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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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dieser Kunst zusammenfällt, steht mit dem Grundcharakter der strengen Objectivität
nicht im Widerspruch.

1. Nun erst, am Schlusse dieser allgemeinen Darstellung des Wesens
der Baukunst, gehen wir an die erste der zu §. 557, 1. aufgestellten Fragen:
was drückt die Baukunst aus? Der §. beantwortet diese Frage zunächst
dahin, daß sie nur ein Unbestimmtes, Allgemeines, Geahntes ausdrücken
könne, und bestimmt daher das Verhältniß zwischen dem Inhalt und der
architektonischen Formenwelt, soweit wir sie nun kennen gelernt haben,
als ein blos andeutendes, symbolisches. Symbolisch ist alle Baukunst,
nicht blos die im engeren Sinn so zu nennende, deren Einführung in der
Anm. zu §. 554 in das Geschichtliche verwiesen worden ist. Die nicht
mehr im engeren Sinn symbolische Baukunst ist die dienende §. 555, 1.
Diese hat nun zwar ihre Bedeutung, das Wort ihres Räthsels, in der
Bestimmung des innern Raums gefunden, den sie umschließt: der Gott,
sein Bild im Marmor oder im Bewußtsein der andächtigen Gemeinde, ist
das Wort dieses Räthsels; die wahre Baukunst will nicht für sich sprechen.
Allein sie will doch den Geist des ihr Inneres erfüllenden Wesens eben
in ihren Formen auch verkündigen. Sie will sich zu ihm nicht verhalten
wie der Leib eines Individuums zu seinem Geiste, die reife Baukunst
weiß, daß sie das nicht vermag; aber sie will sich zu ihm verhalten wie
das Kleid zu dem Leibe des Geistes, man soll dieser Hülle ansehen, daß
es ein Tempel, eine Grabstätte des Hingegangenen u. s. w. ist, was der
Anschauende vor sich sieht. In diesem Sinne muß sie doch auch für sich
auf ihre Weise sprechend sein, wie die Rüstung, das Gewand eines
Helden, das seine wahre Bedeutung nur hat, so lang er es trägt, doch
auch als abgelegte Hülle sein Bild hervorruft. Diese Sprache kann freilich
ebenso nur eine sehr unvollständige sein, wie dieses Gewand uns nur ein
unbestimmtes Bild seines abwesenden Trägers gibt; sie wird vom Con-
creten, das die Natur, das bestimmte Bewußtsein der andächtigen Ge-
meinde von ihrem Gott hinzubringt, nur das Allgemeine, einen gewissen
Ton, das Stimmungs-Element ablösen und für sich herausnehmen, um
es zum Ausdruck zu bringen. Man unterscheide also zwei Beziehungen.
Nach der einen braucht die Baukunst für sich nichts zu sagen, sie findet
ihre Ergänzung in dem concreten Kerne, der ihren Raum, ihr Inneres
einnimmt, dem Gotte: dieser spricht für sie und sie verhält sich zu ihm
nur hinüberdeutend, andeutend. Aber ebendieß Andeuten ist doch ganz ihr
eigenes Geschäft, das ihr Niemand abnehmen kann. Wenn wir nach
dieser zweiten Beziehung von ihr aussagen, sie müsse doch auch für sich
sprechend sein, so ist der Begriff des Sprechens allerdings in ganz weitem
Sinne zu nehmen. Alle bildende Kunst ist nur uneigentlich sprechend

dieſer Kunſt zuſammenfällt, ſteht mit dem Grundcharakter der ſtrengen Objectivität
nicht im Widerſpruch.

1. Nun erſt, am Schluſſe dieſer allgemeinen Darſtellung des Weſens
der Baukunſt, gehen wir an die erſte der zu §. 557, 1. aufgeſtellten Fragen:
was drückt die Baukunſt aus? Der §. beantwortet dieſe Frage zunächſt
dahin, daß ſie nur ein Unbeſtimmtes, Allgemeines, Geahntes ausdrücken
könne, und beſtimmt daher das Verhältniß zwiſchen dem Inhalt und der
architektoniſchen Formenwelt, ſoweit wir ſie nun kennen gelernt haben,
als ein blos andeutendes, ſymboliſches. Symboliſch iſt alle Baukunſt,
nicht blos die im engeren Sinn ſo zu nennende, deren Einführung in der
Anm. zu §. 554 in das Geſchichtliche verwieſen worden iſt. Die nicht
mehr im engeren Sinn ſymboliſche Baukunſt iſt die dienende §. 555, 1.
Dieſe hat nun zwar ihre Bedeutung, das Wort ihres Räthſels, in der
Beſtimmung des innern Raums gefunden, den ſie umſchließt: der Gott,
ſein Bild im Marmor oder im Bewußtſein der andächtigen Gemeinde, iſt
das Wort dieſes Räthſels; die wahre Baukunſt will nicht für ſich ſprechen.
Allein ſie will doch den Geiſt des ihr Inneres erfüllenden Weſens eben
in ihren Formen auch verkündigen. Sie will ſich zu ihm nicht verhalten
wie der Leib eines Individuums zu ſeinem Geiſte, die reife Baukunſt
weiß, daß ſie das nicht vermag; aber ſie will ſich zu ihm verhalten wie
das Kleid zu dem Leibe des Geiſtes, man ſoll dieſer Hülle anſehen, daß
es ein Tempel, eine Grabſtätte des Hingegangenen u. ſ. w. iſt, was der
Anſchauende vor ſich ſieht. In dieſem Sinne muß ſie doch auch für ſich
auf ihre Weiſe ſprechend ſein, wie die Rüſtung, das Gewand eines
Helden, das ſeine wahre Bedeutung nur hat, ſo lang er es trägt, doch
auch als abgelegte Hülle ſein Bild hervorruft. Dieſe Sprache kann freilich
ebenſo nur eine ſehr unvollſtändige ſein, wie dieſes Gewand uns nur ein
unbeſtimmtes Bild ſeines abweſenden Trägers gibt; ſie wird vom Con-
creten, das die Natur, das beſtimmte Bewußtſein der andächtigen Ge-
meinde von ihrem Gott hinzubringt, nur das Allgemeine, einen gewiſſen
Ton, das Stimmungs-Element ablöſen und für ſich herausnehmen, um
es zum Ausdruck zu bringen. Man unterſcheide alſo zwei Beziehungen.
Nach der einen braucht die Baukunſt für ſich nichts zu ſagen, ſie findet
ihre Ergänzung in dem concreten Kerne, der ihren Raum, ihr Inneres
einnimmt, dem Gotte: dieſer ſpricht für ſie und ſie verhält ſich zu ihm
nur hinüberdeutend, andeutend. Aber ebendieß Andeuten iſt doch ganz ihr
eigenes Geſchäft, das ihr Niemand abnehmen kann. Wenn wir nach
dieſer zweiten Beziehung von ihr ausſagen, ſie müſſe doch auch für ſich
ſprechend ſein, ſo iſt der Begriff des Sprechens allerdings in ganz weitem
Sinne zu nehmen. Alle bildende Kunſt iſt nur uneigentlich ſprechend

