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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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andern Künsten. Allein es muß auch eine unbestimmtere Form der Nach-
ahmung geben, wo dem Künstler ein nicht Individualisirtes in der Natur,
das in gewissem Sinn von ihm erst individualisirt werden soll, dunkel
vorschwebt. Ein solches ist dem Baukünstler das Erdreich. Betrachten
wir dieses, so bieten die Gestaltungen der Flächen, der Berge, Felsen,
Höhlen eine Welt von ästhetischen Reizen dar, worin neben Farbe,
Schmuck der Vegetation, Bewegung der Luft die Linien der Oberfläche
an sich eine Hauptrolle spielen, wie denn auf die bestimmten ästhetischen
Wirkungen der senkrechten, der wagrechten, der Bogenlinien, nachdem sie
schon in §. 91 berührt, dann bei den Erscheinungen des Wassers §. 257
besprochen sind, in den von der Schönheit des Erdreichs handelnden
§§. 260 ff. mehrfach hingewiesen wird. Diese Linien sind zugleich der
Ausdruck allgemeiner reiner Verhältnisse des Schweren in seinen Wechsel-
wirkungen, des Auflagerns, Stützens, Ueberspannens, und daher liegt
in dem Reize der Linien auch eine gewisse Genugthuung für ein unbe-
wußtes inneres Nachwägen eingeschlossen. Nun haben wir Th. I, S. 105
bereits auf eine ahnungsreiche Symbolik der reinen Linie hingedeutet und
S. 108 auch die Baukunst in diesem Zusammenhange schon erwähnt.
Was es sei, worauf diese Symbolik der Linie weist, davon ist nachher zu
reden; die Wahrheit einer tieferen Bedeutung vorausgesetzt, haben wir die
Aufgabe der Baukunst jetzt so zu fassen: in der unorganischen Natur zieht
sich überall das Reich der Linien als Umriß der Massen in ihren statischen
Verhältnissen durch, aber so, daß sie nirgends in ihrer Reinheit eingehalten
sind, sondern in das Unbestimmte und Verworrene ausbiegen. Die Regel
schimmert so zu sagen nur durch, das sinnige Auge des (wägend und)
messend Sehenden schaut sie hinein oder, wie man will, heraus, indem
ihm das chaotisch Massenhafte wie zur durchsichtigen Hülle wird, hinter
der die reinen Flächen, Winkel, Kreisausschnitte u. s. w. gezogen sind.
In solcher Weise ist nun eben das Auge der Baukunst thätig, sie arbeitet
aus dieser Umhüllung das Reich der reinen Verhältnisse und Linien her-
aus und nöthigt dieselbe Natur, durch welche dieses Reich nur als ein
zerworfenes und verworrenes sich hindurchzieht, es in geordneter Messung
und Fügung der Masse zur Darstellung zu bringen. In diesem Sinn ist
denn die Baukunst Idealisirung der unorganischen Natur. Davon hat
man den unmittelbaren Eindruck, wenn man mitten zwischen rauhen Massen
einem edeln Bauwerke, ja nur Trümmern desselben begegnet: "Spuren
ordnender Menschenhand zwischen dem Gesträuch -- diese Steine hast du
nicht gefügt, reich hinstreuende Natur" (u. s. w. Göthe's Gedicht: der
Wanderer); man fühlt durchaus, daß hier etwas, wozu die unbewußte
Natur den Anlauf genommen, was sie aber wie in Zerstreutheit wieder
der Unordnung überlassen, durch die Spannkraft des bewußten Geistes

andern Künſten. Allein es muß auch eine unbeſtimmtere Form der Nach-
ahmung geben, wo dem Künſtler ein nicht Individualiſirtes in der Natur,
das in gewiſſem Sinn von ihm erſt individualiſirt werden ſoll, dunkel
vorſchwebt. Ein ſolches iſt dem Baukünſtler das Erdreich. Betrachten
wir dieſes, ſo bieten die Geſtaltungen der Flächen, der Berge, Felſen,
Höhlen eine Welt von äſthetiſchen Reizen dar, worin neben Farbe,
Schmuck der Vegetation, Bewegung der Luft die Linien der Oberfläche
an ſich eine Hauptrolle ſpielen, wie denn auf die beſtimmten äſthetiſchen
Wirkungen der ſenkrechten, der wagrechten, der Bogenlinien, nachdem ſie
ſchon in §. 91 berührt, dann bei den Erſcheinungen des Waſſers §. 257
beſprochen ſind, in den von der Schönheit des Erdreichs handelnden
§§. 260 ff. mehrfach hingewieſen wird. Dieſe Linien ſind zugleich der
Ausdruck allgemeiner reiner Verhältniſſe des Schweren in ſeinen Wechſel-
wirkungen, des Auflagerns, Stützens, Ueberſpannens, und daher liegt
in dem Reize der Linien auch eine gewiſſe Genugthuung für ein unbe-
wußtes inneres Nachwägen eingeſchloſſen. Nun haben wir Th. I, S. 105
bereits auf eine ahnungsreiche Symbolik der reinen Linie hingedeutet und
S. 108 auch die Baukunſt in dieſem Zuſammenhange ſchon erwähnt.
Was es ſei, worauf dieſe Symbolik der Linie weist, davon iſt nachher zu
reden; die Wahrheit einer tieferen Bedeutung vorausgeſetzt, haben wir die
Aufgabe der Baukunſt jetzt ſo zu faſſen: in der unorganiſchen Natur zieht
ſich überall das Reich der Linien als Umriß der Maſſen in ihren ſtatiſchen
Verhältniſſen durch, aber ſo, daß ſie nirgends in ihrer Reinheit eingehalten
ſind, ſondern in das Unbeſtimmte und Verworrene ausbiegen. Die Regel
ſchimmert ſo zu ſagen nur durch, das ſinnige Auge des (wägend und)
meſſend Sehenden ſchaut ſie hinein oder, wie man will, heraus, indem
ihm das chaotiſch Maſſenhafte wie zur durchſichtigen Hülle wird, hinter
der die reinen Flächen, Winkel, Kreisausſchnitte u. ſ. w. gezogen ſind.
In ſolcher Weiſe iſt nun eben das Auge der Baukunſt thätig, ſie arbeitet
aus dieſer Umhüllung das Reich der reinen Verhältniſſe und Linien her-
aus und nöthigt dieſelbe Natur, durch welche dieſes Reich nur als ein
zerworfenes und verworrenes ſich hindurchzieht, es in geordneter Meſſung
und Fügung der Maſſe zur Darſtellung zu bringen. In dieſem Sinn iſt
denn die Baukunſt Idealiſirung der unorganiſchen Natur. Davon hat
man den unmittelbaren Eindruck, wenn man mitten zwiſchen rauhen Maſſen
einem edeln Bauwerke, ja nur Trümmern deſſelben begegnet: „Spuren
ordnender Menſchenhand zwiſchen dem Geſträuch — dieſe Steine haſt du
nicht gefügt, reich hinſtreuende Natur“ (u. ſ. w. Göthe’s Gedicht: der
Wanderer); man fühlt durchaus, daß hier etwas, wozu die unbewußte
Natur den Anlauf genommen, was ſie aber wie in Zerſtreutheit wieder
der Unordnung überlaſſen, durch die Spannkraft des bewußten Geiſtes

