Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

von Formen und Maaßen die Rede ist, sondern die nur sich selbst gleiche
Individualität im Geiste des Künstler-Individuums waltet, das nach
einem innern Bilde, welches vor aller ausdrücklichen Messung vollendet
vor seinem innern Auge steht, jedem schönen Bauwerk seine nur ihm
eigenen Verhältnisse gibt, und daß daher der fertige Plan, das ausge-
führte Gebäude zwar meßbar und durch Messung nachahm-
lich ist, aber von dem blos Meßkundigen nimmermehr er-
funden wäre.
Da nun die Baukunst in diesem Sinne das Reich der Linie
einheitlich herausbildet, so leuchtet ihre tiefe Verwandtschaft mit der Krystall-
bildung, der ersten Individuen-gestaltenden Thätigkeit in der Natur (§. 265)
ein, wobei zunächst nicht an die engere Verwandtschaft des gothischen
Styls mit derselben, sondern ganz allgemein an die Analogie der Flächen-
zusammenstellenden Thätigkeit in diesem Wirken des menschlichen Geistes
und in jenem Weben der Natur zu denken ist. Nicht ein Nachahmen ist es,
die Formen sind ja in der Baukunst entschieden mannigfaltigere und bei
aller Symetrie nicht einfach dem bloßen Gesetze der Anordnung von Flächen
um eine Achse unterworfen, aber es ist der verwandte Prozeß, der auf
höherer Stufe wiederkehrt: hier wie dort ein erstes Gerinnen aus dem
Unbestimmten zum Bestimmten; wie das verborgene Erdleben zuerst im
Krystall um einen Mittelpunct anschießend sich sammelt zur Einzelbildung,
so concentrirt sich das Leben der Phantasie aus dem unbestimmten Dunkel
seiner gestaltlosen Stimmung in der Baukunst zur ersten, noch abstracten
Gestalt; es ist wie eine dunkle Reminiscenz an den nächtlichen Schacht
der Natur, worin jenes Aehnliche sich begibt. Nun bleibt aber das geo-
metrische Gesetz, wie es im Krystalle zuerst aufgetreten, die abstracte
Grundlage auch der organischen Bildungen: es liegt der Pflanzengestaltung
in ihren Zellen, Kapseln, es liegt ihrer ganzen Form als Kreistheilungs-
gesetz zu Grunde; reicher und mehrfach verschlungen dem thierisch (und
menschlich) organischen Leibe in den Grundbestandtheilen seines Baus, im
Skelett, in den unendlichen Uebergängen von Kreissegmenten, aus denen
seine ganze Gestalt besteht. "Der Zusammenhang des Baustyles mit
Naturbildungen beruht auf der gemeinschaftlichen Wurzel beider in der
Geometrie" (Hoffstadt Goth. ABC-Buch X). In einzelnen Structur-
theilen tritt nun das Vorschweben der Pflanzenbildung bestimmter hervor
(Säule, Gewölbe-Rippen) und das Ausblühen in die eigentliche Nach-
bildung der Pflanze in den decorativen Theilen ist daher nichts Willkühr-
liches, sondern nur der an's Licht tretende deutliche Ausdruck dieses dunkeln
Zusammenhangs; da aber das Geometrische auch dem thierisch (und
menschlich) organischen Leibe zu Grunde liegt, so ruft das Bauwerk
unwillkührlich auch dessen Gliederbau vor das Bewußtsein: es ist ganz
natürlich, daß man von Sohle, Fuß, Hals, Rumpf, Arm, Flügel, Haupt

von Formen und Maaßen die Rede iſt, ſondern die nur ſich ſelbſt gleiche
Individualität im Geiſte des Künſtler-Individuums waltet, das nach
einem innern Bilde, welches vor aller ausdrücklichen Meſſung vollendet
vor ſeinem innern Auge ſteht, jedem ſchönen Bauwerk ſeine nur ihm
eigenen Verhältniſſe gibt, und daß daher der fertige Plan, das ausge-
führte Gebäude zwar meßbar und durch Meſſung nachahm-
lich iſt, aber von dem blos Meßkundigen nimmermehr er-
funden wäre.
