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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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und auf den ersten Blick sehr Bedenkliches in die Vorarbeiten des Künst-
lers ein. Zu §. 379 (B. II. S. 303) ist gesagt: "so sehr ist das Nicht-
gewolltseyn Wesen des Naturschönen, daß nichts widerlicher ist, als wenn
in seiner Sphäre eine Absicht auf das Schöne als solches sichtbar ist."
Schon dort ist aber dieß auch auf die Nachahmung des Gegenstands
durch die Kunst übergetragen und zum voraus gefordert worden, daß
derselbe in ihrer Darstellung den Ausdruck der Unabsichtlichkeit haben
müße, weil sonst alle ästhetische Wirkung verloren gehe. Nun aber wird
eine Person bestellt, um sich vor dem Künstler sehen zu lassen und aus-
zuhalten, während er sie beobachtet und zugleich abbildet; diese Situation
gibt ihrer ganzen Erscheinung den Ausdruck des Wissens um das Dar-
gestelltwerden, und dieser Ausdruck ist zunächst ein Ausdruck des Gespannt-
seins, dann der Eitelkeit, endlich aber, da die Sache langweilig und an-
strengend wird, der Ausdruck des Abgespanntseins, der Todtheit. Wir
führen zunächst das Porträtsitzen an, wiewohl es streng genommen nicht
in diesen Zusammenhang gehört, denn da gilt es, eben diese Person
abzubilden, zwar so, daß aus ihrer empirischen Erscheinung das Urbild
ihres Wesens ausgeschieden wird, doch nicht, um eine Ideal-Person hin-
zustellen, die zugleich individuell und zugleich Repräsentant einer ganzen
Sphäre sein soll, wie im freien Kunstwerk, sondern die Grundlage bleibt
immer, daß dieser Einzelne als solcher kenntlich dargestellt werde; auch
wird mit dem Sitzenden kein Act vorgenommen, so daß er eine bestimmte
Bewegung, einen besondern ausdrucksvollen Moment, Leidenschaft u. s. w.
nachzuahmen hätte, daher ist weniger Anlaß zum Ausdruck der Eitelkeit,
und doch sieht man so vielen Bildnissen zugleich mit der abgespannten
Gespanntheit auch an, daß der Sitzende ein Gesicht gemacht hat.
Man verlangt daher vom Porträtmaler, daß er seine Beobachtung wäh-
rend des Sitzens durch eine sonstige wiederholte Belauschung und durch
die aus ihr entwickelte geniale Intuition des rein ausdrucksvollen Urbilds
der Person ergänze. Wenden wir nun dieß auf das Modell und den
Act an, wobei wir von Modellstudien zum Behufe der allgemeinen Ue-
bung, abgesehen von der Benützung des einzelnen Modells für ein beson-
deres Kunstwerk, abstrahiren, weil dieß noch nicht in unsern Zusammen-
hang gehört. Zunächst sollte man meinen, das Modell gebe für den
Zweck des Kunstwerks, das im Individuellen ja immer ein Allgemeines
darstellt, zu sehr blos individuelle (beschränkt porträtartige) Züge. Es
giebt allerdings Kunstwerke, denen man in diesem Sinne das Modell an-
sieht; z. B. Riedels Medea, Judith, Sakontala geben zu erkennen, daß
hier ein sinnvoller höherer Genremaler, aber nicht Historienmaler ein
weibliches Modell gefunden, das ihm passend schien, mit einem jener
historischen Namen getauft und so dargestellt zu werden: ein interessanter

und auf den erſten Blick ſehr Bedenkliches in die Vorarbeiten des Künſt-
lers ein. Zu §. 379 (B. II. S. 303) iſt geſagt: „ſo ſehr iſt das Nicht-
gewolltſeyn Weſen des Naturſchönen, daß nichts widerlicher iſt, als wenn
in ſeiner Sphäre eine Abſicht auf das Schöne als ſolches ſichtbar iſt.“
Schon dort iſt aber dieß auch auf die Nachahmung des Gegenſtands
durch die Kunſt übergetragen und zum voraus gefordert worden, daß
derſelbe in ihrer Darſtellung den Ausdruck der Unabſichtlichkeit haben
müße, weil ſonſt alle äſthetiſche Wirkung verloren gehe. Nun aber wird
eine Perſon beſtellt, um ſich vor dem Künſtler ſehen zu laſſen und aus-
zuhalten, während er ſie beobachtet und zugleich abbildet; dieſe Situation
gibt ihrer ganzen Erſcheinung den Ausdruck des Wiſſens um das Dar-
geſtelltwerden, und dieſer Ausdruck iſt zunächſt ein Ausdruck des Geſpannt-
ſeins, dann der Eitelkeit, endlich aber, da die Sache langweilig und an-
ſtrengend wird, der Ausdruck des Abgeſpanntſeins, der Todtheit. Wir
führen zunächſt das Porträtſitzen an, wiewohl es ſtreng genommen nicht
in dieſen Zuſammenhang gehört, denn da gilt es, eben dieſe Perſon
abzubilden, zwar ſo, daß aus ihrer empiriſchen Erſcheinung das Urbild
ihres Weſens ausgeſchieden wird, doch nicht, um eine Ideal-Perſon hin-
zuſtellen, die zugleich individuell und zugleich Repräſentant einer ganzen
Sphäre ſein ſoll, wie im freien Kunſtwerk, ſondern die Grundlage bleibt
immer, daß dieſer Einzelne als ſolcher kenntlich dargeſtellt werde; auch
wird mit dem Sitzenden kein Act vorgenommen, ſo daß er eine beſtimmte
Bewegung, einen beſondern ausdrucksvollen Moment, Leidenſchaft u. ſ. w.
nachzuahmen hätte, daher iſt weniger Anlaß zum Ausdruck der Eitelkeit,
und doch ſieht man ſo vielen Bildniſſen zugleich mit der abgeſpannten
Geſpanntheit auch an, daß der Sitzende ein Geſicht gemacht hat.
Man verlangt daher vom Porträtmaler, daß er ſeine Beobachtung wäh-
rend des Sitzens durch eine ſonſtige wiederholte Belauſchung und durch
die aus ihr entwickelte geniale Intuition des rein ausdrucksvollen Urbilds
der Perſon ergänze. Wenden wir nun dieß auf das Modell und den
Act an, wobei wir von Modellſtudien zum Behufe der allgemeinen Ue-
bung, abgeſehen von der Benützung des einzelnen Modells für ein beſon-
deres Kunſtwerk, abſtrahiren, weil dieß noch nicht in unſern Zuſammen-
hang gehört. Zunächſt ſollte man meinen, das Modell gebe für den
Zweck des Kunſtwerks, das im Individuellen ja immer ein Allgemeines
darſtellt, zu ſehr blos individuelle (beſchränkt porträtartige) Züge. Es
giebt allerdings Kunſtwerke, denen man in dieſem Sinne das Modell an-
ſieht; z. B. Riedels Medea, Judith, Sakontala geben zu erkennen, daß
hier ein ſinnvoller höherer Genremaler, aber nicht Hiſtorienmaler ein
weibliches Modell gefunden, das ihm paſſend ſchien, mit einem jener
hiſtoriſchen Namen getauft und ſo dargeſtellt zu werden: ein intereſſanter

