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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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§. 600.

1.

Von dem Gesetze der Schwere in ihrem Materiale, dessen stoffartiger Kern
mit der Form, welche ihm als geistiger Mantel übergeworfen ist, doch unmit-
telbar in keiner Beziehung steht, ist die Bildnerkunst in der Weise abhängig,
daß in der Darstellung des organisch frei beherrschten Schwerpuncts jene wirk-
2liche Schwere noch mittelbar mitwiegt. Dieser Rest von architektonisch structi-
ver Bedingtheit äußert sich auch in einer, der Plastik noch anhängenden Spal-
tung zwischen Erfindung und Ausführung.

1. Der Nachklang der Architektur in der Plastik ist noch weiter zu ver-
folgen; die Schwere des Materials muß zunächst besonders ins Auge ge-
faßt werden. In der Baukunst ist diese Eigenschaft als solche wesentlich;
diese Kunst ist an sich ein Kampf mit der Schwere, sie soll innerhalb
ihrer selbst überwunden werden (§. 557), d. h. man soll dem aus-
geführten Werke ansehen, daß das Material schwer ist, die Schwere
aber structiv benützt, durch gegenseitige Spannung der Werkstücke zu einer
sowohl zweckmäßigen, als auch rhythmisch schön wirkenden Dienstleistung
so gezwungen wurde, daß sie dem überlistenden Zwang freiwillig zu fol-
gen scheint. Trotz dieser Ueberlistung, ja in ihr und durch sie soll aber
die Schwere für das Auge und das in ihm enthaltene Wägen noch in
ganzer Kraft da sein, darauf ruht ja eben der im engsten Sinn monu-
mentale Charakter dieser Kunst. Das Auge fühlt sich von der bearbeite-
ten Oberfläche mitten in den Kern der Werkstücke hinein und vergegen-
wärtigt der Phantasie, wie sie lastend aufliegen und doch durch die
Kunst ihrer Stellung schwungvoll zu steigen, zu schweben scheinen. In
der Bildnerkunst verhält es sich damit zunächst völlig anders: es handelt
sich nur von der Oberfläche, wie sie die Bearbeitung darstellt; was hinter
ihr im Innern sich befindet, geht die ästhetische Wirkung gar nichts an.
Gerade an der Bildnerkunst läßt sich am besten zeigen, was unter dem
"reinen Schein", unter "der Ablösung der auf der Oberfläche hervortre-
tenden Gesammtwirkung von den sie bedingenden Theilen der innern Zu-
sammensetzung" (§. 54) verstanden wird, und von ihr ist entnommen,
was dort aus Hogarth angeführt ist: man müsse das Kunstwerk so be-
trachten, als ob "Alles, was inwendig ist, so rein herausgenommen sei,
daß nichts übrig bleibt, als eine dünne Schaale, die man sich aus reinen
Linien gebildet vorstellen muß und deren innere und äußere Fläche ganz
gleich ist." Der Zusatz hebt auch den Begriff einer dünnen Schaale
wieder auf; die Form in der Plastik ist vielmehr eigentlich, im Verhältniß
zum Material, ein reines Nichts, eine Negation, eine Null, und gerade
dieß ist ihre unendliche Position. Schon der naturschöne Körper wird in

§. 600.

1.

Von dem Geſetze der Schwere in ihrem Materiale, deſſen ſtoffartiger Kern
mit der Form, welche ihm als geiſtiger Mantel übergeworfen iſt, doch unmit-
telbar in keiner Beziehung ſteht, iſt die Bildnerkunſt in der Weiſe abhängig,
daß in der Darſtellung des organiſch frei beherrſchten Schwerpuncts jene wirk-
2liche Schwere noch mittelbar mitwiegt. Dieſer Reſt von architektoniſch ſtructi-
ver Bedingtheit äußert ſich auch in einer, der Plaſtik noch anhängenden Spal-
tung zwiſchen Erfindung und Ausführung.

