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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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werken in der neueren Zeit und freilich hat auch das Publikum sich
gewöhnt, mehr nach dem Subjecte des Künstlers, als dem Objecte, seinem
Werke, zu fragen. Aber auch diese Art der Schwierigkeit des Verständ-
nisses fällt einfach in die Gattung des unzuläßigen Dunkels. Das ächte
Kunstwerk steht auf sich, der Künstler ist ganz abwesend, weil er in ihm ganz
aufgegangen und anwesend ist, der Faden zwischen ihm und seinem Product
ist abgeschnitten, es hat sein eigenes freies Leben, ist eine selbständige Welt. --
In dem Satze, daß das Kunstwerk als Naturwerk erscheint, ist aber als
weiteres Moment enthalten, daß es nicht den Ausdruck der Absichtlich-
keit
haben darf. Den innern Grund dieser Eigenschaft haben wir in
§. 406, 5. bereits in der einseitigen Fixirung des Moments der Besinnung
gefunden; es kommt zwar erst darauf an, auf was der Künstler, in
welchem dieses Moment überwiegt, sich besinnt: es kann ein sinnlicher
(vergl. §. 73, 2), ein moralischer, ein intellectueller Zweck sein, ein
Effectstück kann also mancherlei Charakter tragen, aber alle Effectstücke
haben den Ueberschuß der Besinnung miteinander gemein, und von diesem
ist nun die Rede, sofern er in die Behandlung übergeht, so daß man dem
Werk ansieht, daß der Künstler nicht unbefangen, wie dieß in und zu
§. 487 gefordert ist, sondern in bewußter und verfänglicher Weise den
Zuschauer im Auge gehabt, nicht die Sache mit und in ihrer Wirkung,
sondern die Wirkung statt der Sache im Auge gehabt hat. Das ächte
Kunstwerk ist naiv, es weiß nicht um den Zuschauer. -- Die andere Seite
unseres Hauptsatzes war: das Kunstwerk erscheint, indem es einem Natur-
werke gleicht, ebensosehr fortwährend als Kunstwerk. Dieß setzt nun
natürlich voraus, daß die ganze Umbildung des Naturschönen, die durch
den Act der Phantasie und die Composition vollzogen wird, in die techni-
sche Ausführung übergegangen sei. Das Material ist dadurch zum
reinen Scheine vollständig umgewandelt und eine Täuschung darüber,
daß man nicht Naturschönes, sondern durch die Kunst umgebildetes Natur-
schönes vor sich habe, kann daher gar nicht eintreten. Allein eine unvoll-
kommene oder verkehrte Vollziehung der geistigen Intention kann Fehler
und Verirrungen der Technik herbeiführen, deren Wirkungen höchst beleh-
rend sind über die Wirkung der wahren Kunst im Sinne des jetzt vor-
liegenden Grundgesetzes. Unreife und verbildete Kunst kann nämlich
meinen, das Naturschöne nach allen Momenten der Erscheinung darstellen
zu müssen, indem sie die ausschließliche Natur des Materials (vergl. §. 517)
verkennt, und so einen Wettstreit mit der Natur auf einem Boden ver-
suchen, worauf die Kunst es ihr nicht gleichthun kann, vielmehr in dem
Grade, in welchem sie jener nacheifert, nur ihre Blöße zeigt: auf dem
Boden der empirisch wirklichen, unmittelbaren Lebendigkeit (§. 379).
Ein Werk, das aus diesem Irrthum hervorgegangen ist, täuscht einen

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werken in der neueren Zeit und freilich hat auch das Publikum ſich
gewöhnt, mehr nach dem Subjecte des Künſtlers, als dem Objecte, ſeinem
Werke, zu fragen. Aber auch dieſe Art der Schwierigkeit des Verſtänd-
niſſes fällt einfach in die Gattung des unzuläßigen Dunkels. Das ächte
Kunſtwerk ſteht auf ſich, der Künſtler iſt ganz abweſend, weil er in ihm ganz
aufgegangen und anweſend iſt, der Faden zwiſchen ihm und ſeinem Product
iſt abgeſchnitten, es hat ſein eigenes freies Leben, iſt eine ſelbſtändige Welt. —
In dem Satze, daß das Kunſtwerk als Naturwerk erſcheint, iſt aber als
weiteres Moment enthalten, daß es nicht den Ausdruck der Abſichtlich-
keit
haben darf. Den innern Grund dieſer Eigenſchaft haben wir in
§. 406, 5. bereits in der einſeitigen Fixirung des Moments der Beſinnung
gefunden; es kommt zwar erſt darauf an, auf was der Künſtler, in
welchem dieſes Moment überwiegt, ſich beſinnt: es kann ein ſinnlicher
(vergl. §. 73, 2), ein moraliſcher, ein intellectueller Zweck ſein, ein
Effectſtück kann alſo mancherlei Charakter tragen, aber alle Effectſtücke
haben den Ueberſchuß der Beſinnung miteinander gemein, und von dieſem
iſt nun die Rede, ſofern er in die Behandlung übergeht, ſo daß man dem
Werk anſieht, daß der Künſtler nicht unbefangen, wie dieß in und zu
§. 487 gefordert iſt, ſondern in bewußter und verfänglicher Weiſe den