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[193/0033] andern Künſten. Allein es muß auch eine unbeſtimmtere Form der Nach- ahmung geben, wo dem Künſtler ein nicht Individualiſirtes in der Natur, das in gewiſſem Sinn von ihm erſt individualiſirt werden ſoll, dunkel vorſchwebt. Ein ſolches iſt dem Baukünſtler das Erdreich. Betrachten wir dieſes, ſo bieten die Geſtaltungen der Flächen, der Berge, Felſen, Höhlen eine Welt von äſthetiſchen Reizen dar, worin neben Farbe, Schmuck der Vegetation, Bewegung der Luft die Linien der Oberfläche an ſich eine Hauptrolle ſpielen, wie denn auf die beſtimmten äſthetiſchen Wirkungen der ſenkrechten, der wagrechten, der Bogenlinien, nachdem ſie ſchon in §. 91 berührt, dann bei den Erſcheinungen des Waſſers §. 257 beſprochen ſind, in den von der Schönheit des Erdreichs handelnden §§. 260 ff. mehrfach hingewieſen wird. Dieſe Linien ſind zugleich der Ausdruck allgemeiner reiner Verhältniſſe des Schweren in ſeinen Wechſel- wirkungen, des Auflagerns, Stützens, Ueberſpannens, und daher liegt in dem Reize der Linien auch eine gewiſſe Genugthuung für ein unbe- wußtes inneres Nachwägen eingeſchloſſen. Nun haben wir Th. I, S. 105 bereits auf eine ahnungsreiche Symbolik der reinen Linie hingedeutet und S. 108 auch die Baukunſt in dieſem Zuſammenhange ſchon erwähnt. Was es ſei, worauf dieſe Symbolik der Linie weist, davon iſt nachher zu reden; die Wahrheit einer tieferen Bedeutung vorausgeſetzt, haben wir die Aufgabe der Baukunſt jetzt ſo zu faſſen: in der unorganiſchen Natur zieht ſich überall das Reich der Linien als Umriß der Maſſen in ihren ſtatiſchen Verhältniſſen durch, aber ſo, daß ſie nirgends in ihrer Reinheit eingehalten ſind, ſondern in das Unbeſtimmte und Verworrene ausbiegen. Die Regel ſchimmert ſo zu ſagen nur durch, das ſinnige Auge des (wägend und) meſſend Sehenden ſchaut ſie hinein oder, wie man will, heraus, indem ihm das chaotiſch Maſſenhafte wie zur durchſichtigen Hülle wird, hinter der die reinen Flächen, Winkel, Kreisausſchnitte u. ſ. w. gezogen ſind. In ſolcher Weiſe iſt nun eben das Auge der Baukunſt thätig, ſie arbeitet aus dieſer Umhüllung das Reich der reinen Verhältniſſe und Linien her- aus und nöthigt dieſelbe Natur, durch welche dieſes Reich nur als ein zerworfenes und verworrenes ſich hindurchzieht, es in geordneter Meſſung und Fügung der Maſſe zur Darſtellung zu bringen. In dieſem Sinn iſt denn die Baukunſt Idealiſirung der unorganiſchen Natur. Davon hat man den unmittelbaren Eindruck, wenn man mitten zwiſchen rauhen Maſſen einem edeln Bauwerke, ja nur Trümmern deſſelben begegnet: „Spuren ordnender Menſchenhand zwiſchen dem Geſträuch — dieſe Steine haſt du nicht gefügt, reich hinſtreuende Natur“ (u. ſ. w. Göthe’s Gedicht: der Wanderer); man fühlt durchaus, daß hier etwas, wozu die unbewußte Natur den Anlauf genommen, was ſie aber wie in Zerſtreutheit wieder der Unordnung überlaſſen, durch die Spannkraft des bewußten Geiſtes

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/33>, abgerufen am 25.04.2024.