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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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arithmetischen Ausdrucks der Verhältnisse ist. Für das Mittelalter benützte
man natürlich, was von Geheimlehren der Bauhütten überliefert wird.
Es ist unklar, wie Stieglitz (a. a. O. §. 8) die Grundfiguren in dieser
Deutung als Quelle alles Aesthetischen in der Kunst bezeichnen kann, da
ja nach diesem allegorischen Schema jeder nur Meß- und Zähl-Kundige
einen Tempel entwerfen könnte; man kann aber, wie wir schon zu §. 558
gesehen, das architektonische Kunstwerk nachmessen und nachzählen, ohne
daß man es darum hätte erfinden können. Die Allegorie ruht auf dem
Interesse der Wahrheit, nicht Schönheit, sie ist streng genommen gar
nicht ästhetisch (vgl. §. 444 Anm.). Der näheren Prüfung solcher Aus-
legungen enthebt uns die gründliche Erörterung Schnaases (Gesch. d.
bild. K. Bd. VI, Abth. 1, S. 287 ff.).

2. Die Baukunst stellt nichts dar, was von der Urkraft, von deren
Schaffen sie doch ein Bild geben will, so geschaffen wäre. Es ist das
Bild einer Ahnung, was sie gibt, und wie umfassend, alles Sein zu-
sammengreifend, zugleich die Formen des Völkerlebens spiegelnd diese
Ahnung sein möge, sie ist als solche doch zunächst nur ein Subjectives.
Diese Kunst erscheint so als der Ausdruck einer ersten, nur allge-
meinen künstlerischen Stimmung, die noch nichts Bestimmtes (im eigent-
lichen Sinne individuell geschlossener Gebilde des Lebens) gibt, sondern
sich nur in Verhältnissen niederlegt, die sie einem Stoffe leiht.
Das Subjective fällt also zusammen mit der Allgemeinheit und Abstract-
heit der Baukunst, vgl. §. 553. 558, und dieß scheint zu einer Auf-
fassung zu führen, welche einen ganz andern Gang, als den unsrigen,
begründet. Es ist dieß die von Solger als Eintheilungs-Grund geltend
gemachte Ansicht, die wir zu §. 542 angeführt haben: wie die Poesie
allen übrigen Künsten als Kunst der reinen Thätigkeit der Idee gegen-
übersteht, so wiederholt sich in der Gruppe der letzteren die Nothwendig-
keit, daß das künstlerische Bewußtsein in seiner reinen Allgemeinheit
gegenüber den Kunstformen, welche die Idee in bestimmte, individuelle
Körper einschließen, als eine eigene Kunst-Art hervortrete; als Ausdruck
dieses allgemeinen Bewußtseins stellt sich denn die Baukunst neben die
Plastik, die Musik neben die Malerei. Wir könnten immerhin von der
übrigen Abweichung in der Gesammt-Eintheilung der Künste absehen,
das aber aufzunehmen genöthigt scheinen, daß die Baukunst allen andern
Künsten nicht als die am strengsten objective, sondern vielmehr als die
nur erst subjective, nur erst ahnende und diese Ahnung blos in Ver-
hältnissen
des Stoffes niederlegende Kunstform die Vorhalle zu allen
andern bilde. Allein das Entscheidende ist der Inhalt jener Ahnung:
dieser ist nichts Anderes, als das wirklich objectiv Allgemeinste, allem
Leben zu Grund liegende Bildungsgesetz in seiner ursprünglichsten Form,

arithmetiſchen Ausdrucks der Verhältniſſe iſt. Für das Mittelalter benützte
man natürlich, was von Geheimlehren der Bauhütten überliefert wird.
Es iſt unklar, wie Stieglitz (a. a. O. §. 8) die Grundfiguren in dieſer
Deutung als Quelle alles Aeſthetiſchen in der Kunſt bezeichnen kann, da
ja nach dieſem allegoriſchen Schema jeder nur Meß- und Zähl-Kundige
einen Tempel entwerfen könnte; man kann aber, wie wir ſchon zu §. 558
geſehen, das architektoniſche Kunſtwerk nachmeſſen und nachzählen, ohne
daß man es darum hätte erfinden können. Die Allegorie ruht auf dem
Intereſſe der Wahrheit, nicht Schönheit, ſie iſt ſtreng genommen gar
nicht äſthetiſch (vgl. §. 444 Anm.). Der näheren Prüfung ſolcher Aus-
legungen enthebt uns die gründliche Erörterung Schnaaſes (Geſch. d.
bild. K. Bd. VI, Abth. 1, S. 287 ff.).

