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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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jedenfalls von dem in §. 505 dargestellten Zustande. Da ist nämlich das
ideal Schöne in seiner hohen Freiheit überhaupt dem Publikum unbekannt
und fern, der Schönheitssinn daher auch nicht in ihm entwickelt, sondern
ein conventionelles Gefühl hat sich ausgebildet, das eigentlich auf das
Angenehme und Schickliche geht, und diesem soll die Kunst nicht etwa
beiläufig, sondern im Mittelpuncte ihres Werkes und als oberstem Gesetze
dienen. Das Wort Geschmack schon zeigt an: man legt das Werk der Kunst
prüfend, dem Weinschmecker ähnlich, auf die Zunge und urtheilt nun
so nicht über seine Idealität, seine künstlerische Composition, den reinen
Schwung seiner Formen, sondern ob es jenen conventionellen Sinn mit
feiner und süßer Oberfläche wohlthuend reize oder mit grober und harter
beleidigend abstoße; für diese feine Zunge zu arbeiten macht sich nun
der Künstler zur Aufgabe, so daß er statt des Schönen das Delicate giebt.
Mit der Befreiung der Kunst aus der aristokratischen Ausschließlichkeit und
Convenienz nahm diese Verwechslung nicht alsbald ein Ende, wie denn
noch Kant trotz seiner scharfen Unterscheidung zwischen freier und anhän-
gender Schönheit den Sinn für jene durchgängig als Geschmacksurtheil
auffaßt. Aber selbst als eine reine Kunst und ihre Erkenntniß längst be-
stand, hielt man den Begriff noch fest und zwar jetzt neben dem Begriffe
des Schönheitssinnes, so nämlich, daß man zwei Stufen unterschied, eine
instinctive und eine gebildete, und die letztere nannte man Geschmack; so
noch Hegel (Aesth. B. I. S. 45. Geschmack ist gebildeter Schönheitssinn).
Nicht diese Festhaltung kann die richtige sein, denn Geschmack muß immer
etwas Niedrigeres bezeichnen, als das Organ der Aufnahme des Schönen
ist, und die Ausbildung macht daher den Schönheitssinn nicht zum Ge-
schmack, sondern erst wahrhaft zum Schönheitssinn, aber es muß doch
etwas in dem Begriffe liegen, was seine Beibehaltung selbst in dem rein
ästhetischen Gebiete begründet. Dieß findet denn der §. darin, daß eben-
dasselbe, was seinem wahren Wesen nach dem Schönen angehört und nur
von dem Sinne des Schönen, d. h. der Phantasie, aufgenommen sein
will, in zweierlei Beziehungen mit einem gewissen Rechte auch unter den
Standpunct jener untergeordneten Auffaßungsweise gezogen werden kann:
einer positiven und einer negativen. Fassen wir zuerst jene, obwohl die
negative weit die bedeutendere ist, ins Auge, so sind es offenbar nur
die äußersten Spitzen des Kunstwerks, in welchen es sich mit dem Zu-
schauer nach der Seite des Geschmacks berührt. Es sind einzelne
Ornamente in der Architektur, Faltenlegung der Gewänder und dergl. in
der Plastik, in der Malerlei Kostüm, Farbenverhältnisse auf einzelnen
Puncten (denn die Farbenharmonie im Ganzen und Großen liegt hoch
über diesem Gebiete), Zierrathen eines Musikstücks, einzelne Bilder, Ver-
gleichungen, Wendungen in der Poesie. Nun müßen allerdings auch

jedenfalls von dem in §. 505 dargeſtellten Zuſtande. Da iſt nämlich das
ideal Schöne in ſeiner hohen Freiheit überhaupt dem Publikum unbekannt
und fern, der Schönheitsſinn daher auch nicht in ihm entwickelt, ſondern
ein conventionelles Gefühl hat ſich ausgebildet, das eigentlich auf das
Angenehme und Schickliche geht, und dieſem ſoll die Kunſt nicht etwa
beiläufig, ſondern im Mittelpuncte ihres Werkes und als oberſtem Geſetze
dienen. Das Wort Geſchmack ſchon zeigt an: man legt das Werk der Kunſt
prüfend, dem Weinſchmecker ähnlich, auf die Zunge und urtheilt nun
ſo nicht über ſeine Idealität, ſeine künſtleriſche Compoſition, den reinen
Schwung ſeiner Formen, ſondern ob es jenen conventionellen Sinn mit
feiner und ſüßer Oberfläche wohlthuend reize oder mit grober und harter
beleidigend abſtoße; für dieſe feine Zunge zu arbeiten macht ſich nun
der Künſtler zur Aufgabe, ſo daß er ſtatt des Schönen das Delicate giebt.
Mit der Befreiung der Kunſt aus der ariſtokratiſchen Ausſchließlichkeit und
Convenienz nahm dieſe Verwechslung nicht alsbald ein Ende, wie denn
noch Kant trotz ſeiner ſcharfen Unterſcheidung zwiſchen freier und anhän-
gender Schönheit den Sinn für jene durchgängig als Geſchmacksurtheil
auffaßt. Aber ſelbſt als eine reine Kunſt und ihre Erkenntniß längſt be-
ſtand, hielt man den Begriff noch feſt und zwar jetzt neben dem Begriffe
des Schönheitsſinnes, ſo nämlich, daß man zwei Stufen unterſchied, eine
inſtinctive und eine gebildete, und die letztere nannte man Geſchmack; ſo
noch Hegel (Aeſth. B. I. S. 45. Geſchmack iſt gebildeter Schönheitsſinn).
Nicht dieſe Feſthaltung kann die richtige ſein, denn Geſchmack muß immer
etwas Niedrigeres bezeichnen, als das Organ der Aufnahme des Schönen
iſt, und die Ausbildung macht daher den Schönheitsſinn nicht zum Ge-
ſchmack, ſondern erſt wahrhaft zum Schönheitsſinn, aber es muß doch
etwas in dem Begriffe liegen, was ſeine Beibehaltung ſelbſt in dem rein
äſthetiſchen Gebiete begründet. Dieß findet denn der §. darin, daß eben-
daſſelbe, was ſeinem wahren Weſen nach dem Schönen angehört und nur
von dem Sinne des Schönen, d. h. der Phantaſie, aufgenommen ſein
will, in zweierlei Beziehungen mit einem gewiſſen Rechte auch unter den
Standpunct jener untergeordneten Auffaßungsweiſe gezogen werden kann:
einer poſitiven und einer negativen. Faſſen wir zuerſt jene, obwohl die
negative weit die bedeutendere iſt, ins Auge, ſo ſind es offenbar nur
die äußerſten Spitzen des Kunſtwerks, in welchen es ſich mit dem Zu-
ſchauer nach der Seite des Geſchmacks berührt. Es ſind einzelne
Ornamente in der Architektur, Faltenlegung der Gewänder und dergl. in
der Plaſtik, in der Malerlei Koſtüm, Farbenverhältniſſe auf einzelnen
Puncten (denn die Farbenharmonie im Ganzen und Großen liegt hoch
über dieſem Gebiete), Zierrathen eines Muſikſtücks, einzelne Bilder, Ver-
gleichungen, Wendungen in der Poeſie. Nun müßen allerdings auch

