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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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indem er die gebissene Hüfte krampfhaft einzieht, fährt er zugleich mit
dem ganzen Leib auf dessen Seite hinüber, so bildet sich ein herrschender
Linienzug nach links (vom Zuschauer), der ältere Sohn aber beugt sich
aufschauend rechts herüber ab von den zwei andern und löst so diesen
Linienzug ergänzend auf. Wir überspringen nun auch die Formen
der Dichtkunst außer der dramatischen und zeigen nur an einem
Werke dieser Gattung die ganze Bedeutung unseres Gesetzes: an
Shakespeares König Lear. Im ersten Acte treten bereits die beiden
Gruppen auf, welche den Grundgedanken in verschiedenen Farben, Tönen,
Melodien aussprechen. Er enthält fünf Scenen, von welchen vier der
Familie Lears gewidmet sind, eine der Familie Glosters. Von den zwei
ersten Scenen nämlich stellt die erste das Thema auf, wie es sich in der
Familie Lears, die zweite, wie es sich im Hause Glosters darstellt. Nun
aber, da die Begebenheit im letzteren Hause nur die im Sinne des Ton-
Contrasts verstärkende, begleitende Stimme und Melodie darstellt, schreitet
das Schicksal Lears in den weiteren drei Scenen für sich fort; das
Schicksal Glosters verschwindet zunächst und ist überhaupt mit der Bege-
benheit im Hause Lears noch nicht verknüpft. Glosters Thorheit ist noch
nicht vollendet, Lears Thorheit ist es, und da der Undank der Kinder
nur ganz die unmittelbare Kehrseite ihrer Verwöhnung, der Leichtgläubig-
keit gegen ihre Schmeichelei ist, so tritt auch bereits das ausgesäte
Uebel ein: Lear wird von Goneril mißhandelt, das Ungewitter ist schon
ausgebrochen, die Lichtpuncte, die Töne des Trostes scheinen und klingen
zwischen das ausbrechende Chaos in der Treue Kents und des Narren,
der Hoffnung auf Cordelia. Im zweiten Acte rückt nun aber zuerst die
zweite Gruppe, Stimme, Tonmasse, Melodie vor, der größere Theil der
ersten Scene ist ihr gewidmet: Glosters Thorheit ist reif, er verstößt den
guten Sohn, das Schicksal seines Hauses rückt in gemessenen Schritten
dem Schicksale des königlichen nach. Unter 4 Scenen ist je eine jenem,
eine diesem gewidmet. In der zweiten Scene bereitet sich die Mißhand-
lung Lears durch seine zweite Tochter vor, in der dritten sehen wir Edgar
irren und in Verzweiflung zur Maske eines Tollhausbettlers greifen, in
der vierten folgt Lears schändliche Behandlung durch Cornwall und
Regan, er stürzt in die Sturmnacht hinaus, zum Wahnsinn reif, sein
Schicksal ist in rascher Steigerung begriffen, die Töne des Schreckens
brausen schon in wilderem Ausbruch heran. Gloster leidet noch nicht,
aber in seinem verstoßenen Sohn haben wir schon einen Genossen für
Lear, der in der Wüste irrt, wie er. Zugleich tritt nun aber eine äußere
Verbindung beider verwandten Handlungen ein: Regan zieht Edmund an
ihren Hof, das Böse soll sich dadurch verdreifachen. Die Scene der
Mißhandlung Lears durch seine zweite Tochter geht in Glosters Haus

indem er die gebiſſene Hüfte krampfhaft einzieht, fährt er zugleich mit
dem ganzen Leib auf deſſen Seite hinüber, ſo bildet ſich ein herrſchender
Linienzug nach links (vom Zuſchauer), der ältere Sohn aber beugt ſich
aufſchauend rechts herüber ab von den zwei andern und löst ſo dieſen
Linienzug ergänzend auf. Wir überſpringen nun auch die Formen
der Dichtkunſt außer der dramatiſchen und zeigen nur an einem
Werke dieſer Gattung die ganze Bedeutung unſeres Geſetzes: an
Shakespeares König Lear. Im erſten Acte treten bereits die beiden
Gruppen auf, welche den Grundgedanken in verſchiedenen Farben, Tönen,
Melodien ausſprechen. Er enthält fünf Scenen, von welchen vier der
Familie Lears gewidmet ſind, eine der Familie Gloſters. Von den zwei
erſten Scenen nämlich ſtellt die erſte das Thema auf, wie es ſich in der
Familie Lears, die zweite, wie es ſich im Hauſe Gloſters darſtellt. Nun
aber, da die Begebenheit im letzteren Hauſe nur die im Sinne des Ton-
Contraſts verſtärkende, begleitende Stimme und Melodie darſtellt, ſchreitet
das Schickſal Lears in den weiteren drei Scenen für ſich fort; das
Schickſal Gloſters verſchwindet zunächſt und iſt überhaupt mit der Bege-
benheit im Hauſe Lears noch nicht verknüpft. Gloſters Thorheit iſt noch
nicht vollendet, Lears Thorheit iſt es, und da der Undank der Kinder
nur ganz die unmittelbare Kehrſeite ihrer Verwöhnung, der Leichtgläubig-
keit gegen ihre Schmeichelei iſt, ſo tritt auch bereits das ausgeſäte
Uebel ein: Lear wird von Goneril mißhandelt, das Ungewitter iſt ſchon
ausgebrochen, die Lichtpuncte, die Töne des Troſtes ſcheinen und klingen
zwiſchen das ausbrechende Chaos in der Treue Kents und des Narren,
der Hoffnung auf Cordelia. Im zweiten Acte rückt nun aber zuerſt die
zweite Gruppe, Stimme, Tonmaſſe, Melodie vor, der größere Theil der
erſten Scene iſt ihr gewidmet: Gloſters Thorheit iſt reif, er verſtößt den
guten Sohn, das Schickſal ſeines Hauſes rückt in gemeſſenen Schritten
dem Schickſale des königlichen nach. Unter 4 Scenen iſt je eine jenem,
eine dieſem gewidmet. In der zweiten Scene bereitet ſich die Mißhand-
lung Lears durch ſeine zweite Tochter vor, in der dritten ſehen wir Edgar
irren und in Verzweiflung zur Maske eines Tollhausbettlers greifen, in
der vierten folgt Lears ſchändliche Behandlung durch Cornwall und
Regan, er ſtürzt in die Sturmnacht hinaus, zum Wahnſinn reif, ſein
Schickſal iſt in raſcher Steigerung begriffen, die Töne des Schreckens
brauſen ſchon in wilderem Ausbruch heran. Gloſter leidet noch nicht,
aber in ſeinem verſtoßenen Sohn haben wir ſchon einen Genoſſen für
Lear, der in der Wüſte irrt, wie er. Zugleich tritt nun aber eine äußere
Verbindung beider verwandten Handlungen ein: Regan zieht Edmund an
ihren Hof, das Böſe ſoll ſich dadurch verdreifachen. Die Scene der
Mißhandlung Lears durch ſeine zweite Tochter geht in Gloſters Haus