2. Die Baukunſt ſtellt nichts dar, was von der Urkraft, von deren
Schaffen ſie doch ein Bild geben will, ſo geſchaffen wäre. Es iſt das
Bild einer Ahnung, was ſie gibt, und wie umfaſſend, alles Sein zu-
ſammengreifend, zugleich die Formen des Völkerlebens ſpiegelnd dieſe
Ahnung ſein möge, ſie iſt als ſolche doch zunächſt nur ein Subjectives.
Dieſe Kunſt erſcheint ſo als der Ausdruck einer erſten, nur allge-
meinen künſtleriſchen Stimmung, die noch nichts Beſtimmtes (im eigent-
lichen Sinne individuell geſchloſſener Gebilde des Lebens) gibt, ſondern
ſich nur in Verhältniſſen niederlegt, die ſie einem Stoffe leiht.
Das Subjective fällt alſo zuſammen mit der Allgemeinheit und Abſtract-
heit der Baukunſt, vgl. §. 553. 558, und dieß ſcheint zu einer Auf-
faſſung zu führen, welche einen ganz andern Gang, als den unſrigen,
begründet. Es iſt dieß die von Solger als Eintheilungs-Grund geltend
gemachte Anſicht, die wir zu §. 542 angeführt haben: wie die Poeſie
allen übrigen Künſten als Kunſt der reinen Thätigkeit der Idee gegen-
überſteht, ſo wiederholt ſich in der Gruppe der letzteren die Nothwendig-
keit, daß das künſtleriſche Bewußtſein in ſeiner reinen Allgemeinheit
gegenüber den Kunſtformen, welche die Idee in beſtimmte, individuelle
Körper einſchließen, als eine eigene Kunſt-Art hervortrete; als Ausdruck
dieſes allgemeinen Bewußtſeins ſtellt ſich denn die Baukunſt neben die
Plaſtik, die Muſik neben die Malerei. Wir könnten immerhin von der
übrigen Abweichung in der Geſammt-Eintheilung der Künſte abſehen,
das aber aufzunehmen genöthigt ſcheinen, daß die Baukunſt allen andern
Künſten nicht als die am ſtrengſten objective, ſondern vielmehr als die
nur erſt ſubjective, nur erſt ahnende und dieſe Ahnung blos in Ver-
hältniſſen
des Stoffes niederlegende Kunſtform die Vorhalle zu allen
andern bilde. Allein das Entſcheidende iſt der Inhalt jener Ahnung:
dieſer iſt nichts Anderes, als das wirklich objectiv Allgemeinſte, allem
Leben zu Grund liegende Bildungsgeſetz in ſeiner urſprünglichſten Form,

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[206/0046] arithmetiſchen Ausdrucks der Verhältniſſe iſt. Für das Mittelalter benützte man natürlich, was von Geheimlehren der Bauhütten überliefert wird. Es iſt unklar, wie Stieglitz (a. a. O. §. 8) die Grundfiguren in dieſer Deutung als Quelle alles Aeſthetiſchen in der Kunſt bezeichnen kann, da ja nach dieſem allegoriſchen Schema jeder nur Meß- und Zähl-Kundige einen Tempel entwerfen könnte; man kann aber, wie wir ſchon zu §. 558 geſehen, das architektoniſche Kunſtwerk nachmeſſen und nachzählen, ohne daß man es darum hätte erfinden können. Die Allegorie ruht auf dem Intereſſe der Wahrheit, nicht Schönheit, ſie iſt ſtreng genommen gar nicht äſthetiſch (vgl. §. 444 Anm.). Der näheren Prüfung ſolcher Aus- legungen enthebt uns die gründliche Erörterung Schnaaſes (Geſch. d. bild. K. Bd. VI, Abth. 1, S. 287 ff.). 2. Die Baukunſt ſtellt nichts dar, was von der Urkraft, von deren Schaffen ſie doch ein Bild geben will, ſo geſchaffen wäre. Es iſt das Bild einer Ahnung, was ſie gibt, und wie umfaſſend, alles Sein zu- ſammengreifend, zugleich die Formen des Völkerlebens ſpiegelnd dieſe Ahnung ſein möge, ſie iſt als ſolche doch zunächſt nur ein Subjectives. Dieſe Kunſt erſcheint ſo als der Ausdruck einer erſten, nur allge- meinen künſtleriſchen Stimmung, die noch nichts Beſtimmtes (im eigent- lichen Sinne individuell geſchloſſener Gebilde des Lebens) gibt, ſondern ſich nur in Verhältniſſen niederlegt, die ſie einem Stoffe leiht. Das Subjective fällt alſo zuſammen mit der Allgemeinheit und Abſtract- heit der Baukunſt, vgl. §. 553. 558, und dieß ſcheint zu einer Auf- faſſung zu führen, welche einen ganz andern Gang, als den unſrigen, begründet. Es iſt dieß die von Solger als Eintheilungs-Grund geltend gemachte Anſicht, die wir zu §. 542 angeführt haben: wie die Poeſie allen übrigen Künſten als Kunſt der reinen Thätigkeit der Idee gegen- überſteht, ſo wiederholt ſich in der Gruppe der letzteren die Nothwendig- keit, daß das künſtleriſche Bewußtſein in ſeiner reinen Allgemeinheit gegenüber den Kunſtformen, welche die Idee in beſtimmte, individuelle Körper einſchließen, als eine eigene Kunſt-Art hervortrete; als Ausdruck dieſes allgemeinen Bewußtſeins ſtellt ſich denn die Baukunſt neben die Plaſtik, die Muſik neben die Malerei. Wir könnten immerhin von der übrigen Abweichung in der Geſammt-Eintheilung der Künſte abſehen, das aber aufzunehmen genöthigt ſcheinen, daß die Baukunſt allen andern Künſten nicht als die am ſtrengſten objective, ſondern vielmehr als die nur erſt ſubjective, nur erſt ahnende und dieſe Ahnung blos in Ver- hältniſſen des Stoffes niederlegende Kunſtform die Vorhalle zu allen andern bilde. Allein das Entſcheidende iſt der Inhalt jener Ahnung: dieſer iſt nichts Anderes, als das wirklich objectiv Allgemeinſte, allem Leben zu Grund liegende Bildungsgeſetz in ſeiner urſprünglichſten Form,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/46>, abgerufen am 19.04.2024.