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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Winkelmann unterscheidet und als den Genius dieses Styls aufführt,
"läßt sich herunter von ihrer Hohheit und macht sich mit Mildigkeit, ohne
Erniedrigung, denen, die ein Auge auf sie werfen, theilhaftig, sie ist nicht
begierig, zu gefallen, sondern nur, nicht unerkannt zu bleiben; -- das
Mannigfaltige und die mehrere Verschiedenheit des Ausdrucks thut der
Harmonie und der Großheit in dem schönen Style keinen Eintrag: die
Seele äußert sich nur wie unter einer stillen Fläche des Wassers und tritt
niemals mit Ungestüm hervor, in Vorstellung des Leidens bleibt die
größte Pein verschlossen, wie im Laokoon, und die Freude schwebet wie
eine sanfte Luft, die kaum die Blätter rühret, auf dem Gesichte einer
Leukothea" u. s. w. Wenn Winkelmann diese erste, reine Stufe des dritten
Styls den schönen Styl nennt, so führt dieß auf eine Unterscheidung, die
wir in Th. I §. 73, 1. 231, 1. aufgestellt haben. Was wir die Grazie
des ganzen Schönen nannten, welches das Erhabene als ein noch ruhendes
in sich schließt, ist die erhabene, himmlische Grazie, die Winkelmann dem
Style des Phidias beilegt; was wir eine Abzweigung derselben nannten,
die Grazie des einfach Schönen, das neben und gegenüber dem aus
jener ruhigen Einheit entlassenen Erhabenen eine sanftere, lieblichere,
herablassendere Form annimmt, ist die zweite Grazie in der Unterscheidung
Winkelmanns, die Grazie eines Skopas und Praxiteles, die ja auch das
Tragische (Gruppe der Niobiden) mit seiner furchtbaren Grazie und
das Komische mit seiner "ungezogenen" Grazie (bacchischer Kreis) aus
jener ruhigen ersten Einheit herausgebildet haben: das Reizende, noch im
edeln Sinn, gegenüber dem Rührenden, das ebenfalls noch im edeln
tragischen Geist auftritt, und dem Komischen. Allein diese zweite Grazie
des einfach Schönen theilt sich noch einmal: ihre erste Gestalt, obwohl
nicht von der das Erhabene in sich schließenden Hoheit, wie der Titanen-
bezwinger Zeus, sondern weiblich sanfter, hat doch noch jene Großheit
und Mächtigkeit, wie sie sich in einer Venus von Melos darstellt, gegenüber
einer andern Form, die Winkelmann die kindliche Grazie nennt, gegenüber
den Eros- und anderen Knabengestalten, den (edleren) Faunen desselben
Styls und noch mehr gegenüber den späteren Bildungen der Liebesgöttin,
wie der Mediceischen und der Kallipugos. Der dritte Styl wiederholt
also relativ den Gegensatz der erhabenen und einfach schönen Grazie
innerhalb der letztern. Dieser Styl geht nun aber unaufhaltsam über in
die Formen der Ausartung, die der §. bezeichnet, und die, in Werken der
späteren griechischen Schulen wie einem Laokoon, Apoll von Belvedere
erst als zarter Anflug einer theatralischen Wirkung angedeutet, nach
der Verpflanzung in die römische Welt grell hervortreten. Ueber das ganze
Werk ist nun der Ausdruck des Wissens um den Zuschauer ergossen, es
lockt, es lächelt ihn an oder macht sich durch einen leidenschaftlichen Wurf

Winkelmann unterſcheidet und als den Genius dieſes Styls aufführt,
„läßt ſich herunter von ihrer Hohheit und macht ſich mit Mildigkeit, ohne
Erniedrigung, denen, die ein Auge auf ſie werfen, theilhaftig, ſie iſt nicht
begierig, zu gefallen, ſondern nur, nicht unerkannt zu bleiben; — das
Mannigfaltige und die mehrere Verſchiedenheit des Ausdrucks thut der
Harmonie und der Großheit in dem ſchönen Style keinen Eintrag: die
Seele äußert ſich nur wie unter einer ſtillen Fläche des Waſſers und tritt
niemals mit Ungeſtüm hervor, in Vorſtellung des Leidens bleibt die
größte Pein verſchloſſen, wie im Laokoon, und die Freude ſchwebet wie
eine ſanfte Luft, die kaum die Blätter rühret, auf dem Geſichte einer
Leukothea“ u. ſ. w. Wenn Winkelmann dieſe erſte, reine Stufe des dritten
Styls den ſchönen Styl nennt, ſo führt dieß auf eine Unterſcheidung, die
wir in Th. I §. 73, 1. 231, 1. aufgeſtellt haben. Was wir die Grazie
des ganzen Schönen nannten, welches das Erhabene als ein noch ruhendes
in ſich ſchließt, iſt die erhabene, himmliſche Grazie, die Winkelmann dem
Style des Phidias beilegt; was wir eine Abzweigung derſelben nannten,
die Grazie des einfach Schönen, das neben und gegenüber dem aus
jener ruhigen Einheit entlaſſenen Erhabenen eine ſanftere, lieblichere,
herablaſſendere Form annimmt, iſt die zweite Grazie in der Unterſcheidung
Winkelmanns, die Grazie eines Skopas und Praxiteles, die ja auch das
Tragiſche (Gruppe der Niobiden) mit ſeiner furchtbaren Grazie und
das Komiſche mit ſeiner „ungezogenen“ Grazie (bacchiſcher Kreis) aus
jener ruhigen erſten Einheit herausgebildet haben: das Reizende, noch im
edeln Sinn, gegenüber dem Rührenden, das ebenfalls noch im edeln
tragiſchen Geiſt auftritt, und dem Komiſchen. Allein dieſe zweite Grazie
des einfach Schönen theilt ſich noch einmal: ihre erſte Geſtalt, obwohl
nicht von der das Erhabene in ſich ſchließenden Hoheit, wie der Titanen-
bezwinger Zeus, ſondern weiblich ſanfter, hat doch noch jene Großheit
und Mächtigkeit, wie ſie ſich in einer Venus von Melos darſtellt, gegenüber
einer andern Form, die Winkelmann die kindliche Grazie nennt, gegenüber
den Eros- und anderen Knabengeſtalten, den (edleren) Faunen deſſelben
Styls und noch mehr gegenüber den ſpäteren Bildungen der Liebesgöttin,
wie der Mediceiſchen und der Καλλίπυγος. Der dritte Styl wiederholt
alſo relativ den Gegenſatz der erhabenen und einfach ſchönen Grazie
innerhalb der letztern. Dieſer Styl geht nun aber unaufhaltſam über in
die Formen der Ausartung, die der §. bezeichnet, und die, in Werken der
ſpäteren griechiſchen Schulen wie einem Laokoon, Apoll von Belvedere
erſt als zarter Anflug einer theatraliſchen Wirkung angedeutet, nach
der Verpflanzung in die römiſche Welt grell hervortreten. Ueber das ganze
Werk iſt nun der Ausdruck des Wiſſens um den Zuſchauer ergoſſen, es
lockt, es lächelt ihn an oder macht ſich durch einen leidenſchaftlichen Wurf

