Sünde, welche durch die rein äußerlich in den Trostbringenden Engel-
kindern hinzugegebene Versöhnung so wenig gemildert wird, als in so
manchen andern Werken, wo für den fehlenden Seelen-Ausdruck der Er-
hebung über das Leiden dieses grobsinnlichere Surragot dienen soll.
Die Märtyrer-Schindereien, die sich im Mittelalter und später die Kunst
von dem stoffartigen Interesse der Religion dictiren ließ, sind ein grasses
Beispiel der Verirrung in eine auch der Malerei verwehrte Steigerung
des Häßlichen; hier fehlt nicht nur zum Körperschmerz der Ausdruck der
geistigen Erhebung, sondern zwischen beiden auch der Ausdruck des See-
lenleidens, in welchem, wie wir gesehen, die Malerei ganz besonders ihre
Tiefe zu entfalten vermag. Positiv aber verirrt sich die Malerei in die
Poesie, wenn sie malt, was zwar an sich anschaulich, aber ohne Worte
nicht verständlich ist: Momente, wo ein Innerliches dargestellt werden soll,
was in Figuren zwar ungefähr, aber nicht in der Bestimmtheit zum Aus-
druck kommen kann, um welche es sich bei dem gewählten Stoff eben
handelt. Man kann einen tiefbrütenden Menschen malen, aber nicht
Hamlet, wie er den Monolog: Sein oder Nichtsein spricht, einen studi-
renden Forscher, aber nicht Newton, wie er das Gesetz des Falls entdeckt,
zwei Frauen in gefühlvollem Gespräch, aber nicht Maria, wie sie mit
Porcia, der Gemahlin des Pilatus, sich von der Glückseligkeit des ewigen
Lebens unterhält (ein Gemälde von Hetsch, vergl. Göthe W. B. 43 S. 87),
ein scherzendes Pärchen, aber nicht Uhland's Gedicht Hans und Grete, wo

bei manchen Neueren, z. B. den Engländern. Man kann nun überhaupt
von der Seite abſehen, wonach es bei ſolcher Behandlung dem Künſtler
hauptſächlich darum zu thun iſt, die Formen in allen Wendungen zu zei-
gen; dann erſcheint eine über die Bedingungen des Gegenſtands hinaus-
greifende Vorliebe für das Bewegte im Ganzen als ein Uebertritt in das
innere Leben der Phantaſie, wo alle Geſtalten ſchwanken und ſchweben,
und da dieß Leben ohne eigentlichen materiellen Niederſchlag ſich in Muſik
und Poeſie darſtellt, ſo ſtehen wir unmittelbar vor den beſtimmteren Ueber-
griffen in dieſe Gebiete. Ein negativer Uebergriff in die Dichtkunſt iſt
es, wenn der äußerſte Krampf leidender oder handelnder Bewegung dar-
geſtellt wird, wie er einen Grad der Häßlichkeit bedingt, welcher nur
einer Kunſt erlaubt ſein kann, die uns das Bild blos innerlich vor-
überführt, die Vorſtellung des furchtbaren Tons dazu gibt, in welchem
das häßlich Furchtbare, was dem Geſichte geboten wird, eine auflöſende
Ableitung findet, und welche endlich das Bild überhaupt in einer Succeſ-
ſion fortführt. Wie der Laokoon des Bildners nicht mit weitgeöffnetem
Munde ſchreien dürfte, auch wenn ihm ſein Leiden mehr, als ein gepreß-
tes Stöhnen, erlaubte, ſo dürfte es auch ein gemalter nicht und der vor
Schmerz brüllende Petrus von Rubens in Köln iſt eine künſtleriſche
Sünde, welche durch die rein äußerlich in den Troſtbringenden Engel-
kindern hinzugegebene Verſöhnung ſo wenig gemildert wird, als in ſo
manchen andern Werken, wo für den fehlenden Seelen-Ausdruck der Er-
hebung über das Leiden dieſes grobſinnlichere Surragot dienen ſoll.