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[74/0086] jedenfalls von dem in §. 505 dargeſtellten Zuſtande. Da iſt nämlich das ideal Schöne in ſeiner hohen Freiheit überhaupt dem Publikum unbekannt und fern, der Schönheitsſinn daher auch nicht in ihm entwickelt, ſondern ein conventionelles Gefühl hat ſich ausgebildet, das eigentlich auf das Angenehme und Schickliche geht, und dieſem ſoll die Kunſt nicht etwa beiläufig, ſondern im Mittelpuncte ihres Werkes und als oberſtem Geſetze dienen. Das Wort Geſchmack ſchon zeigt an: man legt das Werk der Kunſt prüfend, dem Weinſchmecker ähnlich, auf die Zunge und urtheilt nun ſo nicht über ſeine Idealität, ſeine künſtleriſche Compoſition, den reinen Schwung ſeiner Formen, ſondern ob es jenen conventionellen Sinn mit feiner und ſüßer Oberfläche wohlthuend reize oder mit grober und harter beleidigend abſtoße; für dieſe feine Zunge zu arbeiten macht ſich nun der Künſtler zur Aufgabe, ſo daß er ſtatt des Schönen das Delicate giebt. Mit der Befreiung der Kunſt aus der ariſtokratiſchen Ausſchließlichkeit und Convenienz nahm dieſe Verwechslung nicht alsbald ein Ende, wie denn noch Kant trotz ſeiner ſcharfen Unterſcheidung zwiſchen freier und anhän- gender Schönheit den Sinn für jene durchgängig als Geſchmacksurtheil auffaßt. Aber ſelbſt als eine reine Kunſt und ihre Erkenntniß längſt be- ſtand, hielt man den Begriff noch feſt und zwar jetzt neben dem Begriffe des Schönheitsſinnes, ſo nämlich, daß man zwei Stufen unterſchied, eine inſtinctive und eine gebildete, und die letztere nannte man Geſchmack; ſo noch Hegel (Aeſth. B. I. S. 45. Geſchmack iſt gebildeter Schönheitsſinn). Nicht dieſe Feſthaltung kann die richtige ſein, denn Geſchmack muß immer etwas Niedrigeres bezeichnen, als das Organ der Aufnahme des Schönen iſt, und die Ausbildung macht daher den Schönheitsſinn nicht zum Ge- ſchmack, ſondern erſt wahrhaft zum Schönheitsſinn, aber es muß doch etwas in dem Begriffe liegen, was ſeine Beibehaltung ſelbſt in dem rein äſthetiſchen Gebiete begründet. Dieß findet denn der §. darin, daß eben- daſſelbe, was ſeinem wahren Weſen nach dem Schönen angehört und nur von dem Sinne des Schönen, d. h. der Phantaſie, aufgenommen ſein will, in zweierlei Beziehungen mit einem gewiſſen Rechte auch unter den Standpunct jener untergeordneten Auffaßungsweiſe gezogen werden kann: einer poſitiven und einer negativen. Faſſen wir zuerſt jene, obwohl die negative weit die bedeutendere iſt, ins Auge, ſo ſind es offenbar nur die äußerſten Spitzen des Kunſtwerks, in welchen es ſich mit dem Zu- ſchauer nach der Seite des Geſchmacks berührt. Es ſind einzelne Ornamente in der Architektur, Faltenlegung der Gewänder und dergl. in der Plaſtik, in der Malerlei Koſtüm, Farbenverhältniſſe auf einzelnen Puncten (denn die Farbenharmonie im Ganzen und Großen liegt hoch über dieſem Gebiete), Zierrathen eines Muſikſtücks, einzelne Bilder, Ver- gleichungen, Wendungen in der Poeſie. Nun müßen allerdings auch

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/86>, abgerufen am 19.04.2024.