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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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sammen; wer aber ein Bewußtsein davon hat, wie sie einander eigentlich
ausschließen, unterscheidet sie zwar, muß sie aber doch in der Aufführung
der Zweige nebeneinanderstellen. So schließen in der Poesie Epos und
Roman einander aus, denn jenes ruht auf der mythischen, dieses auf der
aufgeklärten Weltanschauung, und doch müssen beide nebeneinander als
Zweige der epischen Form in der allgemeinen, logischen Darstellung hin-
gestellt werden. Man kann sich nicht damit helfen, daß man die mythischen
Zweige aus dieser wegläßt und der historischen Darstellung vorbehält,
weil wesentliche Kunstbegriffe, die sich einmal am Mythischen entwickelt haben,
aber den Charakter einer Kunst an sich ausdrücken, sonst ausfallen würden.
Wer wollte, um auf die Bemerkung über die Plastik zurückzukommen, das all-
gemeine Wesen dieser Kunst darstellen ohne Berücksichtigung des hohen, ruhig
thronenden Götterbilds! Wie aber das Mythische seinen Tod überlebt, so
haben Zweige, welche durch das mythische Ideal eigentlich ausgeschlossen sind,
schon zur Zeit der Blüthe desselben in voller Kraft bestanden, so der ganze
Kreis rein menschlicher Darstellungen neben dem Götter-Ideale der Plastik,
ein Widerspruch, der nicht geläugnet werden kann, wenn man z. B. bedenkt,
daß streng genommen die Liebe im Eros vollständig dargestellt und daher die
Darstellung derselben in ihrer rein menschlichen Erscheinung eigentlich eine
Tautologie ist; ja man kann vom griechischen Drama sagen, es sei ein kühner
und herrlicher Widerspruch mit der streng mythischen Anschauung, wie sie
Grundlage des Epos ist. Freilich ist jenes viel jünger, als dieses, aber
beide gehören doch Einem Ideale an. Ebendiese historische Erscheinung
aber beruhigt über den unvermeidlichen Widerspruch in der wissenschaftlichen
Darstellung; stellt die Geschichte zusammen, was streng genommen einan-
der aufhebt, so trifft die Wissenschaft keine logische Schuld, wenn sie
dasselbe thut; nur muß sie ein Bewußtsein davon haben und dieses hat
sich einfach dadurch auszusprechen, daß die historische Darstellung die wahren
und nothwendig successiven Verhältnisse dessen auseinandersetzt, was die
logische Aufreihung nebeneinanderstellt, als wäre es oder könnte sein ein
Gleichzeitiges.

b.
Die Einheit in der Theilung.
§. 542.

Schon die Entstehung der einzelnen Künste in der Gruppe der bildenden
Kunst und der Hauptgattungen der Dichtkunst, ferner der spezielleren Kunst-
Zweige aus Mischungen der verschiedenen Arten der Phantasie (§. 539.), ebenso
die historischen Uebertragungen des Geistes einer Kunst auf die andere (§. 541)

ſammen; wer aber ein Bewußtſein davon hat, wie ſie einander eigentlich
ausſchließen, unterſcheidet ſie zwar, muß ſie aber doch in der Aufführung
der Zweige nebeneinanderſtellen. So ſchließen in der Poeſie Epos und
Roman einander aus, denn jenes ruht auf der mythiſchen, dieſes auf der
aufgeklärten Weltanſchauung, und doch müſſen beide nebeneinander als
Zweige der epiſchen Form in der allgemeinen, logiſchen Darſtellung hin-
geſtellt werden. Man kann ſich nicht damit helfen, daß man die mythiſchen
Zweige aus dieſer wegläßt und der hiſtoriſchen Darſtellung vorbehält,
weil weſentliche Kunſtbegriffe, die ſich einmal am Mythiſchen entwickelt haben,
aber den Charakter einer Kunſt an ſich ausdrücken, ſonſt ausfallen würden.
Wer wollte, um auf die Bemerkung über die Plaſtik zurückzukommen, das all-
gemeine Weſen dieſer Kunſt darſtellen ohne Berückſichtigung des hohen, ruhig
thronenden Götterbilds! Wie aber das Mythiſche ſeinen Tod überlebt, ſo
haben Zweige, welche durch das mythiſche Ideal eigentlich ausgeſchloſſen ſind,
ſchon zur Zeit der Blüthe deſſelben in voller Kraft beſtanden, ſo der ganze
Kreis rein menſchlicher Darſtellungen neben dem Götter-Ideale der Plaſtik,
ein Widerſpruch, der nicht geläugnet werden kann, wenn man z. B. bedenkt,
daß ſtreng genommen die Liebe im Eros vollſtändig dargeſtellt und daher die
Darſtellung derſelben in ihrer rein menſchlichen Erſcheinung eigentlich eine
Tautologie iſt; ja man kann vom griechiſchen Drama ſagen, es ſei ein kühner
und herrlicher Widerſpruch mit der ſtreng mythiſchen Anſchauung, wie ſie
Grundlage des Epos iſt. Freilich iſt jenes viel jünger, als dieſes, aber
beide gehören doch Einem Ideale an. Ebendieſe hiſtoriſche Erſcheinung
aber beruhigt über den unvermeidlichen Widerſpruch in der wiſſenſchaftlichen
Darſtellung; ſtellt die Geſchichte zuſammen, was ſtreng genommen einan-
der aufhebt, ſo trifft die Wiſſenſchaft keine logiſche Schuld, wenn ſie
daſſelbe thut; nur muß ſie ein Bewußtſein davon haben und dieſes hat
ſich einfach dadurch auszuſprechen, daß die hiſtoriſche Darſtellung die wahren
und nothwendig ſucceſſiven Verhältniſſe deſſen auseinanderſetzt, was die
logiſche Aufreihung nebeneinanderſtellt, als wäre es oder könnte ſein ein
Gleichzeitiges.