Die Märtyrer-Schindereien, die ſich im Mittelalter und ſpäter die Kunſt
von dem ſtoffartigen Intereſſe der Religion dictiren ließ, ſind ein graſſes
Beiſpiel der Verirrung in eine auch der Malerei verwehrte Steigerung
des Häßlichen; hier fehlt nicht nur zum Körperſchmerz der Ausdruck der
geiſtigen Erhebung, ſondern zwiſchen beiden auch der Ausdruck des See-
lenleidens, in welchem, wie wir geſehen, die Malerei ganz beſonders ihre
Tiefe zu entfalten vermag. Poſitiv aber verirrt ſich die Malerei in die
Poeſie, wenn ſie malt, was zwar an ſich anſchaulich, aber ohne Worte
nicht verſtändlich iſt: Momente, wo ein Innerliches dargeſtellt werden ſoll,
was in Figuren zwar ungefähr, aber nicht in der Beſtimmtheit zum Aus-
druck kommen kann, um welche es ſich bei dem gewählten Stoff eben
handelt. Man kann einen tiefbrütenden Menſchen malen, aber nicht
Hamlet, wie er den Monolog: Sein oder Nichtſein ſpricht, einen ſtudi-
renden Forſcher, aber nicht Newton, wie er das Geſetz des Falls entdeckt,
zwei Frauen in gefühlvollem Geſpräch, aber nicht Maria, wie ſie mit
Porcia, der Gemahlin des Pilatus, ſich von der Glückſeligkeit des ewigen
Lebens unterhält (ein Gemälde von Hetſch, vergl. Göthe W. B. 43 S. 87),
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[598/0106] bei manchen Neueren, z. B. den Engländern. Man kann nun überhaupt von der Seite abſehen, wonach es bei ſolcher Behandlung dem Künſtler hauptſächlich darum zu thun iſt, die Formen in allen Wendungen zu zei- gen; dann erſcheint eine über die Bedingungen des Gegenſtands hinaus- greifende Vorliebe für das Bewegte im Ganzen als ein Uebertritt in das innere Leben der Phantaſie, wo alle Geſtalten ſchwanken und ſchweben, und da dieß Leben ohne eigentlichen materiellen Niederſchlag ſich in Muſik und Poeſie darſtellt, ſo ſtehen wir unmittelbar vor den beſtimmteren Ueber- griffen in dieſe Gebiete. Ein negativer Uebergriff in die Dichtkunſt iſt es, wenn der äußerſte Krampf leidender oder handelnder Bewegung dar- geſtellt wird, wie er einen Grad der Häßlichkeit bedingt, welcher nur einer Kunſt erlaubt ſein kann, die uns das Bild blos innerlich vor- überführt, die Vorſtellung des furchtbaren Tons dazu gibt, in welchem das häßlich Furchtbare, was dem Geſichte geboten wird, eine auflöſende Ableitung findet, und welche endlich das Bild überhaupt in einer Succeſ- ſion fortführt. Wie der Laokoon des Bildners nicht mit weitgeöffnetem Munde ſchreien dürfte, auch wenn ihm ſein Leiden mehr, als ein gepreß- tes Stöhnen, erlaubte, ſo dürfte es auch ein gemalter nicht und der vor Schmerz brüllende Petrus von Rubens in Köln iſt eine künſtleriſche Sünde, welche durch die rein äußerlich in den Troſtbringenden Engel- kindern hinzugegebene Verſöhnung ſo wenig gemildert wird, als in ſo manchen andern Werken, wo für den fehlenden Seelen-Ausdruck der Er- hebung über das Leiden dieſes grobſinnlichere Surragot dienen ſoll. Die Märtyrer-Schindereien, die ſich im Mittelalter und ſpäter die Kunſt von dem ſtoffartigen Intereſſe der Religion dictiren ließ, ſind ein graſſes Beiſpiel der Verirrung in eine auch der Malerei verwehrte Steigerung des Häßlichen; hier fehlt nicht nur zum Körperſchmerz der Ausdruck der geiſtigen Erhebung, ſondern zwiſchen beiden auch der Ausdruck des See- lenleidens, in welchem, wie wir geſehen, die Malerei ganz beſonders ihre Tiefe zu entfalten vermag. Poſitiv aber verirrt ſich die Malerei in die Poeſie, wenn ſie malt, was zwar an ſich anſchaulich, aber ohne Worte nicht verſtändlich iſt: Momente, wo ein Innerliches dargeſtellt werden ſoll, was in Figuren zwar ungefähr, aber nicht in der Beſtimmtheit zum Aus- druck kommen kann, um welche es ſich bei dem gewählten Stoff eben handelt. Man kann einen tiefbrütenden Menſchen malen, aber nicht Hamlet, wie er den Monolog: Sein oder Nichtſein ſpricht, einen ſtudi- renden Forſcher, aber nicht Newton, wie er das Geſetz des Falls entdeckt, zwei Frauen in gefühlvollem Geſpräch, aber nicht Maria, wie ſie mit Porcia, der Gemahlin des Pilatus, ſich von der Glückſeligkeit des ewigen Lebens unterhält (ein Gemälde von Hetſch, vergl. Göthe W. B. 43 S. 87), ein ſcherzendes Pärchen, aber nicht Uhland’s Gedicht Hans und Grete, wo

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 598. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/106>, abgerufen am 29.03.2024.