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[46/0058] indem er die gebiſſene Hüfte krampfhaft einzieht, fährt er zugleich mit dem ganzen Leib auf deſſen Seite hinüber, ſo bildet ſich ein herrſchender Linienzug nach links (vom Zuſchauer), der ältere Sohn aber beugt ſich aufſchauend rechts herüber ab von den zwei andern und löst ſo dieſen Linienzug ergänzend auf. Wir überſpringen nun auch die Formen der Dichtkunſt außer der dramatiſchen und zeigen nur an einem Werke dieſer Gattung die ganze Bedeutung unſeres Geſetzes: an Shakespeares König Lear. Im erſten Acte treten bereits die beiden Gruppen auf, welche den Grundgedanken in verſchiedenen Farben, Tönen, Melodien ausſprechen. Er enthält fünf Scenen, von welchen vier der Familie Lears gewidmet ſind, eine der Familie Gloſters. Von den zwei erſten Scenen nämlich ſtellt die erſte das Thema auf, wie es ſich in der Familie Lears, die zweite, wie es ſich im Hauſe Gloſters darſtellt. Nun aber, da die Begebenheit im letzteren Hauſe nur die im Sinne des Ton- Contraſts verſtärkende, begleitende Stimme und Melodie darſtellt, ſchreitet das Schickſal Lears in den weiteren drei Scenen für ſich fort; das Schickſal Gloſters verſchwindet zunächſt und iſt überhaupt mit der Bege- benheit im Hauſe Lears noch nicht verknüpft. Gloſters Thorheit iſt noch nicht vollendet, Lears Thorheit iſt es, und da der Undank der Kinder nur ganz die unmittelbare Kehrſeite ihrer Verwöhnung, der Leichtgläubig- keit gegen ihre Schmeichelei iſt, ſo tritt auch bereits das ausgeſäte Uebel ein: Lear wird von Goneril mißhandelt, das Ungewitter iſt ſchon ausgebrochen, die Lichtpuncte, die Töne des Troſtes ſcheinen und klingen zwiſchen das ausbrechende Chaos in der Treue Kents und des Narren, der Hoffnung auf Cordelia. Im zweiten Acte rückt nun aber zuerſt die zweite Gruppe, Stimme, Tonmaſſe, Melodie vor, der größere Theil der erſten Scene iſt ihr gewidmet: Gloſters Thorheit iſt reif, er verſtößt den guten Sohn, das Schickſal ſeines Hauſes rückt in gemeſſenen Schritten dem Schickſale des königlichen nach. Unter 4 Scenen iſt je eine jenem, eine dieſem gewidmet. In der zweiten Scene bereitet ſich die Mißhand- lung Lears durch ſeine zweite Tochter vor, in der dritten ſehen wir Edgar irren und in Verzweiflung zur Maske eines Tollhausbettlers greifen, in der vierten folgt Lears ſchändliche Behandlung durch Cornwall und Regan, er ſtürzt in die Sturmnacht hinaus, zum Wahnſinn reif, ſein Schickſal iſt in raſcher Steigerung begriffen, die Töne des Schreckens brauſen ſchon in wilderem Ausbruch heran. Gloſter leidet noch nicht, aber in ſeinem verſtoßenen Sohn haben wir ſchon einen Genoſſen für Lear, der in der Wüſte irrt, wie er. Zugleich tritt nun aber eine äußere Verbindung beider verwandten Handlungen ein: Regan zieht Edmund an ihren Hof, das Böſe ſoll ſich dadurch verdreifachen. Die Scene der Mißhandlung Lears durch ſeine zweite Tochter geht in Gloſters Haus

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/58>, abgerufen am 28.03.2024.