Da nun die Baukunſt in dieſem Sinne das Reich der Linie
einheitlich herausbildet, ſo leuchtet ihre tiefe Verwandtſchaft mit der Kryſtall-
bildung, der erſten Individuen-geſtaltenden Thätigkeit in der Natur (§. 265)
ein, wobei zunächſt nicht an die engere Verwandtſchaft des gothiſchen
Styls mit derſelben, ſondern ganz allgemein an die Analogie der Flächen-
zuſammenſtellenden Thätigkeit in dieſem Wirken des menſchlichen Geiſtes
und in jenem Weben der Natur zu denken iſt. Nicht ein Nachahmen iſt es,
die Formen ſind ja in der Baukunſt entſchieden mannigfaltigere und bei
aller Symetrie nicht einfach dem bloßen Geſetze der Anordnung von Flächen
um eine Achſe unterworfen, aber es iſt der verwandte Prozeß, der auf
höherer Stufe wiederkehrt: hier wie dort ein erſtes Gerinnen aus dem
Unbeſtimmten zum Beſtimmten; wie das verborgene Erdleben zuerſt im
Kryſtall um einen Mittelpunct anſchießend ſich ſammelt zur Einzelbildung,
ſo concentrirt ſich das Leben der Phantaſie aus dem unbeſtimmten Dunkel
ſeiner geſtaltloſen Stimmung in der Baukunſt zur erſten, noch abſtracten
Geſtalt; es iſt wie eine dunkle Reminiſcenz an den nächtlichen Schacht
der Natur, worin jenes Aehnliche ſich begibt. Nun bleibt aber das geo-
metriſche Geſetz, wie es im Kryſtalle zuerſt aufgetreten, die abſtracte
Grundlage auch der organiſchen Bildungen: es liegt der Pflanzengeſtaltung
in ihren Zellen, Kapſeln, es liegt ihrer ganzen Form als Kreistheilungs-
geſetz zu Grunde; reicher und mehrfach verſchlungen dem thieriſch (und
menſchlich) organiſchen Leibe in den Grundbeſtandtheilen ſeines Baus, im
Skelett, in den unendlichen Uebergängen von Kreisſegmenten, aus denen
ſeine ganze Geſtalt beſteht. „Der Zuſammenhang des Bauſtyles mit
Naturbildungen beruht auf der gemeinſchaftlichen Wurzel beider in der
Geometrie“ (Hoffſtadt Goth. ABC-Buch X). In einzelnen Structur-
theilen tritt nun das Vorſchweben der Pflanzenbildung beſtimmter hervor
(Säule, Gewölbe-Rippen) und das Ausblühen in die eigentliche Nach-
bildung der Pflanze in den decorativen Theilen iſt daher nichts Willkühr-
liches, ſondern nur der an’s Licht tretende deutliche Ausdruck dieſes dunkeln
Zuſammenhangs; da aber das Geometriſche auch dem thieriſch (und
menſchlich) organiſchen Leibe zu Grunde liegt, ſo ruft das Bauwerk
unwillkührlich auch deſſen Gliederbau vor das Bewußtſein: es iſt ganz
natürlich, daß man von Sohle, Fuß, Hals, Rumpf, Arm, Flügel, Haupt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0035" n="195"/>
von Formen und Maaßen die Rede i&#x017F;t, &#x017F;ondern die nur &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t gleiche<lb/>
Individualität im Gei&#x017F;te des Kün&#x017F;tler-Individuums waltet, das nach<lb/>
einem innern Bilde, welches vor aller ausdrücklichen Me&#x017F;&#x017F;ung vollendet<lb/>
vor &#x017F;einem innern Auge &#x017F;teht, jedem &#x017F;chönen Bauwerk &#x017F;eine nur ihm<lb/>
eigenen Verhältni&#x017F;&#x017F;e gibt, und daß daher <hi rendition="#g">der fertige Plan, das ausge-<lb/>
führte Gebäude zwar meßbar und durch Me&#x017F;&#x017F;ung nachahm-<lb/>
lich i&#x017F;t, aber von dem blos Meßkundigen nimmermehr er-<lb/>
