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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Warnung vor einer ängstlichen Auffaßung dieser Nebenordnung unzeitig.
Was Unterordnung sei, ist klar; darüber belehrt z. B. jeder Schauspieler,
der in einer unbedeutenden Rolle die Bedeutung des ersten Helden affect-
tirt und durch sein Vordringen das Ensemble stört. In der Gruppe des
Laokoon ist der ältere, noch unverwundete Knabe bedeutender, als der
jüngere, der vom Bisse eben getödtet zurücksinkt, u. s. w. Dem Unter-
geordneten ist Weiteres untergeordnet und das Verhältniß wiederholt sich
bis in die äußersten Spitzen des Kunstwerks.

2. Die zweite Seite ist zunächst das umgebende Element, Boden,
Wohnsitz, die allgemeinen Bedingungen und Mittel des Daseins
für das Subject der Darstellung enthaltend; also wo das thierische Leben
Subject der Darstellung ist, da wirkt die Natur als das tragende,
ernährende, dem Spiel und Genuß dienende Element mit; wo das
menschliche Leben die Darstellung bestimmt, da bewegt sie sich nicht blos
in der Natur, sondern auch in der künstlichen Wohnung, in der Umgebung
von Geräthen, Schmuck, Werkzeugen, Thieren zu Dienst und Spiel.
Es war aber noch eine andere Bedeutung dieser zweiten Seite hervorzuheben,
die Umkehrung des Verhältnißes nämlich, so daß die Rolle des ästhetisch
nur Mitwirkenden dem Theile zufällt, der eben von jenen Lebensbedingungen
abhängig ist. So ist im Landschaftsgemälde das allgemeine Naturleben
Subject der Schönheit; Bauwerke, Thiere, Menschen, die da auftreten
und denen jenes als Boden, Nahrungsquelle, Stoff der Thätigkeit dient,
sind nur anhängende, mitwirkende Theile des Ganzen. Diese zwei
Verhältniße sind an sich sehr verschieden, im vorliegenden Zusammenhang
aber fallen sie beide unter Einen und denselben Begriff: den des
Beiwerks. Der §. erläutert diesen Ausdruck durch: accidentiell
(dem entsprechend hier das Subject des ästhetischen Ganzen Substanz zu
nennen wäre): eine Bezeichnung, durch welche der veraltete Standpunct,
der in dem Begriff des Beiwerks liegt, wohl am zweckmäßigsten vermieden
wird. Dieses Accidentielle kann sich allerdings nicht in allen Künsten
gleichmäßig ausbilden; nur in der Malerei, der epischen und dramatischen
Dichtkunst tritt es in seiner Bedeutung klar hervor, in andern Künsten und
Kunstformen findet sich nur annähernd Entsprechendes: so ist z. B. in
der Plastik des Attribut eigentlich mehr, als Beiwerk, und nur die
Basis, die Andeutung des Locals durch einen Baumzweig, Fels und
dergl. entspricht diesem Begriffe. Wenn wir den Begriff des Beiwerks
einen veralteten nennen, so haben wir im Auge, wie man darunter eine
Zugabe zu dem Subjecte des ästhetischen Ganzen, die so oder anders
sein oder auch ganz fehlen könnte unbeschadet des Wesens dieses Ganzen,
zu verstehen pflegt. Es stammt dieser atomistische Begriff aus den Zeiten
her, wo man die Bedeutung dieser zweiten Seite des Kunstwerks völlig

Warnung vor einer ängſtlichen Auffaßung dieſer Nebenordnung unzeitig.
Was Unterordnung ſei, iſt klar; darüber belehrt z. B. jeder Schauſpieler,
der in einer unbedeutenden Rolle die Bedeutung des erſten Helden affect-
tirt und durch ſein Vordringen das Ensemble ſtört. In der Gruppe des
Laokoon iſt der ältere, noch unverwundete Knabe bedeutender, als der
jüngere, der vom Biſſe eben getödtet zurückſinkt, u. ſ. w. Dem Unter-
geordneten iſt Weiteres untergeordnet und das Verhältniß wiederholt ſich
bis in die äußerſten Spitzen des Kunſtwerks.