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[80/0092] und auf den erſten Blick ſehr Bedenkliches in die Vorarbeiten des Künſt- lers ein. Zu §. 379 (B. II. S. 303) iſt geſagt: „ſo ſehr iſt das Nicht- gewolltſeyn Weſen des Naturſchönen, daß nichts widerlicher iſt, als wenn in ſeiner Sphäre eine Abſicht auf das Schöne als ſolches ſichtbar iſt.“ Schon dort iſt aber dieß auch auf die Nachahmung des Gegenſtands durch die Kunſt übergetragen und zum voraus gefordert worden, daß derſelbe in ihrer Darſtellung den Ausdruck der Unabſichtlichkeit haben müße, weil ſonſt alle äſthetiſche Wirkung verloren gehe. Nun aber wird eine Perſon beſtellt, um ſich vor dem Künſtler ſehen zu laſſen und aus- zuhalten, während er ſie beobachtet und zugleich abbildet; dieſe Situation gibt ihrer ganzen Erſcheinung den Ausdruck des Wiſſens um das Dar- geſtelltwerden, und dieſer Ausdruck iſt zunächſt ein Ausdruck des Geſpannt- ſeins, dann der Eitelkeit, endlich aber, da die Sache langweilig und an- ſtrengend wird, der Ausdruck des Abgeſpanntſeins, der Todtheit. Wir führen zunächſt das Porträtſitzen an, wiewohl es ſtreng genommen nicht in dieſen Zuſammenhang gehört, denn da gilt es, eben dieſe Perſon abzubilden, zwar ſo, daß aus ihrer empiriſchen Erſcheinung das Urbild ihres Weſens ausgeſchieden wird, doch nicht, um eine Ideal-Perſon hin- zuſtellen, die zugleich individuell und zugleich Repräſentant einer ganzen Sphäre ſein ſoll, wie im freien Kunſtwerk, ſondern die Grundlage bleibt immer, daß dieſer Einzelne als ſolcher kenntlich dargeſtellt werde; auch wird mit dem Sitzenden kein Act vorgenommen, ſo daß er eine beſtimmte Bewegung, einen beſondern ausdrucksvollen Moment, Leidenſchaft u. ſ. w. nachzuahmen hätte, daher iſt weniger Anlaß zum Ausdruck der Eitelkeit, und doch ſieht man ſo vielen Bildniſſen zugleich mit der abgeſpannten Geſpanntheit auch an, daß der Sitzende ein Geſicht gemacht hat. Man verlangt daher vom Porträtmaler, daß er ſeine Beobachtung wäh- rend des Sitzens durch eine ſonſtige wiederholte Belauſchung und durch die aus ihr entwickelte geniale Intuition des rein ausdrucksvollen Urbilds der Perſon ergänze. Wenden wir nun dieß auf das Modell und den Act an, wobei wir von Modellſtudien zum Behufe der allgemeinen Ue- bung, abgeſehen von der Benützung des einzelnen Modells für ein beſon- deres Kunſtwerk, abſtrahiren, weil dieß noch nicht in unſern Zuſammen- hang gehört. Zunächſt ſollte man meinen, das Modell gebe für den Zweck des Kunſtwerks, das im Individuellen ja immer ein Allgemeines darſtellt, zu ſehr blos individuelle (beſchränkt porträtartige) Züge. Es giebt allerdings Kunſtwerke, denen man in dieſem Sinne das Modell an- ſieht; z. B. Riedels Medea, Judith, Sakontala geben zu erkennen, daß hier ein ſinnvoller höherer Genremaler, aber nicht Hiſtorienmaler ein weibliches Modell gefunden, das ihm paſſend ſchien, mit einem jener hiſtoriſchen Namen getauft und ſo dargeſtellt zu werden: ein intereſſanter

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/92>, abgerufen am 28.03.2024.