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[137/0149] Winkelmann unterſcheidet und als den Genius dieſes Styls aufführt, „läßt ſich herunter von ihrer Hohheit und macht ſich mit Mildigkeit, ohne Erniedrigung, denen, die ein Auge auf ſie werfen, theilhaftig, ſie iſt nicht begierig, zu gefallen, ſondern nur, nicht unerkannt zu bleiben; — das Mannigfaltige und die mehrere Verſchiedenheit des Ausdrucks thut der Harmonie und der Großheit in dem ſchönen Style keinen Eintrag: die Seele äußert ſich nur wie unter einer ſtillen Fläche des Waſſers und tritt niemals mit Ungeſtüm hervor, in Vorſtellung des Leidens bleibt die größte Pein verſchloſſen, wie im Laokoon, und die Freude ſchwebet wie eine ſanfte Luft, die kaum die Blätter rühret, auf dem Geſichte einer Leukothea“ u. ſ. w. Wenn Winkelmann dieſe erſte, reine Stufe des dritten Styls den ſchönen Styl nennt, ſo führt dieß auf eine Unterſcheidung, die wir in Th. I §. 73, 1. 231, 1. aufgeſtellt haben. Was wir die Grazie des ganzen Schönen nannten, welches das Erhabene als ein noch ruhendes in ſich ſchließt, iſt die erhabene, himmliſche Grazie, die Winkelmann dem Style des Phidias beilegt; was wir eine Abzweigung derſelben nannten, die Grazie des einfach Schönen, das neben und gegenüber dem aus jener ruhigen Einheit entlaſſenen Erhabenen eine ſanftere, lieblichere, herablaſſendere Form annimmt, iſt die zweite Grazie in der Unterſcheidung Winkelmanns, die Grazie eines Skopas und Praxiteles, die ja auch das Tragiſche (Gruppe der Niobiden) mit ſeiner furchtbaren Grazie und das Komiſche mit ſeiner „ungezogenen“ Grazie (bacchiſcher Kreis) aus jener ruhigen erſten Einheit herausgebildet haben: das Reizende, noch im edeln Sinn, gegenüber dem Rührenden, das ebenfalls noch im edeln tragiſchen Geiſt auftritt, und dem Komiſchen. Allein dieſe zweite Grazie des einfach Schönen theilt ſich noch einmal: ihre erſte Geſtalt, obwohl nicht von der das Erhabene in ſich ſchließenden Hoheit, wie der Titanen- bezwinger Zeus, ſondern weiblich ſanfter, hat doch noch jene Großheit und Mächtigkeit, wie ſie ſich in einer Venus von Melos darſtellt, gegenüber einer andern Form, die Winkelmann die kindliche Grazie nennt, gegenüber den Eros- und anderen Knabengeſtalten, den (edleren) Faunen deſſelben Styls und noch mehr gegenüber den ſpäteren Bildungen der Liebesgöttin, wie der Mediceiſchen und der Καλλίπυγος. Der dritte Styl wiederholt alſo relativ den Gegenſatz der erhabenen und einfach ſchönen Grazie innerhalb der letztern. Dieſer Styl geht nun aber unaufhaltſam über in die Formen der Ausartung, die der §. bezeichnet, und die, in Werken der ſpäteren griechiſchen Schulen wie einem Laokoon, Apoll von Belvedere erſt als zarter Anflug einer theatraliſchen Wirkung angedeutet, nach der Verpflanzung in die römiſche Welt grell hervortreten. Ueber das ganze Werk iſt nun der Ausdruck des Wiſſens um den Zuſchauer ergoſſen, es lockt, es lächelt ihn an oder macht ſich durch einen leidenſchaftlichen Wurf

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/149>, abgerufen am 19.04.2024.