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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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den Winkelmann so sehr liebt. Es ist ein Entwirken von innen heraus:
"hier lag das Kind, mit warmem Leben den zarten Busen angefüllt, und
hier mit heilig reinem Weben entwirkte sich das Götterbild." Hier gibt
es keine Anmuth ohne die Wellenline schwungvoller Formen, keine Würde
mit flacher Brust und schlechten Schenkeln, keinen starken Willen mit
dürftigen Muskeln und wenn die Gymnastik vollendet, was die bauende
Seele gewoben, so ist sie als Sitte der Ausfluß eben dieser ursprüng-
lich naturvollen, so gleichmäßig nach innen und außen bauenden Seele.
In diesem Verhältnisse reinen Entsprechens muß der Leib ein rein tüch-
tiger, ein mangelloses Organ für alle Zwecke, Bewegungen und Regungen
der Seele, die Seele eine durchaus gesunde sein; Beides fordert einan-
der. Damit ist die Schlußbestimmung des §. gegeben. "Die Plastik
kann ihren wahren Gipfel nur in solchen Naturen erreichen, deren Be-
griff es mit sich bringt, Alles, was sie in der Idee oder der Seele nach
sind, jederzeit auch in der Wirklichkeit zu sein" (Schelling a. a. O.).

§. 605.

Das Seelenleben, wie es der Begriff der Vollkommenheit in diesem Zusam-1.
menhang voraussetzt, ist wesentlich das naive, das sich aus seinem Sinnen-
leben nicht in die Tiefen der Innerlichkeit zurückzieht
. Diese
Naturform des Geistes schließt aber Fülle des ethischen Gehaltes so wenig
aus, daß vielmehr jetzt alle technischen Grenzen der Bildnerkunst als positive
Kräfte erscheinen, in denen ebensoviele Tugenden des Charakters sich ausprä-
gen. Die solide Festigkeit, Schwere, Gemessenheit, farblose Formbestimmtheit,
Unbewegtheit wird nun zunächst zum Ausdruck der Gediegenheit, Gewichtig-
keit eines Charakters, der im Allgemeinen des sittlichen Lebens, weil er es
als sein eigenes in sich trägt, als im Schwerpuncte seiner substantiellen Selbständig-
keit ruht und daher der Verewigung durch eine Kunst werth ist, die mit der
Architektur den Grundzug des Monumentalen gemein hat. Aus allen2.
diesen Bestimmungen (§. 602--605) ergibt sich nun, daß in dieser Kunst der
Standpunct des einfach Schönen der herrschende ist, von welchem aus auch
das Erhabene und Komische, wiefern es zulässig ist, behandelt wird.

1. Wir haben die unmittelbare Einheit der Seele und des Leibs als
ästhetisches Prinzip der Plastik erkannt. Innerhalb dieser Einheit haben
wir nun das Seelenleben von seiner leiblichen Erscheinung wieder zu
unterscheiden und den Begriff der Vollkommenheit in dieser näheren An-
wendung auf die eine der zwei ungetrennten Seiten zu beleuchten. Die
Vollkommenheit der plastischen Natur ist die der ungebrochenen Einfalt
des Seelenlebens: dieß ist der psychische Grundzug der Bildnerkunst. Die

den Winkelmann ſo ſehr liebt. Es iſt ein Entwirken von innen heraus:
„hier lag das Kind, mit warmem Leben den zarten Buſen angefüllt, und
hier mit heilig reinem Weben entwirkte ſich das Götterbild.“ Hier gibt
es keine Anmuth ohne die Wellenline ſchwungvoller Formen, keine Würde
mit flacher Bruſt und ſchlechten Schenkeln, keinen ſtarken Willen mit
dürftigen Muskeln und wenn die Gymnaſtik vollendet, was die bauende
Seele gewoben, ſo iſt ſie als Sitte der Ausfluß eben dieſer urſprüng-
lich naturvollen, ſo gleichmäßig nach innen und außen bauenden Seele.
In dieſem Verhältniſſe reinen Entſprechens muß der Leib ein rein tüch-
tiger, ein mangelloſes Organ für alle Zwecke, Bewegungen und Regungen
der Seele, die Seele eine durchaus geſunde ſein; Beides fordert einan-
der. Damit iſt die Schlußbeſtimmung des §. gegeben. „Die Plaſtik
kann ihren wahren Gipfel nur in ſolchen Naturen erreichen, deren Be-
griff es mit ſich bringt, Alles, was ſie in der Idee oder der Seele nach
ſind, jederzeit auch in der Wirklichkeit zu ſein“ (Schelling a. a. O.).

§. 605.