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[202/0042] dieſer Kunſt zuſammenfällt, ſteht mit dem Grundcharakter der ſtrengen Objectivität nicht im Widerſpruch. 1. Nun erſt, am Schluſſe dieſer allgemeinen Darſtellung des Weſens der Baukunſt, gehen wir an die erſte der zu §. 557, 1. aufgeſtellten Fragen: was drückt die Baukunſt aus? Der §. beantwortet dieſe Frage zunächſt dahin, daß ſie nur ein Unbeſtimmtes, Allgemeines, Geahntes ausdrücken könne, und beſtimmt daher das Verhältniß zwiſchen dem Inhalt und der architektoniſchen Formenwelt, ſoweit wir ſie nun kennen gelernt haben, als ein blos andeutendes, ſymboliſches. Symboliſch iſt alle Baukunſt, nicht blos die im engeren Sinn ſo zu nennende, deren Einführung in der Anm. zu §. 554 in das Geſchichtliche verwieſen worden iſt. Die nicht mehr im engeren Sinn ſymboliſche Baukunſt iſt die dienende §. 555, 1. Dieſe hat nun zwar ihre Bedeutung, das Wort ihres Räthſels, in der Beſtimmung des innern Raums gefunden, den ſie umſchließt: der Gott, ſein Bild im Marmor oder im Bewußtſein der andächtigen Gemeinde, iſt das Wort dieſes Räthſels; die wahre Baukunſt will nicht für ſich ſprechen. Allein ſie will doch den Geiſt des ihr Inneres erfüllenden Weſens eben in ihren Formen auch verkündigen. Sie will ſich zu ihm nicht verhalten wie der Leib eines Individuums zu ſeinem Geiſte, die reife Baukunſt weiß, daß ſie das nicht vermag; aber ſie will ſich zu ihm verhalten wie das Kleid zu dem Leibe des Geiſtes, man ſoll dieſer Hülle anſehen, daß es ein Tempel, eine Grabſtätte des Hingegangenen u. ſ. w. iſt, was der Anſchauende vor ſich ſieht. In dieſem Sinne muß ſie doch auch für ſich auf ihre Weiſe ſprechend ſein, wie die Rüſtung, das Gewand eines Helden, das ſeine wahre Bedeutung nur hat, ſo lang er es trägt, doch auch als abgelegte Hülle ſein Bild hervorruft. Dieſe Sprache kann freilich ebenſo nur eine ſehr unvollſtändige ſein, wie dieſes Gewand uns nur ein unbeſtimmtes Bild ſeines abweſenden Trägers gibt; ſie wird vom Con- creten, das die Natur, das beſtimmte Bewußtſein der andächtigen Ge- meinde von ihrem Gott hinzubringt, nur das Allgemeine, einen gewiſſen Ton, das Stimmungs-Element ablöſen und für ſich herausnehmen, um es zum Ausdruck zu bringen. Man unterſcheide alſo zwei Beziehungen. Nach der einen braucht die Baukunſt für ſich nichts zu ſagen, ſie findet ihre Ergänzung in dem concreten Kerne, der ihren Raum, ihr Inneres einnimmt, dem Gotte: dieſer ſpricht für ſie und ſie verhält ſich zu ihm nur hinüberdeutend, andeutend. Aber ebendieß Andeuten iſt doch ganz ihr eigenes Geſchäft, das ihr Niemand abnehmen kann. Wenn wir nach dieſer zweiten Beziehung von ihr ausſagen, ſie müſſe doch auch für ſich ſprechend ſein, ſo iſt der Begriff des Sprechens allerdings in ganz weitem Sinne zu nehmen. Alle bildende Kunſt iſt nur uneigentlich ſprechend

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/42>, abgerufen am 19.04.2024.