Zuſchauer im Auge gehabt, nicht die Sache mit und in ihrer Wirkung,
ſondern die Wirkung ſtatt der Sache im Auge gehabt hat. Das ächte
Kunſtwerk iſt naiv, es weiß nicht um den Zuſchauer. — Die andere Seite
unſeres Hauptſatzes war: das Kunſtwerk erſcheint, indem es einem Natur-
werke gleicht, ebenſoſehr fortwährend als Kunſtwerk. Dieß ſetzt nun
natürlich voraus, daß die ganze Umbildung des Naturſchönen, die durch
den Act der Phantaſie und die Compoſition vollzogen wird, in die techni-
ſche Ausführung übergegangen ſei. Das Material iſt dadurch zum
reinen Scheine vollſtändig umgewandelt und eine Täuſchung darüber,
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ſchönes vor ſich habe, kann daher gar nicht eintreten. Allein eine unvoll-
kommene oder verkehrte Vollziehung der geiſtigen Intention kann Fehler
und Verirrungen der Technik herbeiführen, deren Wirkungen höchſt beleh-
rend ſind über die Wirkung der wahren Kunſt im Sinne des jetzt vor-
liegenden Grundgeſetzes. Unreife und verbildete Kunſt kann nämlich
meinen, das Naturſchöne nach allen Momenten der Erſcheinung darſtellen
zu müſſen, indem ſie die ausſchließliche Natur des Materials (vergl. §. 517)
verkennt, und ſo einen Wettſtreit mit der Natur auf einem Boden ver-
ſuchen, worauf die Kunſt es ihr nicht gleichthun kann, vielmehr in dem
Grade, in welchem ſie jener nacheifert, nur ihre Blöße zeigt: auf dem
Boden der empiriſch wirklichen, unmittelbaren Lebendigkeit (§. 379).
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[115/0127] werken in der neueren Zeit und freilich hat auch das Publikum ſich gewöhnt, mehr nach dem Subjecte des Künſtlers, als dem Objecte, ſeinem Werke, zu fragen. Aber auch dieſe Art der Schwierigkeit des Verſtänd- niſſes fällt einfach in die Gattung des unzuläßigen Dunkels. Das ächte Kunſtwerk ſteht auf ſich, der Künſtler iſt ganz abweſend, weil er in ihm ganz aufgegangen und anweſend iſt, der Faden zwiſchen ihm und ſeinem Product iſt abgeſchnitten, es hat ſein eigenes freies Leben, iſt eine ſelbſtändige Welt. — In dem Satze, daß das Kunſtwerk als Naturwerk erſcheint, iſt aber als weiteres Moment enthalten, daß es nicht den Ausdruck der Abſichtlich- keit haben darf. Den innern Grund dieſer Eigenſchaft haben wir in §. 406, 5. bereits in der einſeitigen Fixirung des Moments der Beſinnung gefunden; es kommt zwar erſt darauf an, auf was der Künſtler, in welchem dieſes Moment überwiegt, ſich beſinnt: es kann ein ſinnlicher (vergl. §. 73, 2), ein moraliſcher, ein intellectueller Zweck ſein, ein Effectſtück kann alſo mancherlei Charakter tragen, aber alle Effectſtücke haben den Ueberſchuß der Beſinnung miteinander gemein, und von dieſem iſt nun die Rede, ſofern er in die Behandlung übergeht, ſo daß man dem Werk anſieht, daß der Künſtler nicht unbefangen, wie dieß in und zu §. 487 gefordert iſt, ſondern in bewußter und verfänglicher Weiſe den Zuſchauer im Auge gehabt, nicht die Sache mit und in ihrer Wirkung, ſondern die Wirkung ſtatt der Sache im Auge gehabt hat. Das ächte Kunſtwerk iſt naiv, es weiß nicht um den Zuſchauer. — Die andere Seite unſeres Hauptſatzes war: das Kunſtwerk erſcheint, indem es einem Natur- werke gleicht, ebenſoſehr fortwährend als Kunſtwerk. Dieß ſetzt nun natürlich voraus, daß die ganze Umbildung des Naturſchönen, die durch den Act der Phantaſie und die Compoſition vollzogen wird, in die techni- ſche Ausführung übergegangen ſei. Das Material iſt dadurch zum reinen Scheine vollſtändig umgewandelt und eine Täuſchung darüber, daß man nicht Naturſchönes, ſondern durch die Kunſt umgebildetes Natur- ſchönes vor ſich habe, kann daher gar nicht eintreten. Allein eine unvoll- kommene oder verkehrte Vollziehung der geiſtigen Intention kann Fehler und Verirrungen der Technik herbeiführen, deren Wirkungen höchſt beleh- rend ſind über die Wirkung der wahren Kunſt im Sinne des jetzt vor- liegenden Grundgeſetzes. Unreife und verbildete Kunſt kann nämlich meinen, das Naturſchöne nach allen Momenten der Erſcheinung darſtellen zu müſſen, indem ſie die ausſchließliche Natur des Materials (vergl. §. 517) verkennt, und ſo einen Wettſtreit mit der Natur auf einem Boden ver- ſuchen, worauf die Kunſt es ihr nicht gleichthun kann, vielmehr in dem Grade, in welchem ſie jener nacheifert, nur ihre Blöße zeigt: auf dem Boden der empiriſch wirklichen, unmittelbaren Lebendigkeit (§. 379). Ein Werk, das aus dieſem Irrthum hervorgegangen iſt, täuſcht einen 8*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/127>, abgerufen am 29.03.2024.