Das Seelenleben, wie es der Begriff der Vollkommenheit in dieſem Zuſam-1.
menhang vorausſetzt, iſt weſentlich das naive, das ſich aus ſeinem Sinnen-
leben nicht in die Tiefen der Innerlichkeit zurückzieht
. Dieſe
Naturform des Geiſtes ſchließt aber Fülle des ethiſchen Gehaltes ſo wenig
aus, daß vielmehr jetzt alle techniſchen Grenzen der Bildnerkunſt als poſitive
Kräfte erſcheinen, in denen ebenſoviele Tugenden des Charakters ſich ausprä-
gen. Die ſolide Feſtigkeit, Schwere, Gemeſſenheit, farbloſe Formbeſtimmtheit,
Unbewegtheit wird nun zunächſt zum Ausdruck der Gediegenheit, Gewichtig-
keit eines Charakters, der im Allgemeinen des ſittlichen Lebens, weil er es
als ſein eigenes in ſich trägt, als im Schwerpuncte ſeiner ſubſtantiellen Selbſtändig-
keit ruht und daher der Verewigung durch eine Kunſt werth iſt, die mit der
Architektur den Grundzug des Monumentalen gemein hat. Aus allen2.
dieſen Beſtimmungen (§. 602—605) ergibt ſich nun, daß in dieſer Kunſt der
Standpunct des einfach Schönen der herrſchende iſt, von welchem aus auch
das Erhabene und Komiſche, wiefern es zuläſſig iſt, behandelt wird.

1. Wir haben die unmittelbare Einheit der Seele und des Leibs als
äſthetiſches Prinzip der Plaſtik erkannt. Innerhalb dieſer Einheit haben
wir nun das Seelenleben von ſeiner leiblichen Erſcheinung wieder zu
unterſcheiden und den Begriff der Vollkommenheit in dieſer näheren An-
wendung auf die eine der zwei ungetrennten Seiten zu beleuchten. Die
Vollkommenheit der plaſtiſchen Natur iſt die der ungebrochenen Einfalt
des Seelenlebens: dieß iſt der pſychiſche Grundzug der Bildnerkunſt. Die

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[361/0035] den Winkelmann ſo ſehr liebt. Es iſt ein Entwirken von innen heraus: „hier lag das Kind, mit warmem Leben den zarten Buſen angefüllt, und hier mit heilig reinem Weben entwirkte ſich das Götterbild.“ Hier gibt es keine Anmuth ohne die Wellenline ſchwungvoller Formen, keine Würde mit flacher Bruſt und ſchlechten Schenkeln, keinen ſtarken Willen mit dürftigen Muskeln und wenn die Gymnaſtik vollendet, was die bauende Seele gewoben, ſo iſt ſie als Sitte der Ausfluß eben dieſer urſprüng- lich naturvollen, ſo gleichmäßig nach innen und außen bauenden Seele. In dieſem Verhältniſſe reinen Entſprechens muß der Leib ein rein tüch- tiger, ein mangelloſes Organ für alle Zwecke, Bewegungen und Regungen der Seele, die Seele eine durchaus geſunde ſein; Beides fordert einan- der. Damit iſt die Schlußbeſtimmung des §. gegeben. „Die Plaſtik kann ihren wahren Gipfel nur in ſolchen Naturen erreichen, deren Be- griff es mit ſich bringt, Alles, was ſie in der Idee oder der Seele nach ſind, jederzeit auch in der Wirklichkeit zu ſein“ (Schelling a. a. O.). §. 605. Das Seelenleben, wie es der Begriff der Vollkommenheit in dieſem Zuſam- menhang vorausſetzt, iſt weſentlich das naive, das ſich aus ſeinem Sinnen- leben nicht in die Tiefen der Innerlichkeit zurückzieht. Dieſe Naturform des Geiſtes ſchließt aber Fülle des ethiſchen Gehaltes ſo wenig aus, daß vielmehr jetzt alle techniſchen Grenzen der Bildnerkunſt als poſitive Kräfte erſcheinen, in denen ebenſoviele Tugenden des Charakters ſich ausprä- gen. Die ſolide Feſtigkeit, Schwere, Gemeſſenheit, farbloſe Formbeſtimmtheit, Unbewegtheit wird nun zunächſt zum Ausdruck der Gediegenheit, Gewichtig- keit eines Charakters, der im Allgemeinen des ſittlichen Lebens, weil er es als ſein eigenes in ſich trägt, als im Schwerpuncte ſeiner ſubſtantiellen Selbſtändig- keit ruht und daher der Verewigung durch eine Kunſt werth iſt, die mit der Architektur den Grundzug des Monumentalen gemein hat. Aus allen dieſen Beſtimmungen (§. 602—605) ergibt ſich nun, daß in dieſer Kunſt der Standpunct des einfach Schönen der herrſchende iſt, von welchem aus auch das Erhabene und Komiſche, wiefern es zuläſſig iſt, behandelt wird. 1. Wir haben die unmittelbare Einheit der Seele und des Leibs als äſthetiſches Prinzip der Plaſtik erkannt. Innerhalb dieſer Einheit haben wir nun das Seelenleben von ſeiner leiblichen Erſcheinung wieder zu unterſcheiden und den Begriff der Vollkommenheit in dieſer näheren An- wendung auf die eine der zwei ungetrennten Seiten zu beleuchten. Die Vollkommenheit der plaſtiſchen Natur iſt die der ungebrochenen Einfalt des Seelenlebens: dieß iſt der pſychiſche Grundzug der Bildnerkunſt. Die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/35>, abgerufen am 16.04.2024.