funden wäre.</hi> Da nun die Baukun&#x017F;t in die&#x017F;em Sinne das Reich der Linie<lb/>
einheitlich herausbildet, &#x017F;o leuchtet ihre tiefe Verwandt&#x017F;chaft mit der Kry&#x017F;tall-<lb/>
bildung, der er&#x017F;ten Individuen-ge&#x017F;taltenden Thätigkeit in der Natur (§. 265)<lb/>
ein, wobei zunäch&#x017F;t nicht an die engere Verwandt&#x017F;chaft des gothi&#x017F;chen<lb/>
Styls mit der&#x017F;elben, &#x017F;ondern ganz allgemein an die Analogie der Flächen-<lb/>
zu&#x017F;ammen&#x017F;tellenden Thätigkeit in die&#x017F;em Wirken des men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes<lb/>
und in jenem Weben der Natur zu denken i&#x017F;t. Nicht ein Nachahmen i&#x017F;t es,<lb/>
die Formen &#x017F;ind ja in der Baukun&#x017F;t ent&#x017F;chieden mannigfaltigere und bei<lb/>
aller Symetrie nicht einfach dem bloßen Ge&#x017F;etze der Anordnung von Flächen<lb/>
um eine Ach&#x017F;e unterworfen, aber es i&#x017F;t der verwandte Prozeß, der auf<lb/>
höherer Stufe wiederkehrt: hier wie dort ein er&#x017F;tes Gerinnen aus dem<lb/>
Unbe&#x017F;timmten zum Be&#x017F;timmten; wie das verborgene Erdleben zuer&#x017F;t im<lb/>
Kry&#x017F;tall um einen Mittelpunct an&#x017F;chießend &#x017F;ich &#x017F;ammelt zur Einzelbildung,<lb/>
&#x017F;o concentrirt &#x017F;ich das Leben der Phanta&#x017F;ie aus dem unbe&#x017F;timmten Dunkel<lb/>
&#x017F;einer ge&#x017F;taltlo&#x017F;en Stimmung in der Baukun&#x017F;t zur er&#x017F;ten, noch ab&#x017F;tracten<lb/>
Ge&#x017F;talt; es i&#x017F;t wie eine dunkle Remini&#x017F;cenz an den nächtlichen Schacht<lb/>
der Natur, worin jenes Aehnliche &#x017F;ich begibt. Nun bleibt aber das geo-<lb/>
metri&#x017F;che Ge&#x017F;etz, wie es im Kry&#x017F;talle zuer&#x017F;t aufgetreten, die ab&#x017F;tracte<lb/>
Grundlage auch der organi&#x017F;chen Bildungen: es liegt der Pflanzenge&#x017F;taltung<lb/>
in ihren Zellen, Kap&#x017F;eln, es liegt ihrer ganzen Form als Kreistheilungs-<lb/>
ge&#x017F;etz zu Grunde; reicher und mehrfach ver&#x017F;chlungen dem thieri&#x017F;ch (und<lb/>
men&#x017F;chlich) organi&#x017F;chen Leibe in den Grundbe&#x017F;tandtheilen &#x017F;eines Baus, im<lb/>
Skelett, in den unendlichen Uebergängen von Kreis&#x017F;egmenten, aus denen<lb/>
&#x017F;eine ganze Ge&#x017F;talt be&#x017F;teht. &#x201E;Der Zu&#x017F;ammenhang des Bau&#x017F;tyles mit<lb/>
Naturbildungen beruht auf der gemein&#x017F;chaftlichen Wurzel beider in der<lb/>
Geometrie&#x201C; (<hi rendition="#g">Hoff&#x017F;tadt</hi> Goth. ABC-Buch <hi rendition="#aq">X</hi>). In einzelnen Structur-<lb/>
theilen tritt nun das Vor&#x017F;chweben der Pflanzenbildung be&#x017F;timmter hervor<lb/>
(Säule, Gewölbe-Rippen) und das Ausblühen in die eigentliche Nach-<lb/>
bildung der Pflanze in den decorativen Theilen i&#x017F;t daher nichts Willkühr-<lb/>
liches, &#x017F;ondern nur der an&#x2019;s Licht tretende deutliche Ausdruck die&#x017F;es dunkeln<lb/>
Zu&#x017F;ammenhangs; da aber das Geometri&#x017F;che auch dem thieri&#x017F;ch (und<lb/>
men&#x017F;chlich) organi&#x017F;chen Leibe zu Grunde liegt, &#x017F;o ruft das Bauwerk<lb/>
unwillkührlich auch de&#x017F;&#x017F;en Gliederbau vor das Bewußt&#x017F;ein: es i&#x017F;t ganz<lb/>