1. Der Nachklang der Architektur in der Plaſtik iſt noch weiter zu ver-
folgen; die Schwere des Materials muß zunächſt beſonders ins Auge ge-
faßt werden. In der Baukunſt iſt dieſe Eigenſchaft als ſolche weſentlich;
dieſe Kunſt iſt an ſich ein Kampf mit der Schwere, ſie ſoll innerhalb
ihrer ſelbſt überwunden werden (§. 557), d. h. man ſoll dem aus-
geführten Werke anſehen, daß das Material ſchwer iſt, die Schwere
aber ſtructiv benützt, durch gegenſeitige Spannung der Werkſtücke zu einer
ſowohl zweckmäßigen, als auch rhythmiſch ſchön wirkenden Dienſtleiſtung
ſo gezwungen wurde, daß ſie dem überliſtenden Zwang freiwillig zu fol-
gen ſcheint. Trotz dieſer Ueberliſtung, ja in ihr und durch ſie ſoll aber
die Schwere für das Auge und das in ihm enthaltene Wägen noch in
ganzer Kraft da ſein, darauf ruht ja eben der im engſten Sinn monu-
mentale Charakter dieſer Kunſt. Das Auge fühlt ſich von der bearbeite-
ten Oberfläche mitten in den Kern der Werkſtücke hinein und vergegen-
wärtigt der Phantaſie, wie ſie laſtend aufliegen und doch durch die
Kunſt ihrer Stellung ſchwungvoll zu ſteigen, zu ſchweben ſcheinen. In
der Bildnerkunſt verhält es ſich damit zunächſt völlig anders: es handelt
ſich nur von der Oberfläche, wie ſie die Bearbeitung darſtellt; was hinter
ihr im Innern ſich befindet, geht die äſthetiſche Wirkung gar nichts an.
Gerade an der Bildnerkunſt läßt ſich am beſten zeigen, was unter dem
„reinen Schein“, unter „der Ablöſung der auf der Oberfläche hervortre-
tenden Geſammtwirkung von den ſie bedingenden Theilen der innern Zu-
ſammenſetzung“ (§. 54) verſtanden wird, und von ihr iſt entnommen,
was dort aus Hogarth angeführt iſt: man müſſe das Kunſtwerk ſo be-
trachten, als ob „Alles, was inwendig iſt, ſo rein herausgenommen ſei,
daß nichts übrig bleibt, als eine dünne Schaale, die man ſich aus reinen
Linien gebildet vorſtellen muß und deren innere und äußere Fläche ganz
gleich iſt.“ Der Zuſatz hebt auch den Begriff einer dünnen Schaale
wieder auf; die Form in der Plaſtik iſt vielmehr eigentlich, im Verhältniß
zum Material, ein reines Nichts, eine Negation, eine Null, und gerade
dieß iſt ihre unendliche Poſition. Schon der naturſchöne Körper wird in

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[350/0024] §. 600. Von dem Geſetze der Schwere in ihrem Materiale, deſſen ſtoffartiger Kern mit der Form, welche ihm als geiſtiger Mantel übergeworfen iſt, doch unmit- telbar in keiner Beziehung ſteht, iſt die Bildnerkunſt in der Weiſe abhängig, daß in der Darſtellung des organiſch frei beherrſchten Schwerpuncts jene wirk- liche Schwere noch mittelbar mitwiegt. Dieſer Reſt von architektoniſch ſtructi- ver Bedingtheit äußert ſich auch in einer, der Plaſtik noch anhängenden Spal- tung zwiſchen Erfindung und Ausführung. 1. Der Nachklang der Architektur in der Plaſtik iſt noch weiter zu ver- folgen; die Schwere des Materials muß zunächſt beſonders ins Auge ge- faßt werden. In der Baukunſt iſt dieſe Eigenſchaft als ſolche weſentlich; dieſe Kunſt iſt an ſich ein Kampf mit der Schwere, ſie ſoll innerhalb ihrer ſelbſt überwunden werden (§. 557), d. h. man ſoll dem aus- geführten Werke anſehen, daß das Material ſchwer iſt, die Schwere aber ſtructiv benützt, durch gegenſeitige Spannung der Werkſtücke zu einer ſowohl zweckmäßigen, als auch rhythmiſch ſchön wirkenden Dienſtleiſtung ſo gezwungen wurde, daß ſie dem überliſtenden Zwang freiwillig zu fol- gen ſcheint. Trotz dieſer Ueberliſtung, ja in ihr und durch ſie ſoll aber die Schwere für das Auge und das in ihm enthaltene Wägen noch in ganzer Kraft da ſein, darauf ruht ja eben der im engſten Sinn monu- mentale Charakter dieſer Kunſt. Das Auge fühlt ſich von der bearbeite- ten Oberfläche mitten in den Kern der Werkſtücke hinein und vergegen- wärtigt der Phantaſie, wie ſie laſtend aufliegen und doch durch die Kunſt ihrer Stellung ſchwungvoll zu ſteigen, zu ſchweben ſcheinen. In der Bildnerkunſt verhält es ſich damit zunächſt völlig anders: es handelt ſich nur von der Oberfläche, wie ſie die Bearbeitung darſtellt; was hinter ihr im Innern ſich befindet, geht die äſthetiſche Wirkung gar nichts an. Gerade an der Bildnerkunſt läßt ſich am beſten zeigen, was unter dem „reinen Schein“, unter „der Ablöſung der auf der Oberfläche hervortre- tenden Geſammtwirkung von den ſie bedingenden Theilen der innern Zu- ſammenſetzung“ (§. 54) verſtanden wird, und von ihr iſt entnommen, was dort aus Hogarth angeführt iſt: man müſſe das Kunſtwerk ſo be- trachten, als ob „Alles, was inwendig iſt, ſo rein herausgenommen ſei, daß nichts übrig bleibt, als eine dünne Schaale, die man ſich aus reinen Linien gebildet vorſtellen muß und deren innere und äußere Fläche ganz gleich iſt.“ Der Zuſatz hebt auch den Begriff einer dünnen Schaale wieder auf; die Form in der Plaſtik iſt vielmehr eigentlich, im Verhältniß zum Material, ein reines Nichts, eine Negation, eine Null, und gerade dieß iſt ihre unendliche Poſition. Schon der naturſchöne Körper wird in

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/24>, abgerufen am 28.03.2024.