2. Die zweite Seite iſt zunächſt das umgebende Element, Boden,
Wohnſitz, die allgemeinen Bedingungen und Mittel des Daſeins
für das Subject der Darſtellung enthaltend; alſo wo das thieriſche Leben
Subject der Darſtellung iſt, da wirkt die Natur als das tragende,
ernährende, dem Spiel und Genuß dienende Element mit; wo das
menſchliche Leben die Darſtellung beſtimmt, da bewegt ſie ſich nicht blos
in der Natur, ſondern auch in der künſtlichen Wohnung, in der Umgebung
von Geräthen, Schmuck, Werkzeugen, Thieren zu Dienſt und Spiel.
Es war aber noch eine andere Bedeutung dieſer zweiten Seite hervorzuheben,
die Umkehrung des Verhältnißes nämlich, ſo daß die Rolle des äſthetiſch
nur Mitwirkenden dem Theile zufällt, der eben von jenen Lebensbedingungen
abhängig iſt. So iſt im Landſchaftsgemälde das allgemeine Naturleben
Subject der Schönheit; Bauwerke, Thiere, Menſchen, die da auftreten
und denen jenes als Boden, Nahrungsquelle, Stoff der Thätigkeit dient,
ſind nur anhängende, mitwirkende Theile des Ganzen. Dieſe zwei
Verhältniße ſind an ſich ſehr verſchieden, im vorliegenden Zuſammenhang
aber fallen ſie beide unter Einen und denſelben Begriff: den des
Beiwerks. Der §. erläutert dieſen Ausdruck durch: accidentiell
(dem entſprechend hier das Subject des äſthetiſchen Ganzen Subſtanz zu
nennen wäre): eine Bezeichnung, durch welche der veraltete Standpunct,
der in dem Begriff des Beiwerks liegt, wohl am zweckmäßigſten vermieden
wird. Dieſes Accidentielle kann ſich allerdings nicht in allen Künſten
gleichmäßig ausbilden; nur in der Malerei, der epiſchen und dramatiſchen
Dichtkunſt tritt es in ſeiner Bedeutung klar hervor, in andern Künſten und
Kunſtformen findet ſich nur annähernd Entſprechendes: ſo iſt z. B. in
der Plaſtik des Attribut eigentlich mehr, als Beiwerk, und nur die
Baſis, die Andeutung des Locals durch einen Baumzweig, Fels und
dergl. entſpricht dieſem Begriffe. Wenn wir den Begriff des Beiwerks
einen veralteten nennen, ſo haben wir im Auge, wie man darunter eine
Zugabe zu dem Subjecte des äſthetiſchen Ganzen, die ſo oder anders
ſein oder auch ganz fehlen könnte unbeſchadet des Weſens dieſes Ganzen,
zu verſtehen pflegt. Es ſtammt dieſer atomiſtiſche Begriff aus den Zeiten
her, wo man die Bedeutung dieſer zweiten Seite des Kunſtwerks völlig

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[29/0041] Warnung vor einer ängſtlichen Auffaßung dieſer Nebenordnung unzeitig. Was Unterordnung ſei, iſt klar; darüber belehrt z. B. jeder Schauſpieler, der in einer unbedeutenden Rolle die Bedeutung des erſten Helden affect- tirt und durch ſein Vordringen das Ensemble ſtört. In der Gruppe des Laokoon iſt der ältere, noch unverwundete Knabe bedeutender, als der jüngere, der vom Biſſe eben getödtet zurückſinkt, u. ſ. w. Dem Unter- geordneten iſt Weiteres untergeordnet und das Verhältniß wiederholt ſich bis in die äußerſten Spitzen des Kunſtwerks. 2. Die zweite Seite iſt zunächſt das umgebende Element, Boden, Wohnſitz, die allgemeinen Bedingungen und Mittel des Daſeins für das Subject der Darſtellung enthaltend; alſo wo das thieriſche Leben Subject der Darſtellung iſt, da wirkt die Natur als das tragende, ernährende, dem Spiel und Genuß dienende Element mit; wo das menſchliche Leben die Darſtellung beſtimmt, da bewegt ſie ſich nicht blos in der Natur, ſondern auch in der künſtlichen Wohnung, in der Umgebung von Geräthen, Schmuck, Werkzeugen, Thieren zu Dienſt und Spiel. Es war aber noch eine andere Bedeutung dieſer zweiten Seite hervorzuheben, die Umkehrung des Verhältnißes nämlich, ſo daß die Rolle des äſthetiſch nur Mitwirkenden dem Theile zufällt, der eben von jenen Lebensbedingungen abhängig iſt. So iſt im Landſchaftsgemälde das allgemeine Naturleben Subject der Schönheit; Bauwerke, Thiere, Menſchen, die da auftreten und denen jenes als Boden, Nahrungsquelle, Stoff der Thätigkeit dient, ſind nur anhängende, mitwirkende Theile des Ganzen. Dieſe zwei Verhältniße ſind an ſich ſehr verſchieden, im vorliegenden Zuſammenhang aber fallen ſie beide unter Einen und denſelben Begriff: den des Beiwerks. Der §. erläutert dieſen Ausdruck durch: accidentiell (dem entſprechend hier das Subject des äſthetiſchen Ganzen Subſtanz zu nennen wäre): eine Bezeichnung, durch welche der veraltete Standpunct, der in dem Begriff des Beiwerks liegt, wohl am zweckmäßigſten vermieden wird. Dieſes Accidentielle kann ſich allerdings nicht in allen Künſten gleichmäßig ausbilden; nur in der Malerei, der epiſchen und dramatiſchen Dichtkunſt tritt es in ſeiner Bedeutung klar hervor, in andern Künſten und Kunſtformen findet ſich nur annähernd Entſprechendes: ſo iſt z. B. in der Plaſtik des Attribut eigentlich mehr, als Beiwerk, und nur die Baſis, die Andeutung des Locals durch einen Baumzweig, Fels und dergl. entſpricht dieſem Begriffe. Wenn wir den Begriff des Beiwerks einen veralteten nennen, ſo haben wir im Auge, wie man darunter eine Zugabe zu dem Subjecte des äſthetiſchen Ganzen, die ſo oder anders ſein oder auch ganz fehlen könnte unbeſchadet des Weſens dieſes Ganzen, zu verſtehen pflegt. Es ſtammt dieſer atomiſtiſche Begriff aus den Zeiten her, wo man die Bedeutung dieſer zweiten Seite des Kunſtwerks völlig

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/41>, abgerufen am 19.04.2024.