natürlich, daß man von Sohle, Fuß, Hals, Rumpf, Arm, Flügel, Haupt<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0035] von Formen und Maaßen die Rede iſt, ſondern die nur ſich ſelbſt gleiche Individualität im Geiſte des Künſtler-Individuums waltet, das nach einem innern Bilde, welches vor aller ausdrücklichen Meſſung vollendet vor ſeinem innern Auge ſteht, jedem ſchönen Bauwerk ſeine nur ihm eigenen Verhältniſſe gibt, und daß daher der fertige Plan, das ausge- führte Gebäude zwar meßbar und durch Meſſung nachahm- lich iſt, aber von dem blos Meßkundigen nimmermehr er- funden wäre. Da nun die Baukunſt in dieſem Sinne das Reich der Linie einheitlich herausbildet, ſo leuchtet ihre tiefe Verwandtſchaft mit der Kryſtall- bildung, der erſten Individuen-geſtaltenden Thätigkeit in der Natur (§. 265) ein, wobei zunächſt nicht an die engere Verwandtſchaft des gothiſchen Styls mit derſelben, ſondern ganz allgemein an die Analogie der Flächen- zuſammenſtellenden Thätigkeit in dieſem Wirken des menſchlichen Geiſtes und in jenem Weben der Natur zu denken iſt. Nicht ein Nachahmen iſt es, die Formen ſind ja in der Baukunſt entſchieden mannigfaltigere und bei aller Symetrie nicht einfach dem bloßen Geſetze der Anordnung von Flächen um eine Achſe unterworfen, aber es iſt der verwandte Prozeß, der auf höherer Stufe wiederkehrt: hier wie dort ein erſtes Gerinnen aus dem Unbeſtimmten zum Beſtimmten; wie das verborgene Erdleben zuerſt im Kryſtall um einen Mittelpunct anſchießend ſich ſammelt zur Einzelbildung, ſo concentrirt ſich das Leben der Phantaſie aus dem unbeſtimmten Dunkel ſeiner geſtaltloſen Stimmung in der Baukunſt zur erſten, noch abſtracten Geſtalt; es iſt wie eine dunkle Reminiſcenz an den nächtlichen Schacht der Natur, worin jenes Aehnliche ſich begibt. Nun bleibt aber das geo- metriſche Geſetz, wie es im Kryſtalle zuerſt aufgetreten, die abſtracte Grundlage auch der organiſchen Bildungen: es liegt der Pflanzengeſtaltung in ihren Zellen, Kapſeln, es liegt ihrer ganzen Form als Kreistheilungs- geſetz zu Grunde; reicher und mehrfach verſchlungen dem thieriſch (und menſchlich) organiſchen Leibe in den Grundbeſtandtheilen ſeines Baus, im Skelett, in den unendlichen Uebergängen von Kreisſegmenten, aus denen ſeine ganze Geſtalt beſteht. „Der Zuſammenhang des Bauſtyles mit Naturbildungen beruht auf der gemeinſchaftlichen Wurzel beider in der Geometrie“ (Hoffſtadt Goth. ABC-Buch X). In einzelnen Structur- theilen tritt nun das Vorſchweben der Pflanzenbildung beſtimmter hervor (Säule, Gewölbe-Rippen) und das Ausblühen in die eigentliche Nach- bildung der Pflanze in den decorativen Theilen iſt daher nichts Willkühr- liches, ſondern nur der an’s Licht tretende deutliche Ausdruck dieſes dunkeln Zuſammenhangs; da aber das Geometriſche auch dem thieriſch (und menſchlich) organiſchen Leibe zu Grunde liegt, ſo ruft das Bauwerk unwillkührlich auch deſſen Gliederbau vor das Bewußtſein: es iſt ganz natürlich, daß man von Sohle, Fuß, Hals, Rumpf, Arm, Flügel, Haupt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/35
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/35>, abgerufen am 19.04.2024.