b.
Die Einheit in der Theilung.
§. 542.

Schon die Entſtehung der einzelnen Künſte in der Gruppe der bildenden
Kunſt und der Hauptgattungen der Dichtkunſt, ferner der ſpezielleren Kunſt-
Zweige aus Miſchungen der verſchiedenen Arten der Phantaſie (§. 539.), ebenſo
die hiſtoriſchen Uebertragungen des Geiſtes einer Kunſt auf die andere (§. 541)

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[160/0172] ſammen; wer aber ein Bewußtſein davon hat, wie ſie einander eigentlich ausſchließen, unterſcheidet ſie zwar, muß ſie aber doch in der Aufführung der Zweige nebeneinanderſtellen. So ſchließen in der Poeſie Epos und Roman einander aus, denn jenes ruht auf der mythiſchen, dieſes auf der aufgeklärten Weltanſchauung, und doch müſſen beide nebeneinander als Zweige der epiſchen Form in der allgemeinen, logiſchen Darſtellung hin- geſtellt werden. Man kann ſich nicht damit helfen, daß man die mythiſchen Zweige aus dieſer wegläßt und der hiſtoriſchen Darſtellung vorbehält, weil weſentliche Kunſtbegriffe, die ſich einmal am Mythiſchen entwickelt haben, aber den Charakter einer Kunſt an ſich ausdrücken, ſonſt ausfallen würden. Wer wollte, um auf die Bemerkung über die Plaſtik zurückzukommen, das all- gemeine Weſen dieſer Kunſt darſtellen ohne Berückſichtigung des hohen, ruhig thronenden Götterbilds! Wie aber das Mythiſche ſeinen Tod überlebt, ſo haben Zweige, welche durch das mythiſche Ideal eigentlich ausgeſchloſſen ſind, ſchon zur Zeit der Blüthe deſſelben in voller Kraft beſtanden, ſo der ganze Kreis rein menſchlicher Darſtellungen neben dem Götter-Ideale der Plaſtik, ein Widerſpruch, der nicht geläugnet werden kann, wenn man z. B. bedenkt, daß ſtreng genommen die Liebe im Eros vollſtändig dargeſtellt und daher die Darſtellung derſelben in ihrer rein menſchlichen Erſcheinung eigentlich eine Tautologie iſt; ja man kann vom griechiſchen Drama ſagen, es ſei ein kühner und herrlicher Widerſpruch mit der ſtreng mythiſchen Anſchauung, wie ſie Grundlage des Epos iſt. Freilich iſt jenes viel jünger, als dieſes, aber beide gehören doch Einem Ideale an. Ebendieſe hiſtoriſche Erſcheinung aber beruhigt über den unvermeidlichen Widerſpruch in der wiſſenſchaftlichen Darſtellung; ſtellt die Geſchichte zuſammen, was ſtreng genommen einan- der aufhebt, ſo trifft die Wiſſenſchaft keine logiſche Schuld, wenn ſie daſſelbe thut; nur muß ſie ein Bewußtſein davon haben und dieſes hat ſich einfach dadurch auszuſprechen, daß die hiſtoriſche Darſtellung die wahren und nothwendig ſucceſſiven Verhältniſſe deſſen auseinanderſetzt, was die logiſche Aufreihung nebeneinanderſtellt, als wäre es oder könnte ſein ein Gleichzeitiges. b. Die Einheit in der Theilung. §. 542. Schon die Entſtehung der einzelnen Künſte in der Gruppe der bildenden Kunſt und der Hauptgattungen der Dichtkunſt, ferner der ſpezielleren Kunſt- Zweige aus Miſchungen der verſchiedenen Arten der Phantaſie (§. 539.), ebenſo die hiſtoriſchen Uebertragungen des Geiſtes einer Kunſt auf die andere (§. 541)

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/172>, abgerufen am 29.03.2024.